Kölnischer Kunstverein (Hg.): Projekt Migration

Titel
Projekt Migration.


Herausgeber
Kölnischer Kunstverein
Erschienen
Anzahl Seiten
888 S., 60 farb., 200 Duotone-Abb.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Baur, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Um es vorwegzunehmen: Dieses Buch ist ein Ereignis – und ein kleiner Alptraum für den Rezensenten. Wo anfangen? Was gilt es überhaupt zu besprechen? Einen Ausstellungskatalog? Einen Forschungsbericht? Eine Bestandsaufnahme der (deutschen) Nachkriegszuwanderung? Eine Anthologie zur Theorie der Migration? Ein Manifest?

Vielleicht hilft eine langsame Annäherung über das Äußere: Der Band ist etwas über A4 im Format, 6 cm dick, und ca. 3 kg schwer – also das, was man gefahrlos einen Wälzer nennen darf. Er entstand im Rahmen des von der Kulturstiftung des Bundes geförderten „Projekts Migration“ und erschien als Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung, die vom 30. September 2005 bis 15. Januar 2006 in Köln zu sehen war. Auf 888 Seiten versammelt er Beiträge von knapp 150 Wissenschaftlern/innen, Künstlern/innen und Autoren/innen. Der Fokus ist weit, es finden sich Positionen zu Theorie, Geschichte und Kultur der Migration (im Wesentlichen von 1955 bis heute), Auseinandersetzungen mit den Phänomenen Grenze, Medien, Bildung und Rassismus, Skizzen einzelner Wanderungsbewegungen nach Deutschland (vor allem der BRD) sowie Überlegungen zu Migration im Kontext Europas und der Welt. Der selbstbewusst formulierte, eminent politische Anspruch des Projekts ist dabei ein doppelter: Das Ziel sei „ein neues Verständnis der Migration zu schaffen“ (S. 17); namentlich gelte es „den nationalen Blick umzukehren und Migration selbst als eine zentrale Kraft gesellschaftlicher Veränderung sichtbar zu machen“ (S. 16). Diese neue, neu zu entwickelnde oder neu zu etablierende „Perspektive der Migration“ erfordere – als Mittel und selbst als Zweck – eine „experimentelle Arbeitsweise“, einen „transdisziplinären und transnationalen Zugang“ (ebd.). Entscheidend sei dabei der „aktive Dialog“ (S. 17) zwischen sozial-, kultur- und geschichtswissenschaftlicher Forschung und zeitgenössischer Kunstproduktion, der den Arbeitsprozess geprägt habe und sich nun auch in der vorliegenden Publikation widerspiegele.

In diesem Sinn lohnt zunächst ein Blick auf die formale Konzeption des Bandes, den vielschichtig oder facettenreich zu nennen eine Untertreibung wäre. Es findet sich eine Fülle verschiedener Textsorten: kurze wissenschaftliche Artikel, wieder abgedruckte Texte von Arjun Appadurai, Stuart Hall und Étienne Balibar, Auszüge aus literarischen Werken (etwa von Feridun Zaimoglu oder Doron Rabinovici), Interviews und Gesprächsmitschriften, Songtexte und eindrückliche, längere Zitate von Migranten/innen aus der Forschung des Projekts; dazu die Dokumentation der künstlerischen Arbeiten und historischen Objekte aus der Ausstellung, zum großen Teil Fotografien, wobei gerade viele der dokumentarischen Aufnahmen beeindrucken. Eine offensichtliche Gliederung hat das Buch nicht, erst auf den zweiten Blick ergibt sich eine lose Zuordnung der Beiträge zu den Aspekten Mobilität, Grenze, Ökonomie, Bildung, Kultur und Visionen. Sofort ins Auge stechen dagegen zwölf eingestreute Sektionen auf rosa Papier, die die jeweilige Geschichte der Migration aus der Türkei, Italien, Griechenland, Spanien, dem ehemaligen Jugoslawien, Portugal, Marokko, Tunesien und Südkorea sowie aus Vietnam, Angola und Mosambik nach Deutschland behandeln und in ihrer Mehrheit einen dichten und fundierten, teils mit schönen Archiv-Funden durchsetzten Überblick geben. Ein weiteres auf- und sinnfälliges Merkmal der Publikation ist die Sprache. Die Artikel sind im Hauptteil des Buches in der Originalsprache belassen bzw. auf den „rosa“ Seiten in die Sprache des betreffenden Herkunftslandes übersetzt, die deutschen Fassungen finden sich im Anhang. Damit, so das Vorwort, „adressiert und reflektiert das Buch die transnational versierte, kosmopolitische Leserschaft der Migrationsgesellschaft“ (S. 18). Wenn dieser Befund mit Blick auf ein empirisches Publikum auch diskussionswürdig sein mag, so ist die Konsequenz dennoch ein erfreulich optimistisches Zeichen gegen Sprachpurismus und -monopolismus.

Die Gestaltung des komplexen Verhältnisses von künstlerischer und wissenschaftlicher Produktion, oder – anders geschnitten – von Bild und Text ist an vielen Stellen sehr geglückt, z.B. wenn ein Filmstill aus Lisl Pongers „Passagen“, der eine Frau mit Kamera in der Rückansicht vor körnig-blauem Himmel zeigt, das Leitmotiv „Perspektive“ und „Blick“ einführt (S. 14f.) oder wenn Filmstills aus Želimir Žilniks „Inventur – Metzstrasse 11“ ein Gespräch über „Migration und Stadt“ wie ein Daumenkino begleiten (S. 638-651). Schade ist dagegen, dass der gezielte Zugriff auf einzelne künstlerische Arbeiten unmöglich ist und diese damit tendenziell nachgeordnet wirken. Auch wäre es schön, über einzelne Arbeiten mehr erfahren zu können – das Beilegen des informativen Booklets zur Ausstellung könnte hier helfen.

Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass es ganz unmöglich ist, jeden einzelnen der Beiträge (auch nur der 53 eigentlichen Artikel) hier zu nennen, geschweige denn en detail zu besprechen. Nicht zuletzt deshalb werde ich mich im Hinblick auf die inhaltliche Ausrichtung des Bandes auf den expliziten Anspruch des Projektes konzentrieren, „ein neues Verständnis der Migration zu schaffen“, und seine Umsetzung in der Publikation schlaglichtartig diskutieren. Ausformuliert ist das Vorhaben des Perspektivwechsels im paradigmatischen ersten Artikel des Bandes „Lo sguardo dell’autonomia“ (S. 26-29; dt.: „Der Blick der Autonomie“, S. 794f.) des italienischen Politologen, Aktivisten und ehemaligen Mitglieds der Autonomia-Bewegung Sandro Mezzadra. Mezzadra wendet sich gleichermaßen gegen homogenisierende Konstruktionen („die Migration“, „der Migrant“ …) wie gegen eine „ästhetisierende Apologie“ in Begriffen wie „Hybridität“ oder „Nomadismus“. Sein zentraler Begriff der „Autonomie der Migrationen“ („l’autonomia delle migrazioni“) hingegen fasst Migrationen als „soziale Bewegungen“, in denen sich „Wünsche, Erwartungen und Vorstellungen finden, die in der Lage wären, eine radikale Neubestimmung der Konzepte von Gleichheit und Freiheit zu befördern“. Offensichtlich operaistisch inspiriert fordert er, die Geschichte der Migrationen „als eine Geschichte der Kämpfe neu zu lesen“, wodurch nicht nur die hegemoniale Vorstellung von „Integration“ obsolet würde, sondern sich auch die Perspektive auf die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft eröffne.

Diese mit Verve vorgetragenen Position von der aktiven, widerständigen und gestaltenden Rolle der Migrationen, die sich etwa gegen ökonomisch determinierte Modelle von push/pull richtet, findet ihren Widerhall in vielen der folgenden Artikel. So erörtert beispielsweise Manuela Bojadžijev auf dieser Grundlage die Frage von Bürgerrechten (S. 246f.) und Serhat Karakayalı und Vassilis Tsianos perspektivieren ihre diskurs- und regulationstheoretischen Überlegungen zu den „Figuren der Migration“ (S. 416-421) entsprechend. Helmut Dietrich beleuchtet aus diesem Blickwinkel gekonnt die „Ausländerpolitik in der Bundesrepublik Deutschland“ (S. 290-297), Jörg Becker und Thomas Niehr verfolgen die Verschiebungen der Medienperspektiven auf/für/von Migranten (S. 534-539) und Werner Schiffauer legt in „Migration und Religion“ (S. 562-571) den Schwerpunkt auf die Frage, „wie die Erfahrung der Migration der religiösen Suche eine bestimmte Ausrichtung verleiht“.

Obwohl die Kürze der Texte teils schmerzlich ist, weil sie eine Entwicklung der Argumente oft nur in Ansätzen zulässt, geben die Beiträge doch eine ausreichende Ahnung von der vorgeschlagenen Denkrichtung und Suchbewegung. Merkwürdig ist allerdings, dass Mezzadras Rede von „den Migrationen“ in manchen Artikeln (exemplarisch bereits im Vorwort), zum Singular der „Migration“ mutiert, was zu einiger Unklarheit führt. Soll hier eine neue Einheit, gar ein revolutionäres Subjekt postuliert werden (mit oder gegen Negri/Hardts „Multitude“)? Versteht sich „die Migration“ als Summe der zahllosen individuellen Migrationen? Als Aufhebung konkreter Migrationsbewegungen? Als ideeller Gesamtmigrant? Fragwürdig wird in dieser Hinsicht auch der – eigentlich sympathisch nach Arbeitstitel klingende – Titel des Ganzen: „Projekt Migration“ – impliziert das nicht gerade Planung, Steuerung, Gerichtetheit, Kontrolle? Hier wird noch einige Begriffsarbeit nötig sein.

Viele der Beiträge sind vor solchen Anfechtungen jedoch gefeit; in ihnen ist von „Autonomie der Migration(en)“ nicht die Rede und auch eine implizite „Perspektive der Migration(en)“ ist kaum erkennbar. Die einführenden Überblicksdarstellungen zu „Globale Migration – Migration in Europa“ von Franck Düvell (S. 62-67) und zu „Einwanderung in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg“ von Klaus J. Bade und Jochen Oltmer (S. 72-81) etwa sind solide und informativ, aber konventionelle Sozialgeschichte. Gleiches gilt für die Artikel von Christoph Rass zur „Internationalisierung des Faktors Arbeit in Europa vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Ölpreisschock 1973“ (S. 354-365) und von Frank-Olaf Radtke zum Thema „Migration – und das bundesdeutsche Schulsystem“ (S. 454-465). Das ist alles gut und mit Gewinn zu lesen; dem formulierten Anspruch des „Perspektivwechsels“ werden diese Beiträge allerdings kaum gerecht. Der Versuch, möglichst viele thematische Aspekte abzudecken und zu diesem Zweck auf ein breites Spektrum an (Gast-)Autoren/innen zurückzugreifen, geht an diesen Stellen zu Lasten der theoretischen Schärfe.

Trotz dieser Einschränkungen ist „Projekt Migration“ ein bemerkenswertes, wunderschönes Buch, das es im besten Sinne leicht macht, sich darin zu verlieren, sich zu vertiefen und mannigfaltige Verbindung herzustellen. Mit dem Ziel, „ein neues Verständnis der Migration zu schaffen“, nimmt es sich Großes vor, hält den Anspruch des Perspektivwechsels nicht an allen Stellen durch und erreicht doch sehr viel. Die explizit politische Positionierung gibt dem Band ein starkes Profil, der Reichtum an Themen und Thesen macht es zum auf- und anregenden Denkvergnügen und die Gestaltung des Verhältnisses von künstlerischer und wissenschaftlicher Produktion setzt Maßstäbe. Kommende Projekte werden sich an diesem Werk messen lassen müssen.

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