R. Pöppinghege: Im Lager unbesiegt

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Titel
Im Lager unbesiegt. Deutsche, englische und französische Kriegsgefangenen-Zeitungen im Ersten Weltkrieg


Autor(en)
Pöppinghege, Rainer
Erschienen
Anzahl Seiten
349 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Schröder, Stadtarchiv Greven

Das Phänomen der Kriegsgefangenschaft, für den Zweiten Weltkrieg schon seit Jahren im Fokus der Forschung, war in Bezug auf den Ersten Weltkrieg noch 2004, anlässlich der 90. Wiederkehr seines Beginns, erstaunlich randständig. Seitdem hat sich diese Forschungslücke deutlich geschlossen.1 Einen in mehrfacher Hinsicht weiter führenden Zugang gegenüber der oft auf einzelne Staaten beschränkten Sicht bietet die überarbeitete Paderborner Habilitationsschrift von Rainer Pöppinghege, der sich den Lagerzeitungen der Kriegsgefangenen und Zivilinternierten aus den drei Westfront-Staaten Frankreich, Großbritannien und dem Deutschen Reich widmet, deren Existenz er bis zur Repatriierung der letzten Gefangenen Anfang der 1920er-Jahre betrachtet. Neben einer international beziehungsweise interkulturell vergleichenden Sicht auf zivile Internierte und Kriegsgefangene dieser Staaten, auf die Lagerrealität und auf die heimatlichen Kriegsgesellschaften bietet Pöppinghege überzeugend psychohistorische und diskurstheoretische Ansätze auf, um seiner Hauptquellengattung und gleichzeitigem Untersuchungsobjekt, der Lagerzeitung, adäquate Ergebnisse zur kollektiven Identität der Kriegsgefangenen zu entlocken. Vorweg gesagt: Diese Studie, die die in der Regel als Objekte in den Quellen auftauchenden Gefangenen wieder als Subjekte wahrnimmt, ohne die politisch-militärischen und gesellschaftlichen Ebenen zu vernachlässigen, verdient besondere Beachtung.

Bevor die Lagerzeitungen in den Mittelpunkt der Analyse rücken, werden die Rahmenbedingungen, in denen sie entstehen konnten, in den Blick genommen. Insofern verschränkt die Untersuchung Militär- und Kommunikationsgeschichte. Die Einbettung der Kriegsgefangenschaft in das geltende Völkerrecht, die Ausprägungen von Internierung und Gefangenschaft in den verschiedenen Staaten, sowie die Behandlung der Gefangenen bilden dabei eine Seite, eine zweite bildet die Situation der Gefangenen selbst: Inwieweit waren sie Propaganda und Zensur ausgesetzt, in welcher psychischen Verfassung befanden sie sich, wie war ihre Selbstwahrnehmung – als Soldaten und als Männer – und welcher Fremdwahrnehmung durch Front und Heimatfront glaubten sie zu unterliegen?

Ergänzend zur Haager Landkriegsordnung wurden zwischen 1915 und 1918 bezüglich der Kriegsgefangenen bilaterale Abkommen geschlossen, mit den beiden Berner Abkommen vom Frühjahr 1918 zwischen Deutschland und Frankreich als Meilensteinen. Für die Internierung von Zivilisten fehlten solche bindenden internationalen Vereinbarungen. Bei der Behandlung der Kriegsgefangenen galt Reziprozität, gegenseitige Vergeltung, was ein fein austariertes System von Vergünstigung und Verschlechterung von Lebens- und Arbeitsbedingungen der Gefangenen nach sich zog, je nachdem, wie sich der Heimatstaat oder der Nehmerstaat verhielten. Kriegsgefangenschaft als Thema in den Medien war daher brisant und Presselenkung obligatorisch, um die jeweils eigene Behandlung der Gefangenen positiv herauszustellen und die der Gegenseite abzuwerten – allerdings auch nicht zu stark, um die eigene Bevölkerung nicht zu beunruhigen (S. 133). Da der öffentliche Diskurs – bei den Briten und Franzosen etwa unter der Frage: Behandeln die deutschen „Barbaren“ die Kriegsgefangenen „barbarisch“? – auf das zivilisatorische Niveau des Feindes rückschließen wollte, nahm er auch Einfluss auf die Lagerrealität – zum Beispiel durch besondere Anstrengungen, die Gefangenen im Deutschen Reich angemessen zu behandeln, um den Barbarei-Vorwurf zu entkräften (S. 78f.).

Als Subjekte kommen die Internierten und Kriegsgefangenen in den Blick, wenn Pöppinghege ihre psychische Situation bei der Gefangennahme („Schamgefühl“ durch Ehrverlust führte zu einem Tabu) und im Lager (etwa bei subjektiven Klagen über objektiv in der Regel angemessene Ernährung) sowie ihre mentale Verarbeitung des Krieges in kommunikativen Strukturen und kulturellen Aktivitäten erläutert. Immer wieder wird deutlich, wie sehr die Wahrnehmung der Gefangenen von der Ereignisgeschichte zu unterscheiden ist. Daneben ist das Streben nach Betätigung offenkundig, was allerdings eine gewisse Grundversorgung voraussetzte. Ausgehend von der Maslowschen Motivationstheorie konstatiert Pöppinghege einen deutlichen Zusammenhang zwischen angemessenen Lebensbedingungen und der Herausgabe von Lagerzeitungen (S. 119, 144). Das Publizieren wirkte dann als Selbsttherapie gegen lagertypische psychische Beeinträchtigungen wie die gefürchtete Neurasthenie (obwohl sie als „physiologische“ Krankheit galt, S. 153). Betriebsamkeit als Mittel gegen Monotonie und Abstumpfung umfasste auch Sport- und Kulturveranstaltungen verschiedenster Art, setzte aber den Willen der Insassen voraus, die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen. Diese Sinnsuche im Lager fiel den Gefangenen schwer. Die Lagerzeitungen riefen daher gezielt dazu auf, das Lager als Realität anzuerkennen (S. 160). Es dauerte bei vielen einige Zeit, bis die Gefangenschaft als Phase eines charakterlichen Reifungsprozesses positiv gedeutet wurde. Hier trat erschwerend hinzu, dass die vorgesehene Männerrolle mit ihrem Gewaltanteil nur an der Front, nicht jedoch in Gefangenschaft ausgelebt werden konnte. Als sogar „zweifach entmannt“ (S. 169) – ohne Waffe und ohne Gelegenheit zur Ausübung ihrer Sexualität – sahen sich die Gefangenen selbst. Auch hier musste das Lagerleben umgedeutet werden: Entsprechend interpretiert Pöppinghege beispielsweise Berichte, die das Erdulden des Leidens in den Mittelpunkt rücken, als Versuche, die Männlichkeitsideale der Frontsoldaten zu imitieren (S. 170f.). Das Lagerleben als Kampf, der darin bestand, sich vom Feind nicht unterkriegen, nicht zur Passivität verleiten zu lassen, ließ jedwede Aktivität, so auch die Herausgabe von Lagerzeitungen, positiv erscheinen: unmittelbar für die Gefangenen, aber mittelbar auch als Signal an die Heimat.

Denn Lagerzeitungen dienten auch, so Pöppingheges These, einer funktionellen Kommunikation. Zwar wollten sie überwiegend informieren und unterhalten – und das taten sie mit fortschreitender Kriegsdauer mehr und mehr auf das Lagerinnenleben bezogen –, sie zielten darüber hinaus aber noch auf eine Imagepflege gegenüber der Heimatöffentlichkeit, der größere Teile der Auflagen zugesandt wurden. Befürchteten die Kriegsgefangenen nicht zu Unrecht, als unehrenhaft abgestempelt zu sein, so versuchten sie gerade durch ihre Publikationen, ihre Lebenssituation zu legitimieren durch eine literarisch umgesetzte Kampfbereitschaft, die sich besonders in deutschen Publikationen zeigte und die darin bestand, das Deutschtum im Ausland besonders zu betonen und das Lager als Bewährungschance umzudeuten. Dennoch sieht Pöppinghege hier keinen deutschen „Sonderweg“ (S. 294), sondern konstatiert internationale, oder, bezogen auf die überwiegend bürgerlichen Redakteure, interkulturelle Gemeinsamkeiten, gesteht den deutschen Kriegsgefangenen allerdings einen höheren Legitimationsdruck zu.

Pöppinghege gibt neben diesen Befunden auch einen Einblick in die Entstehung der Lagerzeitungen, denen er „wesentliche Züge der Massenkommunikation“ zuschreibt (S. 307). So rekonstruiert er unter anderem auch Zensur- und Propagandamaßnahmen, Erscheinungsweise und -dauer, Auflagenzahlen, Zusammenarbeit mit der Kommandantur, illegale Publikationen und gibt vereinzelt greifbare biografische Angaben zu den Redakteuren. Weiter wertet er die Lagerzeitungen inhaltlich aus. Den überwiegend lagerinternen Themen stand ein nur kleiner und geringer werdender Anteil aktueller Nachrichten gegenüber. Allein die Existenz der Zeitungen bewies gegenüber der Heimatfront die Aktivität der Kriegsgefangenen, ihre Durchhaltebereitschaft und damit Kriegstauglichkeit.

Der Kriegsverlauf und das französische Verbot von Lagerzeitungen in Mannschaftsstammlagern bis zum Waffenstillstand 1918 bedingten einen größeren Anteil im Deutschen Reich erschienener Lagerzeitungen. Dennoch gelingt es Pöppinghege, ein ausgewogenes Bild der Mentalitäten französischer, britischer und deutscher Kriegsgefangener und Internierter und ihrer Herkunftsgesellschaften zu zeichnen. Neben der guten Lesbarkeit besticht die Studie besonders durch ihre quellenkritische Reflexivität. Auch wenn sie nicht als Quellenkunde angelegt ist, muss die Studie in Bezug auf die Lagerzeitungen als quellenkundliches Pionierwerk gesehen werden. Denn daran mangelt es insbesondere für Quellen des 20. Jahrhunderts.2 Zahlreiche Tabellen, Statistiken und Illustrationen, eine tabellarische Übersicht aller bekannten Lagerzeitungen aus dem Einflussbereich Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens und ein Register runden das Werk ab. Einige kleine redaktionelle Mängel (so sind Hervorhebungen in manchen Zitaten verloren gegangen, etwa S. 230, Anm. 687; S. 265, Anm. 791) können den überaus positiven Gesamteindruck nicht schmälern.

Anmerkungen:
1 Vgl. Hinz, Uta, Kriegsgefangene, in: Gerhard Hirschfeld; Gerd Krumeich; Irina Renz (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2004, S. 641-646; Hinz, Uta, Gefangen im Großen Krieg. Kriegsgefangenschaft in Deutschland 1914-1921, Essen 2006; Wurzer, Georg, Die Kriegsgefangenen der Mittelmächte in Russland im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2005; Oltmer, Jochen (Hg.), Kriegsgefangene im Europa des Ersten Weltkriegs, Paderborn 2005.
2 Vgl. Reininghaus, Wilfried, Archiv- und Sammlungsgut zur Geschichte der Zwangsarbeit in Deutschland 1939-1945. Eine Annäherung an den Gesamtbestand der Quellen, in: Reininghaus, Wilfried; Reimann, Norbert (Hgg.), Zwangsarbeit in Deutschland 1939-1945. Archiv- und Sammlungsgut, Topographie und Erschließungsstrategien, Bielefeld 2001, S. 38-49, hier S. 39.

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