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Titel
Ethnisierung der Politik. Theorie und Geschichte des Volksgruppenrechts in Europa


Autor(en)
Salzborn, Samuel
Reihe
Campus Forschung 880
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Campus Verlag
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Prehn, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn betritt mit seiner Studie über Theorie und Geschichte des Volksgruppenrechts in Europa in mancherlei Hinsicht wissenschaftliches Neuland. Und, das sei gleich vorweg gesagt: Wo er dies nicht tut, stellen seine Analysen eine überfällige Korrektur der zwischen scheinbarer „Betriebsblindheit“ und eindeutig geschichtspolitisch motivierter „Traditionsstiftung“ schwankenden Versuche der Selbst-Historiografie sowohl der „Erfinder“ des „Volksgruppen“-Theorems als auch derer dar, die jene Konzepte perpetuierten, den jeweiligen politischen Zeitumständen (bzw. den Wandlungen im Kontext der diesbezüglichen wissenschaftlichen Debatten) entsprechend anpassten und nicht zuletzt mit Blick auf eine möglichst weitgehende internationale institutionelle Verankerung – zumindest partiell – durchaus erfolgreich ventilierten.

Bereits in der Einleitung seiner Arbeit charakterisiert Salzborn die seit den 1920er-Jahren bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhundert an der Schnittstelle von Rechts- bzw. Bevölkerungswissenschaft und Politik angesiedelten Bemühungen zur Etablierung eines so genannten Volksgruppenrechts, die vor allem von deutschen und österreichischen Experten, Verbänden und Forschungsinstituten ausgingen, als extrem interessegeleitet. Vor dem Hintergrund der europäischen Einigungsgeschichte habe sich im Spannungsfeld von supranationaler Institutionalisierung und gleichzeitiger Regionalisierung „ein interdependentes System herausgebildet, in dem politische und juristische Interessenkonflikte und Entscheidungskämpfe entlang der normativen Trias Region – Nation – Europa“ (S. 13) geführt wurden (und auch heute noch werden). Jene Interessenkonflikte und Entscheidungskämpfe um die Etablierung antibürgerlicher und antiliberaler, auf „völkischer“ Grundlage beruhender gruppenrechtlicher Ansätze (im Sinne einer Gewährung politischer Sonderrechte) anstelle von menschen- bzw. individualrechtlichen Grundsätzen des Antidiskriminierungsschutzes (S. 14f.) lassen sich, folgt man Salzborns Analyse, von einem ideologiekritischen Standpunkt aus als eine Kette von Dichotomien beschreiben, obwohl „beide Modelle [...] sich scheinbar an demselben Ziel orientieren: dem Schutz von Menschen vor Diskriminierung; in einem Fall soll das Individuum, im anderen die Gruppe geschützt werden – nur dass der eine Schutz die Gleichheit der Menschen, der andere jedoch ihre Ungleichheit zur Prämisse hat und zugleich zum Ziel sich setzt.“ (S. 15)

Diese „Ordnungen der Ungleichheit“ (Stefan Breuer), deren Verwirklichung jene rechten, antiliberalen Verfechter einer „Segregation nach ethnisch-völkischen, sprachlichen, kulturellen und bisweilen auch ‚rassischen‘ Kriterien“ (S. 15) im großen europäischen Maßstab mit dem Instrument der Etablierung eines allgemein (d.h. zwischenstaatlich) verbindlichen „Volksgruppenrechts“ anstrebten, nimmt Salzborn in seiner Studie nicht nur in ihrer historischen Entwicklung in den Blick, wenn er die Kontinuitäten und Wandlungen jener Ordnungsentwürfe als politisches Projekt völkischer Ideologen, Politiker, Juristen und ihrer Netzwerke und Institutionen im 20. Jahrhundert detailliert darstellt und einordnet. Kenntnisreich und souverän analysiert er auch die theoretischen Implikationen „moderner“ volksgruppenrechtlicher Vorstellungen, die auf politisch-juridischer Ebene zugleich als Merkmal und Motor beschleunigter Ethnisierungsprozesse in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts fungierten. Wie Salzborn überzeugend darlegt, zielte eine solche rechte politische Agenda, in der sich ein antiegalitäres Menschenbild mit einem „völkischen“ Gemeinschaftsideal verband und als deren maßgebliche Aktionsrichtung spätestens seit den 1920er-Jahren die Kreation eines „Homo ethnicus“ (S. 94ff.) ausgemacht werden kann, im Kern auf eine ordnungspolitische Doppelstrategie ab, die auf dem Zusammenspiel von „ethnischer“ Homogenisierung und Segregation beruhte.

Und nicht etwa erst im „Dritten Reich“, sondern bereits in der Weimarer Republik offenbarte sich der genuin politische Charakter des Volksgruppen-Theorems. So untersucht Salzborn nicht nur das politisch-weltanschauliche Milieu, aus dem die deutschen (und österreichischen) Verfechter des Volksgruppenkonzepts zum überwiegenden Teil kamen; vielmehr lenkt er den Blick immer wieder auf den Praxisbezug im engeren wissenschaftlichen wie im größeren gesellschafts- und ordnungspolitischen Kontext. Dabei weist er zunächst auf terminologische Unterschiede hin, die mit Blick auf das verhandelte Themengebiet, vor allem im internationalen Vergleich, rasch ins Auge springen („Volksgruppe“ versus „ethnic group“ bzw. „groupe ethnique“). Bereits im Deutschen bezeichnet die Gegenüberstellung der Begriffe „ethnische“ bzw. „nationale Minderheit“ – „Volksgruppe“ (bzw. zunächst: „Volksstamm“ oder „Nationalität“) mehr als nur eine rein semantische Differenz; sie markiert auch eine historische Bedeutungsverschiebung (S. 38ff., 57f.). Denn während zunächst sowohl die Anhänger als auch die Gegner der nach Beendigung des Ersten Weltkriegs installierten (wenn auch von Beginn an umstrittenen), unter der Kontrolle des Völkerbunds stehenden internationalen Minderheitenschutzsystems den Begriff „nationale Minderheit“ verwendeten, favorisierten deutsche wie österreichische Gegner der in den Pariser Vorortverträgen festgeschriebenen europäischen Nachkriegsordnung im Laufe der 1920er-Jahre den Begriff der „Volksgruppe“, da sie den Begriff „Minderheit“ als politisch motivierte Diffamierung ablehnten und die Rechte der vom „Mutterstaat“ abgetrennten „Volksgruppen“ politisch aufgewertet sehen und international durchsetzen wollten.

Dieser grundlegenden historischen Gegenüberstellung entsprechend arbeitet Salzborn in seiner Analyse der theoretischen Elemente des „modernen“ Volksgruppenrechts die Traditionslinien der „völkischen Basis der Volksgruppentheorie“ heraus (S. 94ff.). Hierbei unterscheidet er drei Bestandteile oder „Klassifikationselemente“ des völkischen Diskurses um „ethnische Differenz“ (und Differenzierung) und deren Funktionsweisen: 1. das Klassifikationselement „Herkunft/Abstammung“, mit dem die „Legitimation des Separaten“ (S. 98ff.) betrieben wurde; 2. das der Sprache, welches auf die „Homogenisierung des Kollektiven“ abziele (S. 105ff.); sowie schließlich 3. das Klassifikationselement der Kultur, dessen Funktion unter der Überschrift „Kulturalisierung des Sozialen“ zu fassen sei. (S. 110ff.)

Juristen, Historiker und „Volkstumswissenschaftler“ wie Max Hildebert Boehm, Werner Hasselblatt, Karl Gottfried Hugelmann, Rudolf Laun, Johann Wilhelm Mannhardt, Hermann Raschhofer oder Theodor Veiter ebneten im Kontext „großdeutscher“, post-Versailler europäischer Revisions- und „Neuordnungs“-Politik den Weg dafür, ein bis dahin im Kontext des internationalen Rechts vollkommen unbekanntes Instrument über entsprechende Expertenkreise hinaus „salonfähig“ zu machen: ein „Volksgruppenrecht“ nämlich, das über bestehende Staatsgrenzen hinweg unter den politischen Schlagworten „Kulturautonomie“ bzw. „nationale Autonomie“ weitgehende Selbstbestimmungsrechte bestimmter „ethnischer Minderheiten“ im „fremdnationalen“ Mehrheitsstaat und zugleich einen „konnationalen“, also trotz territorialer Abtrennung „gleichnationalen“ Bezug zum „Mutterland“ (im Sinne ethnischer Zugehörigkeit) als zwischen- oder überstaatlichen Rechtszusammenhang postulierte. Damit sollte – ein völkerrechtliches Novum – ein „Volksstamm“ bzw. eine „Nationalität“ oder „Volksgruppe“ als „eigenständiges Gebilde“ (S. 57f.) und als Rechtssubjekt im internationalen Recht etabliert werden.

Doch zu dem Zeitpunkt, als die ersten Entwürfe eines künftigen „Volksgruppenrechts“ in der politischen Diskussion auftauchten, waren bereits, wie Salzborn zeigt, mit der in den 1920er-Jahre zumeist auf bilateraler Ebene erfolgten Installierung entsprechender Rechtsinstrumente umfang- und folgenreiche Schritte unternommen worden, das liberale Minderheitenschutzsystem der Völkerbundära, welches individuelle Rechtsinteressen (und deren Einklagbarkeit) als vorrangig gegenüber etwaigen kollektiven Ansprüchen betrachtete und vor allem dem Bedürfnis nach (Antidiskriminierungs-)Schutz Rechnung trug, in die Praxis umzusetzen (S. 62). Gleichwohl setzten die Grundsätze und Verfahren des demokratisch-liberalen Minderheitenschutzes „an der Schnittstelle von individuellen und kollektiven Rechten“ an. Dadurch und nicht zuletzt weil die entsprechenden Bestimmungen vor Ort, in den einzelnen Staaten, bisweilen kaum oder nur gegen größere Widerstände politisch-gesellschaftlich durchsetzbar waren, wurden allerdings in der praktischen Durchführung der Schutzmaßnahmen (wie auch bereits im Prozess der Ingangsetzung des Verfahrens der Anerkennung „ethnischer Minderheiten“) immer wieder Probleme aufgeworfen, die vornehmlich auf die Befürchtung der so genannten „Titularnationen“ zurückgingen, durch die Gewährung von Gruppenrechten an „nationale Minderheiten“ so etwas wie einen „Staat im Staate“ zu schaffen und so die nationalstaatliche Ordnung zu unterminieren. (S. 61ff.)

Ganz entgegen diesen Befürchtungen und allen positiven Intentionen der Verfechter eines demokratisch-liberalen Minderheitenschutzes zum Trotz verschafften sich im internationalen Rahmen zunehmend Stimmen Gehör, die Modifikationen des individualrechtlichen Minderheitenschutzsystems anstrebten bzw. Alternativen zu ihm zu entwickeln und zu etablieren versuchten. Und in eben diesem Punkt fällt Salzborns Interpretation, etwa wenn man sie mit Ergebnissen der neueren Forschung wie z.B. Sabine Bamberger-Stemmanns Arbeit über die Geschichte des Europäischen Nationalitätenkongresses 1 vergleicht, tendenziell zu stark vereinfacht, seine Darstellung ein wenig zu schwarz-weiß gemalt aus (so etwa in seiner zusammenfassenden Beurteilung der – allerdings disparaten – Forschungsergebnisse zum Thema, S. 69f.).

Salzborns Darstellung zufolge waren die Forderungen nach einem auf internationaler Ebene, d.h. völkerrechtlich verbindlich durchzusetzenden Recht auf „Kulturautonomie“ und „Konnationale“ eine genuin deutsch-österreichische „Erfindung“ – so weit, so gut. Doch findet sich bei Salzborn kein Hinweis darauf, dass auch Minderheitenvertreter und Nationalitätenrechts-Experten, die nicht aus Deutschland oder Österreich stammten, etwa der in der Tschechoslowakei lebende jüdische Minderheitenvertreter Emil Margulies, der an der tschechischen Karls-Universität in Prag lehrende Philosoph Emanuel Rádl sowie eine Reihe ungarischer Minderheitenvertreter, sich bereits im Laufe der 1920er-Jahre für das gruppenrechtliche Modell der „Kulturautonomie“ aussprachen. 2 In der Tat lassen sich die deutsch(-österreichisch)en Vorstellungen über die Verwirklichung der „Volksgemeinschaft“ bzw. von „Volksgruppenrechten“ für die pränationalsozialistische Ära in der Analyse sowohl in der verwendeten oder favorisierten Terminologie als auch in ihrer ordnungspolitischen Bedeutung nur schwer von den international geführten Debatten um „Kulturautonomie“ und „Konnationale“ trennen. Dies sollte sich jedoch, wie Salzborn dann wiederum treffend herausarbeitet, im Laufe der 1930er-Jahre ändern – vor allem dadurch, dass es dem NS-Regime spätestens seit 1938 gelang, seine „volkstums“- bzw. „rassenpolitischen“ Vorstellungen – in zunehmender Radikalität – auch über die „Altreichs“-Grenzen hinaus in die Wirklichkeit umzusetzen. Ohne größere Skrupel, ja mit perfidem „Einfallsreichtum“ gingen die deutsch(-österreichisch)en „Volksgruppenrechts“-Experten ihrer „Arbeit“ nach, etwa indem sie die Ausformulierung eines „Artfremdenrechts“ vorantrieben und sich an der Begründung und Ausgestaltung anderer „Dissimilationsmaßnahmen“ (S. 73ff.) beteiligten. „Die Volks(gruppen)politik“, so lautet Salzborns Urteil, „war letztlich ein zentraler Aspekt der Vorbereitung und Umsetzung der deutschen Eroberungs- und Vernichtungspolitik.“ (S. 86)

Obwohl das „Volksgruppenrecht“ nach der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches und dem Untergang des NS-Regimes als politisch-juristisches Ordnungsinstrument vorübergehend diskreditiert zu sein schien, diente der erneute Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht seinen Verfechtern zur Legitimation entsprechender, auf den europäischen Kontinent bezogener Raumordnungskonzepte: Vision und politisches Ziel der Phalanx der Volksgruppentheoretiker nach 1945 war ein „Europa der Völker“ bzw. ein „Europa der Volksgemeinschaften“ (Theodor Veiter), wobei die Kontinuität der positiven Bezüge auf natur- und heimatrechtliche Traditionen in diesen Konzepten und Formeln ins Auge springt (S. 120ff.). Dabei verdeutlicht Salzborn, auf den Hamburger Soziologen Ulrich Bielefeld Bezug nehmend3, den ambivalenten Charakter des Selbstbestimmungsrechts, indem er die Begriffe von Selbstbestimmung und Souveränität, die dem bürgerlichen Nationsverständnis (als Willens- und Bekenntnisgemeinschaft) zugrunde liegen, mit den völkischen Bezügen auf das Selbstbestimmungsrecht kontrastiert (S. 136ff.), die auf der „Setzung des Primats der Autochthonie, der Bodenständigkeit und Urwüchsigkeit von Volksgruppen“ basieren (S. 119). Die Legitimation völkischer gruppenrechtlicher Konzepte – und, damit einhergehend, der Forderung nach kollektiven Sonderrechten – durch Rekurse auf ein Selbstbestimmungsrecht der „Völker“ oder „Ethnien“ laufe auf eine immer gleiche Strategie hinaus, nämlich: „die (völkische) Identität gegen die (staatliche) Souveränität zu wenden“ (S. 140). Und eben dies hatten die verschiedenen Ordnungsmodelle gemein, die von den entsprechenden Experten in der Nachkriegszeit diskutiert wurden. Die Bandbreite reichte hierbei von verschiedenen, z.T. älteren Autonomie-Konzepten (S. 152ff.) bis hin zu neueren Entwürfen eines Ethnoregionalismus (S. 162ff.) bzw. eines ethnisch-partikularen Föderalismus (S. 170ff.). Auf diesem Gebiet erfuhr das deutsch-österreichische Expertenspektrum eine Erweiterung vor allem durch französische Stimmen, etwa durch Denis de Rougemont, Alexandre Marc sowie vor allem durch den 2003 verstorbenen Rechtsgelehrten Guy Héraud, der die Formel von einer europäischen „Föderation aus monoethnischen Regionen“ prägte. 4

Knappe 100 Seiten widmet Salzborn schließlich der Analyse der politischen Etablierungs- und rechtlichen Verankerungsprozesse des Volksgruppenrechts in Europa von 1945 bis in die heutige Zeit, in deren Zentrum zunächst die Betrachtung der wichtigsten Netzwerke dieses Experten- und Lobbyistenmilieus steht. Als wichtigste Organisationen in diesem Kontext sind zu nennen: die 1949 als Nachfolgeorganisation des Europäischen Nationalitätenkongresses gegründete Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) sowie das Internationale Institut für Nationalitätenrecht und Regionalismus (INTEREG). Darüber hinaus gingen in Deutschland auch von der vom Gesamtdeutschen Ministerium finanzierten Forschungsstelle für Nationalitäten- und Sprachenfragen maßgebliche Impulse auf das entsprechende, an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik der Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre angesiedelte Diskurssegment aus, dessen Agenda in starkem Maß von den Publikationen der im Wiener Braumüller Verlag erscheinenden Schriftenreihe ETHNOS sowie von der (im gleichen Verlag erscheinenden) Zeitschrift „Europa Ethnica“ beeinflusst wurde.

Zur zentralen Figur im politisch-juristischen Diskurs um die Schaffung eines europäischen Volksgruppenrechts entwickelte sich der Völkerrechtler Theodor Veiter. Unter seiner Federführung erschien 1970 der erste Teil des insgesamt dreibändigen Werkes „Das System eines internationalen Volksgruppenrechts“, in welchem der Ausschuss für Politik und Völkerrecht des Bundes der Vertriebenen, der eine eigene „Arbeitsgruppe Volksgruppenrecht“ unterhielt, seine Arbeitsergebnisse vorstellte (S. 221f.). Die Fertigstellung dieses Werkes war „auch der Ausdruck einer sich intensivierenden Zusammenarbeit zwischen FUEV und Vertriebenenverbänden einerseits und Volksgruppentheoretikern und völkischen Interessenverbänden andererseits“, urteilt Salzborn (S. 223).

Ein weiteres Instrument der Volksgruppentheoretiker und -politiker, ihre Anliegen in die politische Öffentlichkeit zu tragen und auf eine internationale Agenda zu bringen, stellten die verschiedenen Chartas dar, die zum Schutz von Sprache, Kultur und „völkischer Eigenart“ von „Volksgruppen“ ersonnen wurden. Auch wenn die Durchsetzung einer „Charta der Volksgruppenrechte“ im Europäischen Parlament bislang gescheitert ist, so haben sich die politischen Rahmenbedingungen für derartige Vorstöße, nicht zuletzt mit dem 1989/90 begonnenen politischen Transformationsprozess in Osteuropa, mittlerweile geändert (S. 257ff.). Zwei der insgesamt vier geplanten Teile des Schutzsystems, das der Europarat zugunsten nationaler Minderheiten zu installieren beschloss, sind bereits völkerrechtlich verbindlich eingeführt worden: die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen vom 5. November 1992 sowie das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1. Februar 1995. (S. 269ff.)

Einen beklemmenden Eindruck davon, wie ein (migrations- und migrantenfeindliches) Europa der ethnischen Separation und Parzellierung hätte aussehen können (bzw. künftig aussehen könnte), wären die Volksgruppen-Experten und ihre Lobby in der Lage (gewesen), ihre Ordnungsvorstellungen auf der politischen Ebene umfassend durchzusetzen, vermittelt insbesondere die 1985 von INTEREG und FUEV gemeinsam überarbeitete Fassung der erstmals 1956 formulierten „Hauptgrundsätze für ein europäisches Volksgruppenrecht“. Einer der zentralen „Hauptgrundsätze“ lautete: „Die Gruppen haben ein unabdingbares Recht darauf, daß ihr Heimatgebiet, das Gebiet, in dem sie von den Vorfahren her bodenständig sind, geschützt und ihnen erhalten bleibt. Ihr Heimatgebiet darf weder verfremdet [!] noch verwaltungstechnisch zersplittert werden oder durch Unterwanderung [!] seinen ethnischen oder sprachlichen Charakter verlieren.“ (S. 254)

So ist Salzborn in seinem Urteil zuzustimmen, wonach die im Innern auf Exklusion abgestellten Gesellschafts- und politischen Ordnungsvorstellungen der „Volksgruppen“-Theoretiker und Ethnopolitiker sowie insbesondere das Instrument des „Volksgruppenrechts“ als „gefährliches Einfallstor rechtsextremer Ideologie in den gesellschaftlichen Diskurs im Kontext von Globalisierung, europäischer Integration und der damit wachsenden Bedeutung der europäischen Entscheidungsebene“ (S. 36) anzusehen sind. Doch stellt die aktuelle politische Brisanz des Untersuchungsgegenstandes nur einen der Vorzüge von Salzborns Studie dar. Der Erkenntnisgewinn bei der Lektüre basiert vor allem darauf, dass es dem Autor gelungen ist, eine durchweg überzeugende historische Analyse mit ideologiekritischen und grundlegenden theoretisch-systematischen Überlegungen zur Genese eines ethnozentrischen Volksbegriffs sowie zur Entwicklung entsprechender volksgruppenrechtlicher Vorstellungen zu verbinden. Auf diese Weise vermag er zu zeigen, wie sich die Verfechter des „Volksgruppen“-Theorems nicht nur vehement gegen die Ideologie und Staatsform des Nationalstaates sowie gegen universalistische, egalitäre Gesellschaftsentwürfe wandten, sondern, von völkischen Prämissen ausgehend, auf internationalem Terrain erfolgreich operierende Netzwerke organisierten und sich darüber hinaus in der Lage erwiesen, ihre Konzepte den sich wandelnden politischen Rahmenbedingungen im 20. und frühen 21. Jahrhundert anzupassen.

Anmerkungen:
1 Bamberger-Stemmann, Sabine, Der Europäische Nationalitätenkongreß 1925 bis 1938. Nationale Minderheiten zwischen Lobbyistentum und Großmachtinteressen, Marburg 2000, vor allem S. 168ff. und S. 292ff.
2 Vgl. die zeitgenössischen Veröffentlichungen von: Balogh, Arthur von, Der internationale Schutz der Minderheiten, München 1928, S. 78-86, 168-189; Rádl, Emanuel, Der Kampf zwischen Tschechen und Deutschen, Reichenberg 1928, insbes. S. 117ff.; sowie die Stellungnahme von Dr. Emil Margulies, abgedr. in: Sitzungsbericht des Kongresses der organisierten nationalen Gruppen in den Staaten Europas 4 (1928), Wien 1928, S. 57-63, hier vor allem S. 58, 62.
3 Vgl. Bielefeld, Ulrich, Die ambivalente Struktur der Selbstbestimmung, in: Mittelweg 8,4 (1999), S. 28-43.
4 Vgl. Héraud, Guy, Die Prinzipien des Föderalismus und die Europäische Föderation, Wien 1979, S. 53.

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