M. Buber: Schriften zur Jugend, Erziehung und Bildung

Titel
Martin Buber: Schriften zur Jugend, Erziehung und Bildung.


Herausgeber
Jacobi, Juliane
Reihe
Martin Buber Werkausgabe, Bd. 8
Erschienen
Anzahl Seiten
460 S
Preis
€ 108.00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Ingrid Lohmann, Fachbereich Erziehungswissenschaft, Universität Hamburg

Als an der Wende zum 21. Jahrhundert unter den Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) eine Umfrage nach den „pädagogisch wichtigsten, wirkungsmächtigsten, anregendsten, interessantesten, gelehrtesten“ Büchern des 20. Jahrhunderts veranstaltet wurde, erlangten Martin Bubers „Reden über Erziehung“ (1953, 9. Aufl. 1969) den fünfzehnten Rang – gleichauf u.a. mit Bourdieu/ Passerons „Die Illusion der Chancengleichheit“ und zwei Schriften Sigmund Freuds. Die Umfrage war vielleicht nicht repräsentativ und das Ergebnis überdies geprägt von der Generationenzugehörigkeit der Antwortenden, ebenso wie eine Wiederholung in einigen Jahrzehnten ein deutlich anderes Resultat erbringen dürfte, wie Horn/ Ritzi feststellen. 1 Und dennoch, zu eben jenem für viele symbolisch bedeutsamen Zeitpunkt galt Martin Buber (1878-1965) mit seinen drei in dem genannten Büchlein versammelten Reden als „Klassiker“ – obwohl oder gerade weil er für die Pädagogik eher zu den fachfremden Grenzgängern zählt. 2 So weist die Herausgeberin denn auch gleich zu Beginn des vorliegenden Bandes die „Vereinnahmung Bubers in die zunftmäßige Pädagogik“ (S. 11) zurück. Er habe sich als Sozialphilosoph sowie Erzieher und Lehrer verstanden, aber nicht als Pädagoge.

Das von Juliane Jacobi mit großer Sorgfalt edierte und gerade auch für Erstleser/innen Buberscher Schriften sehr hilfreich eingeleitete Buch enthält, einschließlich jener drei, insgesamt 47 öffentliche Reden und Vorträge – nicht „»große« Werke“, sondern solche, die mit dem aus der religiösen Welt stammenden Begriff der "Ansprache" am angemessensten bezeichnet seien (S. 72). Die meisten von ihnen wurden anschließend vom Autor in Druck gegeben; andere waren bisher nur im Martin-Buber-Archiv der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem verfügbar oder an entlegensten Stellen publiziert, wieder andere wurden für den Band aus dem Hebräischen übersetzt, sind also im deutschen Sprachraum hier nun erstmals für breitere Leserkreise erschlossen.

Die in dem Band versammelten Reden und Vorträge des in Wien geborenen und in Lemberg (Lwow) aufgewachsenen Religionsphilosophen und sozialistischen Denkers stammen aus den Jahren 1917 bis 1966, vom auf dem Deutschen Zionistischen Delegiertentag im Dezember 1916 gehaltenen „Referat über jüdische Erziehung“, abgedruckt im darauffolgenden Januar in der Jüdischen Rundschau, bis zum Beitrag „Existentielle Situation und dialogische Existenz“, der posthum in den Blättern des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung erschien, dessen Ehrenpräsident Buber war. In vielen Beiträgen wird das „weit gespannte kommunikative Netzwerk der Reformpädagogik“ (S. 69) sichtbar, dem Buber angehörte und das von Ellen Key, Alfred Lichtwark und Siegfried Bernfeld bis zu Paul Geheeb, Adolf Reichwein und zur Odenwaldschule reichte. Zugleich sind Bubers Schriften stets religiös verwurzelt und sozialistisch-sozialreformerisch ausgerichtet. „Es sind der Gemeinschaftsgedanke und das dialogische Prinzip, beide verstanden als in der jüdischen Religion wurzelnd, die Bubers Beitrag zur Erziehungsphilosophie des 20. Jahrhunderts ausmachen“ (S. 31).

Da zwei umfassende Biographien (Kohn 1961, Friedman 1999) vorliegen, folgt Juliane Jacobis ausführliche und informative Einleitung nicht primär der Aufeinanderfolge der biographischen Abschnitte im Leben Bubers, das durch zwei Weltkriege, wuchernden Antisemitismus, durch den Alptraum der NS-Judenvernichtung sowie durch die zionistische Bewegung und den Aufbau des Staates Israel geprägt war. In erster Linie dient die Einleitung vielmehr dazu, die versammelten Beiträge zeitgeschichtlich zu kontextualisieren und die drei zentralen Themenfelder in Bubers pädagogischem Denken zu verdeutlichen: zionistische Jugendbewegung, Erwachsenenbildung sowie die auch seiner Sicht des erzieherischen Verhältnisses zugrunde liegende dialogische Philosophie.

Jugendbewegung und Reformpädagogik treten dabei in der spezifischen Verbindung mit Bubers schon um 1900 verfochtenem Zionismus der kulturellen Erneuerung hervor, der sich vom politischen Zionismus Theodor Herzls abgrenzte. Kontexte, in denen seine Reden und Vorträge zu Jugend, Erziehung und Bildung entstanden, waren die Fluchtbewegung jüdischer Jugendlicher und Erwachsener aus dem vom Ersten Weltkrieg erschütterten und von wachsendem Nationalismus geprägten Ost- und Mitteleuropa; die Vorbereitung der Auswanderungswilligen auf die Emigration und den Aufbau eines jüdischen Palästina; die Mitarbeit an der von Franz Rosenzweig zum Freien Jüdischen Lehrhaus in Frankfurt am Main umgestalteten jüdischen Volkshochschule; die Vergewisserung über jüdische Erziehung und jüdische Schule nach der Vertreibung der Juden aus deutschen Schulen und Hochschulen in den ersten Jahren des NS-Regimes; der gescheiterte Versuch der Neuorganisation eines jüdischen allgemein bildenden Schulwesens in Deutschland in den Jahren ab 1933.

Im März 1938 verließ Buber Deutschland und übernahm den Lehrstuhl für Sozialphilosophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem, den er bis 1951 innehatte. Hier galten seine Bemühungen dem Aufbau der Erwachsenenbildung und der Lehrerbildung in Palästina, ab 1948/49 im neugegründeten Staat Israel. Bis 1953 leitete Buber die von ihm gegründete Hochschule für Lehrer des Volkes, ein Seminar für Erwachsenenbildner. Wegweisend war für ihn dabei die Volkshochschulidee des dänischen Theologen und Pädagogen Grundtvig: Dieser habe es verstanden, seine kleine Nation aus einer Situation der Krise und Führungslosigkeit zu befreien und eine großenteils agrarische Bevölkerung aus eigenen Kräften zu einer lebendigen, modernen Gemeinschaft werden zu lassen – bis hin dazu, dass die Volkshochschulen in Dänemark „der Hort des Widerstands gegen den Nationalsozialismus“ waren, wie Buber hervorhebt (S. 348).

Für den Zionismus als Antwort auf das radikale Infragestellen des Existenzrechts jüdischer Menschen durch den Nationalsozialismus sah Buber nicht die nationale Befreiung selbst als das Entscheidende an, „sondern das Nachher“, dass „ein offener Gedanke“ möglich sei und die neue Nation eine „übernationale Aufgabe“ für sich entdecke. Und er verdeutlicht: Eine Nation hingegen, die „nichts mehr will, als zum Beispiel einen reinen Chinesen herstellen“, verfalle der unfruchtbarsten und schädlichsten Konvention, ihr Idealbild sei eine Karikatur, „die Züchtung des unverfälschten Chinesen führt in die Zoologie“ (S. 305 f.) – so 1939 im Rahmen einer Vortragsreise im Auftrag der Hebräischen Universität Polens.

Zugleich verbindet Buber seine Erziehungsphilosophie mit einem universalen Anspruch, der nicht allein (und vielleicht nicht einmal primär) an die europäischen Juden gerichtet ist und auch nicht nur der aufzubauenden zionistischen Gemeinschaft gilt. Er fordert und erhofft vielmehr allgemein den Primat des pädagogischen Prinzips „gegen das soziologische und gegen das politische“ (S. 265) Prinzip, denn jenes kenne nur die Veränderung der Verhältnisse, aber nicht des Menschen, und dieses nur die Funktionalisierung des Menschen für machtförmige Ziele. Nur durch Hegemonie des pädagogischen Prinzips, so Buber, könnte ein Handeln vorwalten, welches auf dem Glauben beruht, dass Mensch und menschliche Gemeinschaft gleichermaßen sich ändern können.

„Widerstrebet“, ruft Buber 1918 der jüdischen Jugend in Wien und in Berlin zu, „dieser Welt des Erfolgswahns, die sich heute anmaßt, die wirkliche Menschenwelt zu sein und doch nur ein machtgeschwollener Popanz ist. Schaut ihr auf den Grund!“ (S. 91) Denn ein wahrhaftes Gemeinwesen könne nur ein solches sein, „in dem die Gebote Moses für den Ausgleich des Besitzes, die Aufrufe der Propheten zur sozialen Gerechtigkeit in einer die Wirtschaftsverhältnisse unsrer Zeit einbeziehenden und meisternden Form zu Wirklichkeit werden“ (S. 89).

Dabei war Buber kein wirklichkeitsfremder Optimist. „Es sieht ja wirklich nicht so aus in der Welt, in der wir heute leben, als ob das pädagogische Prinzip die Hegemonie erringen könnte.“ Aber doch scheine es ihm, „daß in der Menschheit und im Judentum der eigentliche Sieg diesem immer wieder erfolglosen Menschen gehört“ (S. 277), der vielem, was geschieht, kritisch gegenübersteht und dabei manchmal resigniert, so Buber in einem Vortrag 1934 in Frankfurt.

Seine Schriften wurden ins Englische, Niederländische, Französische und Italienische übersetzt und in den USA, in Polen und in Israel rezipiert, wenn auch sicher nicht überall in gleichem Maße. Besonders in den 1950-er und 1960-er Jahren war Buber in Deutschland ein vielgelesener erziehungsphilosophischer Denker. Die »realistische Wendung« (Heinrich Roth) in der deutschen Pädagogik erbrachte einen gewissen Rückgang in der Rezeption, Bubers Denken wurde als „existenzialistische Variante der geisteswissenschaftlichen Pädagogik abgetan“, wie Juliane Jacobi konstatiert (S. 73). Aber die Neuaufnahme der Diskussion über pädagogische Ethik könne, so fährt sie fort, heute zu einer neuen Lektüre Buberscher Schriften führen. In der Tat, Überdruß am „Zeitgeist“ des 21. Jahrhunderts und die Suche nach wegweisenden Alternativen könnte eine Neuentdeckung kritischer Stimmen gegenüber dem „Zeitgeist“ auch des vorigen Jahrhunderts mit sich bringen.

Die vorliegende Sammlung bietet einen hervorragenden Einstieg in Bubers Denken und einen weitreichenden Überblick zu seinem pädagogischen Werk. Außer durch die Einleitung der Herausgeberin (S. 11-76) werden die Beiträge erschlossen durch kurze Kommentare zur jeweiligen Erstveröffentlichung, ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis, ein Sachregister, ein Register mit kurzen Erläuterungen zu den im Text vorkommenden Personen, ein Glossar hebräischer Wörter und zeitgeschichtlicher Termini sowie ein Verzeichnis der im Text vorkommenden Hinweise auf biblische und rabbinische Schriften. Hier liegt ein Buch vor, das zum Nachdenken und zum Neudenken anregt. Es wird auch im universitären Lehren und Lernen der Erziehungswissenschaft seine Leser/innen finden.

1 Klassiker und Außenseiter. Pädagogische Veröffentlichungen des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben von Klaus-Peter Horn und Christian Ritzi. Schneider Verlag: Hohengehren 2001, S. 18, vgl. ebd., S. 20.

2 Vgl. Klaus-Peter Horn: Abbild oder Zerrbild? Ergebnisse der Befragung zu den „pädagogisch wichtigsten Veröffentlichungen des 20. Jahrhunderts“. In: Klassiker und Außenseiter. A.a.O., S. 23-49, hier S. 35.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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