Titel
Die letzten "Priester der Gerechtigkeit". Die Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation


Autor(en)
Mader, Eric-Oliver
Reihe
Colloquia Augustana 20
Erschienen
Berlin 2005: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
458 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Jörn, Historisches Institut, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald

Als Kaiser Franz II. am 6. August 1806 abdankte, besiegelte er mit diesem Akt auch das Ende des Alten Reiches. 200 Jahre später beschäftigen sich verschiedene Ausstellungen, Ringvorlesungen und Tagungen in den Regionen des ehemaligen Reiches mit diesem Ereignis und halten unter vielfältigen Aspekten Rückschau.1 Sie stehen damit in einer langen Tradition von Forschungen, die nach einer Erklärung dafür suchen, ob die Ereignisse des Jahres 1806 eher für den Bruch mit dem aus dem Mittelalter stammenden Reichsgedanken oder für gewisse Kontinuitäten in der staatlichen Entwicklung Deutschlands in Anspruch genommen werden sollten.

Einem sehr wichtigen Aspekt der Auflösung des Reiches widmet Eric-Oliver Mader seine im Sommersemester 2002 an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommene Dissertation. Er fragt danach, was nach der Auflösung des Alten Reiches aus der letzten Generation der Richter am Reichskammergericht wurde, wie sie das Ende des Reiches und ihrer Institution wahrnahmen, welche Nachkarrierechancen sich ihnen eröffneten und wie Kaiser und Reich mit ihnen umgingen. Interessant sind die Schicksale dieser 24 Juristen, weil diese Gruppe aufgrund des sorgsam austarierten, die Konfessionen wie die Regionen gleichermaßen angemessen berücksichtigenden Präsentationsschemas und der Finanzierung des Gerichts durch die reichsweit erhobenen Kammerzieler am engsten mit der Reichsverfassung verbunden war. Mader nimmt bei seiner Darstellung eine interessante Perspektive ein, indem er „die Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit den Ereignissen von 1806 als einen Prozeß mit offenem Ergebnis“ (S. 31) betrachtet. Damit gelingt es ihm, die Eigendynamik, die sich aus der Auflösung des Reiches ergab, angemessen in seine Deutungen einzubeziehen und die Richter als Akteure darzustellen, die nicht wussten, worauf die Ereignisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts hinausliefen. In einer Mischung aus prosopografischen, geistes-, politik- und wahrnehmungsgeschichtlichen Zugriffen nähert sich Mader seinem Thema und untergliedert dieses in vier Hauptteile. Im ersten stellt er die von ihm untersuchte Gruppe vor, im zweiten gibt er „Momentaufnahmen im Jahr 1806“, im dritten schildert er die Abwicklung des Reichskammergerichts und seiner Richter und abschließend stellt er deren Nachkarrieren dar.

Die letzte Richtergeneration des Reichskammergerichts stieß sowohl unter Zeitgenossen als auch bei der modernen Forschung auf nachhaltiges Interesse. So veröffentlichte Joseph Anton von Vahlkampf, einer der letzten drei Protonotare des Reichskammergerichts, bereits im Herbst 1806 eine Sammlung von Lebensbeschreibungen der Wetzlarer Richter. Streng nach der jahrhundertelang geltenden Rangordnung am Gericht wurden Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren zu einem letzten Gruppenporträt aufgereiht, mit Vorkarrieren und allen Veröffentlichungen vorgestellt und den Territorialherren des zerfallenen Reiches quasi als Sammelbewerbung präsentiert. Für die Arbeit Maders stellt diese Sammlung eine wichtige Grundlage dar, stark geprägt wird sie von den Forschungen Sigrid Jahns‘, die in ihrer Habilitationsschrift eine beeindruckende Kollektivbiografie der Assessoren am Reichskammergericht in der Wetzlarer Zeit vorgelegt und darüber hinaus zahlreiche weiterführende Aufsätze zum Personal des Gerichts veröffentlicht hat.2 Wer angesichts des Jahnsschen Monumentalwerkes geglaubt hatte, zu den Assessoren am RKG sei alles gesagt, wird durch Mader eines Besseren belehrt. Geschickt nutzt er die Forschungen Jahns‘, um zunächst das Profil der Juristengruppe zu konturieren, strukturelle Prägungen, Rekrutierungsprinzipien und gesellschaftliche Verflechtungen sowie das geistige Niveau der Gruppe darzustellen. In mehreren Tabellen werden die Präsentationsberechtigungen nach dem Schema von 1781/82, die wichtigsten Fakten zu den einzelnen Juristen (Name, durch wen präsentiert, wo und wann geboren, seit wann am Gericht), die Nähe zum präsentierenden Stand (Ausbildung, Praktika, Vorkarriere) und die Publikationen der Mitglieder der Gruppe zusammengestellt. In diesem Abschnitt lehnt sich Mader notwendigerweise sehr eng an die Fragestellungen und Forschungsergebnisse Jahns‘ an, leistet dann aber mit der geistigen Profilierung der Gruppe und der Darstellung ihres Selbstverständnisses als Diener des Reiches, die als „gesamter Körper Ansprüche und Rechte dem Reich gegenüber hätten“ (S. 110), wichtige eigenständige Beiträge.

Wichtig für die Darstellung ist dann vor allem das 2. Kapitel, in dem die Krise des Jahres 1806 und ihr Erleben durch die ausgewählten Juristen beschrieben und analysiert wird. Immerhin knapp 900 Personen standen im Dienst des Reichskammergerichts und waren von den Ereignissen um die Abdankung Franz II. betroffen. Die „Priester der Gerechtigkeit“ waren dabei die exponierteste Gruppe unter den Kameralen, die allerdings nicht gewillt war, den Inhalt der Kasse beispielsweise mit den Anwälten zu teilen. Mader zeigt sehr schön die tiefe Verunsicherung, die unter den Richtern über Ende oder Fortbestand ihrer Institution herrschte. Gutachten aus Bayern und Wien, ein letzter Reichsreformplan und schließlich die Gründung des Rheinbundes kennzeichnen die äußeren Bedingungen der untersuchten Monate, auf die das Richterkollegium reagierte, indem es den Kammerrichter Reigersberg nach Regensburg und Wien entsandte, um für den Erhalt des Gerichts, zumindest aber für die Unterhalts- und Pensionsberechtigung seiner Bedienten zu werben. Dort musste Reigersberg vom Kaiser die Demission des Gerichtspersonals zur Kenntnis nehmen und erreichte nur, dass Franz II. die Kameralen der Fürsorge der Reichsstände empfahl. Das einzig greifbare Ergebnis war die Zahlung der seit 1796 rückständigen böhmischen Kammerzieler, mit denen eine notwendige Überbrückung gewährleistet werden konnte, bis sich neue Ämter gefunden hatten bzw. die Pensionsansprüche geklärt waren.

Es gelingt Mader sehr gut, einerseits die unterschiedlichen Reaktionen der einzelnen Betroffenen darzustellen, andererseits immer wieder Gruppenspezifisches und die Solidarität der Richter untereinander herauszuarbeiten. Resignation und Ohnmacht, Hoffnungen auf eine Zukunft auf einem neuen Posten und der Kampf um die Behauptung der Kasse und um einen angemessenen Anteil an ihrem Inhalt bestimmten das Leben der ehemaligen Richter in Wetzlar in den kommenden Monaten. So nimmt denn auch die Schilderung der Abwicklungs- und Abfindungspläne breiten Raum ein. Immerhin 15 der 24 von Mader untersuchten Männer gelang jedoch eine teilweise hochrangige Nachkarriere, vor allem in Württemberg, Bayern und Baden, aber auch in Preußen und Hessen. Anhand dieser Nachkarrieren der Reichskammergerichts-Assessoren zeigt Mader die personelle Kontinuität zwischen Altem Reich und souveränen Fürstenstaaten des 19. Jahrhunderts. Er differenziert sehr genau zwischen liberalen Reformern, die vor allem die Entwicklung in Bayern prägten und einem Konservativen wie Karl von Kamptz, der zwischen 1824 und 1842 verantwortlich im Justizministerium in Preußen wirkte.

Das faktenreiche, auf breiter Quellen- und Literaturbasis fußende Buch ist angenehm flüssig geschrieben. Mader hat das Gespür für die Zeit, kann historische Situationen ebenso schildern wie Zusammenhänge analysieren. Er bleibt seinen Protagonisten gegenüber kritisch und vergleicht die Situation der von ihm untersuchten Gruppe immer mit anderen Amtsträgern von Kaiser und Reich bzw. dem niederen Gerichtspersonal. In die wissenschaftliche Diskussion um das Ende des Alten Reiches bringt er eine wichtige Facette ein. Angekündigte Studien zu den Reichstagsgesandten aber auch Forschungen zu den Reichshofräten werden nun mit umso größerer Spannung erwartet.

Anmerkungen
1 Stellvertretend für viele andere seien genannt die Ausstellung „Altes Reich und neue Staaten 1495–1806“ im Deutschen Historischen Museum Berlin, die im Sommersemester 2006 in Jena stattfindende Ringvorlesung: „Jena 1806. Ereignis – Wirkung – Erinnerung“ oder die Tagungen „1806 und die Folgen“ der Historischen Kommission für Niedersachsen in Stade im Mai 2006 oder des Greifswalder Neuzeitlehrstuhls „Das Ende des Alten Reiches im Ostseeraum“, in Greifswald im Juni 2006.
2 Jahns, Sigrid, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, (Quellen und Darstellungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 26), Köln 2003 sowie zahlreiche dort und bei Mader nachgewiesene Aufsätze.