Titel
Tear Off the Masks!. Identity and Imposture in Twentieth-Century Russia


Autor(en)
Fitzpatrick, Sheila
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Stadelmann, Institut für Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Betrug, Schwindelei, Schauspielerei – Titel und Aufmachung des Buches suggerieren eine Annäherung an Identitäten der sowjetischen Bevölkerung aus der Perspektive genereller Verstellung. Eine solche Sichtweise auf die Lebenspraxis in der Sowjetunion ist grundsätzlich nicht neu: Geleitet von einer zwar wandelbaren, aber stets verbindlichen Ideologie forderte das Regime von seinen Untertanen ein adäquates Selbstverständnis und entsprechendes soziales Handeln ein; sich – auch gegen eigene Vorstellungen – darauf einzulassen war eine Frage des Überlebens. Als erfahrene Sozialhistorikerin weiß Fitzpatrick natürlich, dass sich die Geschichte der sowjetischen Gesellschaft nicht nur als permanente Schauspielerei beschreiben lässt – die Identitätsbildungsprozesse waren vielfältig und komplex, sie reichten von Maskierung und Selbstverleugnung bis hin zu verinnerlichender Identifizierung.

Der Charakter des Buches als Sammlung selbstständig erschienener Aufsätze relativiert dann auch die thesenbildende Stringenz des Titels: Nicht immer beruhen die beschriebenen Identitäten auf gezielter Täuschung. Was den Band aber zusammenhält, ist die Frage nach der Konstruktion (kollektiver) sowjetischer Identitäten als Folge des fundamentalen revolutionären Umbruchs von 1917. Dieser brachte nicht nur die Zerstörung gewohnter Identifizierungsstrukturen mit sich, sondern eben auch jene staats- und gesellschaftsbildende(n) Ideologie(n), die die Bevölkerung vor neue kognitive wie agitive Herausforderungen stellte. Mit welchen Strategien man diesen begegnete, wie man sich mental positionierte und infolge dessen aktiv handelte und Dinge passiv mit sich geschehen ließ, wie sich also die Bevölkerung in das neue System mit seinen Angeboten, Zwängen und Dysfunktionalitäten einordnete – das sind die übergreifenden Leitlinien von „Tear Off the Masks“.

Neu sind diese Fragen in Fitzpatricks wissenschaftlicher Beschäftigung keineswegs; so vereint die Publikation zwölf (teils überarbeitete bzw. gekürzte) Aufsätze aus den Jahren 1991 bis 2002 mit – inklusive Einleitung und Schluss – nur drei eigens für das Buch geschriebenen Beiträgen. Eingeweihten Spezialisten/innen dürften daher etliche der Ausführungen bekannt sein. Dennoch einige Hinweise zu den einzelnen Themen: Ein erster Teil widmet sich mit drei Kapiteln dem Zusammenhang von Identität und Klasse. „The Bolshevik Invention of Class“ beschreibt die „Erfindung“ der Kategorie „Klasse“ als soziopolitisches Strukturierungsmerkmal nach der Revolution, welches gemeinsam mit der Klassenzugehörigkeit auch deren binäre Opposition des Klassenfeindes als systemimmanentes Element etablierte. Die große Bedeutung und gleichzeitige Fragilität von Kategorien wie „Klasse“ oder „Proletarier“ führt „Class Identities in NEP Society“ im Vergleich mit anderen Klassenzuschreibungen weiter aus, während „Class and Soslovie“ (Stand) den Elementen von soslovnost’ (das vorrevolutionäre Ständeprinzip) in den 1920er- und 1930er-Jahren nachspürt. Dabei verstärkte die Postulierung des Endes des Klassenkampfes unter Stalin bei gleichzeitiger Beibehaltung des Klassendenkens die Tendenz zu einer neu kontextualisierten Tradierung des alten Ständesystems.

Zu welchen Konsequenzen diese soziopolitischen Rahmenbedingungen im „wirklichen Leben“ der Bevölkerung führen konnten, stellt der „Lives“ überschriebene folgende Teil anhand ausgewählter Fälle vor. "Lives under Fire" erzählt beispielhaft von den Schwierigkeiten bei der Präsentation einer „passenden“ Autobiografie für bestimmte angestrebte Funktionen im Sowjetstaat – ein Feld, in dem bevorzugt maskiert und demaskiert wurde. Dass biografische Gegebenheiten unterschiedlich interpretierbar sind, dass man Dinge kaschierte und zurecht bog (also wieder Masken aufsetzte), zeigt auch „The Two Faces of Anastasia“: Berichtet wird von der Problematik einer Aufsteigerin aus dem (vorrevolutionären) Dorf in einen Leningrader Stadtteilsowjet, deren „fehlerfreie“ proletarische Biografie 1936 durch das NKVD plötzlich ganz andere, äußerst unvorteilhafte Schattierungen erhielt. Die sich anschließende "Story of a Peasant Striver" über einen ungewöhnlichen Bauern aus dem Gebiet Woronesch liefert kurzweilige impressions de la vie soviétique rurale. Ein Panorama zu Bezugspunkten und Strukturierungsmerkmalen im autobiografischen Schrifttum von Frauen in der Zwischenkriegszeit gibt das Kapitel "Women’s Lives", auch hier steht die Frage nach der Selbst-Konstruktion der Schreibenden im Vordergrund.

Wie die selbst und fremd konstruierten Identitäten in gesellschaftliche Praxis umgesetzt wurden, wie man mit den sowjetischen soziopolitischen Rahmenbedingungen auf unterschiedliche Weisen umging, behandeln die folgenden drei Teile des Buches, die jeweils zwei Aufsätze enthalten: Appeals, Denunciations, Imposture. Einen gut strukturierten Überblick zu Briefen der Bürger/innen an die Autoritäten mit Typisierung der Absender/innen in (persönlich motivierte) Bittsteller/innen und (gesellschaftlich motivierte) Staatsbürger/innen bietet "Supplicants and Citizens". Zu den besten Beiträgen zählt "Patrons and Clients", übernommen aus Hildermeiers Stalinismus-Band. 1 Fitzpatricks Beobachtungen zu Patronageverhältnissen in der Stalin-Zeit weisen – neben interessanten Beispielen – auch Klarheit, Strukturierung und Bündelung auf – Kategorien, die man an anderer Stelle bisweilen vermisst. Gleiches gilt für "Signals from Below", wo auf der Grundlage zahlreicher Denunziationsbeispiele der Versuch einer Systematisierung der Denunziationsformen im Stalinismus gemacht sowie Überlegungen zu ihrer historischen Einordnung angestellt werden. "Wives’ Tales" (neu für das Buch geschrieben) verfällt dagegen wieder in jenen Fitzpatrickschen Stil, der der kreativen Angeregtheit den Vorzug vor fundierter Belegbarkeit gibt: Beliebige neue Archivfunde werden vorgestellt und referiert; rasch werden aus dem neuen, aber begrenzten Material Schlussfolgerungen gebildet, deren hypothetischen Charakter Fitzpatrick hier freilich selbst eingesteht. Ihr Eintauchen in die der Partei gemeldeten Beziehungskisten jedenfalls führt auch die Leser/innen des Buches ins Schlafzimmer – nämlich zur unkomplizierten Bettlektüre.

Völlig ins Anekdotenhafte driften die beiden, einem Aufsatz aus der Slavic Review entstammenden Kapitel ab, die sich dem Thema Betrügerei/Hochstaplei zuwenden („The World of Ostap Bender“ und „The Con Man as Jew“). Über fiktionale und reale Fälle von findiger Schwindlerei zu lesen, ist recht unterhaltsam und stimulierend, auch tragen derlei Geschichten zur weiteren Veranschaulichung der voller Überraschungen steckenden sowjetischen Gesellschaft bei. Aber was machen wir konzeptionell damit? Die schnellen Einordnungsversuche von Hochstaplern in die Identitätsbildungsprozesse nach der Revolution überzeugen nicht recht, schon bedenkenswerter ist, dass Betrug und Bauernfängerei durch Teile der sowjetischen Gesellschaft als typisch jüdisch wahrgenommen wurden. Fitzpatricks Beobachtungen hierzu sind originell und scharfsichtig – aber dennoch, wie so oft, ohne letzte analytische Konsequenz.

Haben sich alle bisherigen Kapitel mit den 1920er-Jahren und/oder dem Stalinismus befasst, so muss der – etwas gewollt hintangesetzte – Schluss zur Rechtfertigung des „20. Jahrhunderts“ im Buchtitel herhalten. Fitzpatrick fragt wiederum nach Phänomenen von Identitätskonstruktionen infolge eines Umbruchs, diesmal freilich bezogen auf 1991. „Becoming Post-Soviet“ liefert ein Panorama identitätssuchender Konstellation des neuen Russlands und fasst als solches eine wesentliche Charakteristik von Fitzpatricks Stil zusammen: Viele Beobachtungen, alle klug, alle originell, alle interessant, werden zusammengetragen, die strukturelle Konzeptualisierung wird jedoch der Faszination der Entdeckung untergeordnet.

Was bleibt in der Gesamtschau von „Tear Off the Masks“? Die wissenschaftlichen Leistungen von Fitzpatrick, die der Band ausschnitthaft zusammenfasst, stehen außer Zweifel. Zwar rekurriert sie auf viele bekannte sozialgeschichtliche Beobachtungen, doch sie enthebt diese ihrem sozioökonomischen Kontext und fragt nach ihren politischen und kulturellen Bedingtheiten. Ebenso sind die Eigentümlichkeiten Fitzpatricks hinlänglich bekannt. Sie verwertet eine beeindruckende Vielfalt an Quellen, sie kann eine beneidenswerte Anzahl von „Ausgrabungen“ vorweisen, ihre Texte sind gut, kurzweilig und spannend geschrieben, sie stecken voller Ideen und Anregungen. Tiefgehende Begründungen und zielgerichtete Bündelungen sind ihre Sache freilich nicht, auf so manches müssen sich die Leser/innen ihren Reim selbst machen.

Fitzpatrick hat nicht Unrecht, wenn sie sich als „botanist exploring the variety of plant life in an unfamiliar terrain“ (S. 156) beschreibt. Immerhin bietet der Band damit – außer der verdienstvollen Zusammenfassung verstreut erschienener Aufsätze – eine leicht lesbare, zum Teil unterhaltsame Einführung in multiple Facetten der sowjetischen Gesellschaft in Auseinandersetzung mit dem sie umgebenden System bzw. mit sich selbst. Vielleicht vermag die Anlage des Buches jedoch neben der fachlichen noch eine weitergehende Anregung zu vermitteln: Die in Deutschland so unter Druck geratenen Geisteswissenschaftler/innen können viel zum Thema der produktiven Selbstrepräsentation lernen. Zwar bedarf es sicher einer (selbst-) gewissen Arriviertheit, um so nonchalant aus jedem Quellenfund einen Aufsatz (und dann noch aus den Aufsätzen ein Buch) zu machen, es bedarf jedoch auch einer großen Kennerschaft des Untersuchungsgegenstandes. Dass Sheila Fitzpatrick über beides verfügt, demonstriert „Tear Off the Masks“ eindrucksvoll.

Anmerkungen:
1 Hildermeier, Manfred (Hg.), Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung (= Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 43), München 1998 .

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