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Titel
Max Webers tragische Soziologie. Aspekte und Perspektiven


Autor(en)
Breuer, Stefan
Erschienen
Tübingen 2006: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
381 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Stefan Breuer ist in allen literarischen Genres der Wissenschaft ein sehr produktiver Autor. Jahr für Jahr legt er wie Stein auf Stein gewichtige Bücher vor. Einige neuere Monografien widmen sich dem deutschen Rechtsintellektualismus des 20. Jahrhunderts. Breuer destruierte das Konstrukt der „Konservativen Revolution“, indem er Schnittmengen und Selbstwidersprüchlichkeiten im Ideenwust des Diskurses herausarbeitete.1 Er studierte die Psychodynamik rechtsintellektueller Vergemeinschaftungsformen am Beispiel des George-Kreises2 und dessen Vorgeschichte und situierte die „neue“ deutsche Rechte im europäischen Vergleich.3 In dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem Rechtsintellektualismus zeigt sich noch Breuers Herkunft aus der Studentenbewegung. Breuer ist ein „typischer“ 1968er. An wenigen Autoren lässt sich der intellektuelle Weg der 1968er derart signifikant diskutieren. Breuer ging von Herbert Marcuse aus.4 Befriedigte ihn auch dessen Werk theoretisch nicht, so steht doch ein wissenschaftlich abgeklärter Freudomarxismus am Anfang des Wegs. Die Habilitationsschrift widmete sich dann der „Sozialgeschichte des Naturrechts“. Breuers Fundamentalismuskritik ist auch ein Stück Selbstkritik der bundesdeutschen Linken. Das Interesse am „ästhetischen Fundamentalismus“ der „neuen Rechten“ antwortet auf Erfahrungen der Studentenbewegung.

Der Freudomarxismus war nach 1968 gewissermaßen das dogmatische Gegenstück zur Marx-Engels-Scholastik im Osten. Die Aufnahme der Psychoanalyse in die Marxismusdiskussionen erklärte die Revolutions- oder Parusieverzögerung. Marcuses „Triebstruktur und Gesellschaft“ gab das Stichwort. Wem das nicht revolutionär genügte, der griff auf Wilhelm Reich zurück. Der Freudomarxismus formulierte einen utopischen Humanismus, dessen gesellschaftliche Möglichkeit die Soziologie bedachte. Seit Lukács und Adorno versprach Webers Herrschaftssoziologie eine genauere Beschreibung der „totalen Vergesellschaftung“ (Stefan Breuer).5 Zum Freudomarxismus trat deshalb der Webermarxismus hinzu. Formulierte der Freudomarxismus die humanistischen Ziele und Möglichkeiten, brachte der Webermarxismus die gesellschaftliche Wirklichkeit auf den analytischen Punkt. Eine nüchterne Beschreibung des modernen Staates 6 ist ein Zielpunkt von Breuers Denken. Ganz möchte Breuer sich aber nicht auf eine Beobachterperspektive festlegen, sondern kritische Perspektiven festhalten. Schon deshalb kann er vom „modernen“, „ästhetischen Fundamentalismus“ nicht ganz lassen. Aus solchen Motiven heraus wurde er zu einem der wichtigsten neueren Weber-Forscher.

In zahlreichen Studien thematisierte er sein analytisches Mittel Weber direkt. 1991 legte er eine umfassende evolutionsgeschichtliche Rekonstruktion von Webers Herrschaftssoziologie 7 vor. 1994 profilierte er die bürokratiekritische Fragestellung der „politischen Soziologie“ in ihrer revolutionären Konzeption des „Charismas“.8 Jetzt spricht er in seiner umfassenden Sammlung neuerer Weber-Studien von einer „tragischen Soziologie“. Einleitend situiert Breuer seine Perspektive in der neueren Weber-Forschung. Dort habe vor allem Wilhelm Hennis (S. 3ff.) das „tragische Leitmotiv“ entdeckt, allerdings mit einem lebensphilosophischen und nietzscheanischen „Affekt“ gegen Systematik und Soziologie, dem Breuer nicht folgen will. Als Ziel seiner Studien versteht er demnach eine soziologische und systematische Rekonstruktion von Webers „tragischer“ Sichtweise. Verglichen mit den früheren Monografien ist diese Rekonstruktion philologisch einlässiger und immanenter. Stets geht es Breuer aber um eine sachliche und aktualisierende Prüfung „im Licht neuerer Forschungen“. Seine Sammlung zeigt eine klare Ordnung. Sie gliedert die fünfzehn Studien in vier Unterpunkte.

Breuer beginnt mit zwei Studien zur Religionssoziologie. Die erste beschreibt den Zug von der Magie über die Religion zur modernen „Entzauberung“. Die zweite behandelt die „Geburt der Moderne aus dem Geist der Weltablehnung“, die nach Weber paradox aus der theologischen Entzauberung folgt. Breuer folgt Webers Religionssoziologie also um der Sicht der „Moderne“ willen. „Tragisch“ ist diese Moderne schon um des Preise der religiösen Entzauberung willen: der Hypothek der Askese, gegen die auch der Freudomarxismus nach 1968 anrannte.

In zwei Teilen rekonstruiert Breuer dann Webers Sicht der Moderne. Vier Studien zur Herrschaftssoziologie führen von der „legitimen Herrschaft“ über den „Patrimonialismus“ und die „Soziologie des Vereins- und Parteiwesens“ zu den „Typen und Tendenzen der Demokratie“, wobei Breuer in einem Anhang „Plebiszitäre Demokratie oder ‚Populismus’“ noch Webers Konzept plebiszitärer Demokratie gegen den „Populismus“ verteidigt. Breuer liest Weber als einen beobachtenden Analytiker, dessen Kategorien heute noch aktuell und aufschlussreich sind. Er findet beim späten Weber auch einen positiven „Sinneswandel in bezug auf die plebiszitäre Demokratie“ (S. 130) und deren Anerkennung als „Größe eigener Art“ (S. 132). Fünf Studien zur Stadtsoziologie profilieren dann den „städtischen Raum“ als okzidentale Möglichkeitsbedingung legitimer Herrschaft. Dabei geht Breuer, im Gegenstück zum zweiten Teil, von der „nichtlegitimen Herrschaft“ aus und gelangt über die archaische, die antike und die mittelalterliche Stadt zur grundsätzlichen Spannung „Herrschaftsstruktur und städtischer Raum“.

Breuer gliedert seine Studien also so, dass er nach einer religionssoziologischen Konturierung der Moderne zunächst den Möglichkeitsraum legitimer Herrschaft in Richtung auf die moderne Demokratie profiliert und dann die anspruchsvollen okzidentalen und urbanen Möglichkeitsbedingungen legitimer Herrschaft rekonstruiert. Die Bindung demokratischer Herrschaft an die okzidentale städtische Kultur erscheint dabei als ein Kern von Webers Denken. Die anspruchsvollen Voraussetzungen legitimer Herrschaft werden deutlich.

Der vierte und letzte Teil sieht „Weber im Kontext“. Breuer skizziert hier zunächst den Weg „von Tönnies zu Weber“ unter der „Frage einer ‚deutschen Linie’ der Soziologie“. Er diskutiert dann die „Fachmenschenfreundschaft“ Webers zu Georg Jellinek und stellt Weber in den Kontext neuerer Diskussionen um „Sozialdisziplinierung“, von denen Breuer einst ausging. Die letzte Studie „Gesellschaft der Individuen, Gesellschaft der Organisationen“ vergleicht Norbert Elias und Max Weber. Im letzten Teil leuchtet Breuer also nicht den ganzen zeitgenössischen Kontext Webers aus – so fehlt etwa ein Vergleich mit Troeltsch –, sondern er thematisiert andeutend auch den Fokus und Kontext der eigenen Beschäftigung mit Weber.

Breuer sieht eine Linie von Tönnies zu Weber. Gegen Tönnies habe Weber aber erkannt, „dass die Vergemeinschaftung die Vergesellschaftung nicht ersetzen kann“ (S. 292), und an der Kategorie der „bürgerlichen Gesellschaft“ festgehalten. Sein Werk sei auch Georg Jellinek eindeutig vorzuziehen: „Hinter Jellineks Staatsformenlehre steht der Geist Bismarcks, hinter derjenigen Webers der Geist der westlichen Demokratie“. (S. 316) Die frühere positive Erwartungen an eine Weiterentwicklung von Webers Konzept der Sozialdisziplinierung mit Gerhard Oestreich (S. 332ff.) und Foucault (S. 335ff.) aber schwächt Breuer heute in einem Postskriptum ab (S. 344ff.). Insbesondere Oestreich habe er überschätzt: „Die These von der Akzentverlagerung von normativen auf kognitive Mechanismen müsste auf dieser Folie nicht aufgegeben werden. Wohl aber die Absicht, sie im Rahmen einer Theorie der Sozialdisziplinierung zu begründen. Eine solche Rücknahme würde nicht dem Buchstaben, wohl aber dem Geist der Soziologie Max Webers Rechnung tragen.“ (S. 347) Auch gegenüber dem „Konkurrenzunternehmen“ (S. 361) von Norbert Elias hält sich Breuer heute mehr an Weber. Insbesondere habe der zutreffend erkannt, dass die „quantitative“ Individualisierung in der Moderne nicht automatisch „qualitative“ Individualisierung bringt (S. 366ff.). Dafür beruft sich Breuer abschließend auch auf Adorno (S. 369f.) und deutet damit am Ende seine alten Quellen an.

Breuer streicht seine „tragische“ Perspektive am Ende nicht noch einmal grell heraus. Eine pauschale Gesamtwürdigung des Ertrags seiner Studien wäre vielleicht auch gegen seinen Sinn. Breuer arbeitet nicht zuletzt am Detail. Er sucht das analytische Anregungspotential von Webers einzelnen Analysen. Tragisch sind die komplexen Voraussetzungen und asketischen Kosten der modernen Freiheit. Schade ist es, dass Breuer die große Weber-Biografie Radkaus 9 nicht mehr berücksichtigen konnte, die die „tragische“ Perspektive auf Webers Leben wirft und eindringlich wie einst Karl Jaspers zeigt, wie Weber durch seine Wissenschaft doch seinen individuellen „Dämon“, seinen Weg zum Glück fand. Auch Breuer legt heute ein großes Weber-Buch vor. Die Ansätze seiner früheren Monografien hat er nun noch eingehender am Text durchgearbeitet.

Anmerkungen:
1 Dazu meine Rezension: Kritische Theorie und Konservative Revolution. Zu Stefan Breuers Auseinandersetzung mit der Konservativen Revolution, in: Politische Vierteljahresschrift 34, 1993, S. 476-482; vgl. auch meine Rezension von Breuers „Ordnungen der Ungleichheit“ in Zeitschrift für Politik 50, 2003, S. 237-238.
2 Breuer, Stefan, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995; Ders., Moderner Fundamentalismus, München 2003.
3 Ders., Nationalismus und Faschismus. Frankreich, Italien und Deutschland im Vergleich, Darmstadt 2005.
4 Ders., Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und Arbeitsmetaphysik bei Herbert Marcuse, Frankfurt 1977.
5 Ders., Aspekte totaler Vergesellschaftung, Freiburg 1983; vgl. auch: Ders., Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, Hamburg 1992.
6 Ders., Der Staat. Entstehung, Typen, Organisationsstadien, Reinbek 2002.
7 Ders., Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt 1991 (Rez. NPL 1993, S. 94-95).
8 Ders., Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994 (Rez. Jahrbuch Politisches Denken 1994, S. 213-215).
9 Radkau, Joachim, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005.

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