M. Hecker: Napoleonischer Konstitutionalismus

Titel
Napoleonischer Konstitutionalismus in Deutschland.


Autor(en)
Hecker, Michael
Reihe
Schriften zur Verfassungsgeschichte 72
Erschienen
Anzahl Seiten
205 S.
Preis
64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Gehrke, Universität Stuttgart

Die Vorstellung, die moderne Verfassungsgeschichte habe in Deutschland erst mit dem so genannten „süddeutschen Konstitutionalismus“, also mit den Verfassungen Badens, Württembergs, Bayerns und Hessen-Darmstadts von 1818/20 ihren Anfang genommen, ist lange prägend geblieben. Zugleich wurde den Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen stets eine große Aufmerksamkeit der Forschung zuteil, während die gleichzeitig vom Rheinbund ausgehenden Modernisierungsimpulse stiefmütterlich behandelt wurden. Diese Missachtung hat ihre Ursachen weniger in der Kurzlebigkeit des Rheinbundes, vielmehr lagen ihr vor allem ideologische Motive zugrunde. Das schon von Heinrich von Treitschke gegen die napoleonischen Staatsgründungen ausgesprochene Verdikt der „Fremdherrschaft“ hat einen nüchtern-differenzierten Blick auf die Thematik lange verstellt.

Erst seit Anfang der 1970er-Jahre hat die Forschung hier eine grundlegende Revision vollzogen, beginnend mit den Studien von Elisabeth Fehrenbach 1 sowie, speziell zum Königreich Westfalen, von Helmut Berding 2 und Herbert Obenaus. 3 Auf diesen vielfältigen Vorarbeiten baut die vom Umfang her eher schmale, inhaltlich aber durchaus gehaltvolle Studie von Michael Hecker auf. Zusätzlich zu den in jüngster Zeit vermehrt ediert vorliegenden Quellen zur Rheinbundzeit 4 hat der Autor auch einige ungedruckte Quellen verarbeitet, was allerdings Fragen aufwirft. Wieso Hecker Bestände zu seinem Thema noch immer im bereits 1993/94 (!) aufgelösten und in das Berliner Geheime Staatsarchiv integrierten „Deutschen Zentralarchiv II, Dienststelle Merseburg“ (S. 187) verortet, bleibt sein Geheimnis.

Die Verfassungen der zahlreichen napoleonischen Staatsgründungen in Europa – den so genannten „Napoleoniden-Staaten“ – sind in der Rechtsgeschichte mittlerweile als lohnende Objekte einer komparativen Betrachtung entdeckt worden. Hecker wählt seinen Gegenstand allerdings bewusst eng, indem er seine Analyse des von ihm so bezeichneten „napoleonischen Konstitutionalismus in Deutschland“ ausschließlich auf die drei innerhalb des Rheinbundes künstlich geschaffenen „Modellstaaten“ bezieht: das 1807 geschaffene und von Napoleons jüngstem Bruder Jérôme Bonaparte regierte Königreich Westfalen, das 1810 begründete Großherzogtum Frankfurt und schließlich das Großherzogtum Berg, das zwar bereits im Frühjahr 1806 seine formale Souveränität erlangt hatte, dessen geplante Verfassung im Gegensatz zu Westfalen und Frankfurt aber nie wirklich in Kraft trat. Das Ziel seiner Studie beschränkt Hecker ausdrücklich auf eine „moderne verfassungsgeschichtliche Betrachtung des (rechtsrheinischen) napoleonischen Deutschlands“ (S. 17); nicht zuletzt der Duktus und das kleinteilig-systematische Gliederungsschema verraten den Juristen. An manchen Passagen wünscht man freilich, ein sprachlich sensibles Lektorat hätte den Leser/innen solche Stilblüten wie „Vorrang-Einordnung“ (S. 17) oder die „napoleonisch-geschöpften Rheinbundstaaten“ (S. 15) erspart.

Heckers Darstellung zerfällt in vier Oberkapitel. Der erste, den historischen Kontext sowie die terminologischen Voraussetzungen erhellende Abschnitt bringt inhaltlich zwar nichts Neues, bietet den Leser/innen aber eine nützliche und kompakte Übersicht über die neuzeitliche Entwicklung des Verfassungsbegriffs. Mit dem zweiten Abschnitt wendet sich der Autor seinem eigentlichen Thema zu; nach einer knappen Darstellung der Verfassungsgenese in den untersuchten Territorien analysiert er die Legitimationsmuster, die der dortigen Herrschaftsausübung zugrunde lagen. Hecker schildert die Probleme, die sich aus dem Versuch einer Übertragung revolutionärer Herrschaftsbegründung von Frankreich auf die unterworfenen Gebiete zwangsläufig ergeben mussten: Weder demokratisch-plebiszitäre noch cäsaristische Begründungsmuster erwiesen sich im Sinne einer dauerhaften Legitimation als tragfähig, weshalb letztlich doch wieder auf vorwiegend sakrale Argumente zurückgegriffen wurde. Der dritte Abschnitt behandelt die Gewährung individueller Gleichheits- und Freiheitsrechte, die in den Napoleoniden-Staaten mit der Beseitigung sämtlicher ständischer Korporationen und Partizipationsansprüche einherging. Die überkommenen Privilegien des Adels wurden freilich nur dort angetastet, wo sie dem Souveränitätsanspruch bzw. den fiskalischen Interessen des Staates elementar zuwiderliefen. Während das ambitionierte Unternehmen einer Bauernbefreiung in Westfalen so in den Anfängen steckenblieb, eilte die dortige Judengesetzgebung ihrer Zeit weit voraus, indem sie die vorbehaltlose und unbeschränkte Gleichstellung der Juden festschrieb. Im vierten Abschnitt schließlich wendet sich Hecker – wiederum am Beispiel Westfalens – den Repräsentativvertretungen als dem konstitutionellen Herzstück zu. Die Zusammensetzung dieser von den Zeitgenossen mal noch als „Reichsstände“, mal auch schon als „National-Repräsentation“ oder „Volksvertretung“ bezeichneten Körperschaft folgte nicht länger einem ständischen, sondern einem auf Bildung und Grundbesitz fixierten Verteilungsschlüssel; tatsächlich entstammte in der Repräsentation nur noch knapp die Hälfte der Abgeordneten dem Adel. Dieser bereits relativ moderne Zug kontrastierte allerdings deutlich mit der faktischen Einflusslosigkeit der Versammlung, die angesichts des Fehlens einer Plenardebattenkultur auch kaum als „Parlament“ im eigentlichen Wortsinne zu bezeichnen ist. Zwar verfügte die westfälische Repräsentation mit dem Budgetrecht über das „konstitutionelle Parlamentsrecht schlechthin“ (S. 150), die Gesetzesinitiative und auch das parlamentarismusgeschichtlich so wichtige Petitionsrecht blieben ihr hingegen versagt.

Der Kurzlebigkeit der untersuchten „Modellstaaten“ ist es zuzuschreiben, dass deren Konstitutionen kaum Zeit blieb, sich in der Praxis zu bewähren. Umso verdienstvoller ist es, dass Hecker mit dem westfälischen „Verfassungskonflikt“ der Jahre 1808 und 1810 auch ein Stück Verfassungswirklichkeit in seine Betrachtungen mit einbezieht. Dass die dortigen Reichsstände in beiden Sitzungsperioden Steuervorlagen der Regierung scheitern ließen, wertet er als Beleg gegen die These, die Repräsentation habe im Rahmen eines napoleonischen Scheinkonstitutionalismus bloß „Dekorationscharakter“ gehabt (S. 152). Während die Regierung 1808 das verfassungsrechtlich verbürgte Ablehnungsrecht der Vertretung zunächst anerkannte, zeigte sie sich 1810 nicht länger bereit, bei der Durchsetzung des eigenen Willens Beschränkungen hinzunehmen, und berief die Stände einfach nicht wieder ein. Hier deutet sich ein Grundmuster der politischen Auseinandersetzung an, wie es sich in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts noch häufig wiederholen sollte. Mit Recht spricht Hecker in diesem Zusammenhang „von ersten Umrissen einer dualistischen Verfassungsstruktur“ (S. 161).

Wichtiger noch als in anderen Teildisziplinen der historischen Forschung ist in der Verfassungsgeschichte der komparative Ansatz, und so blickt auch Hecker vereinzelt über die drei von ihm untersuchten Territorien hinaus. In ihrer Grundanlage sieht er die napoleonischen Verfassungen als den Konstitutionen des Restaurationszeitalters, angefangen mit der französischen „Charte constitutionelle“ von 1814, schon recht nahe stehend (S. 122). Bauernbefreiung und Judenemanzipation in Westfalen legen andererseits den Vergleich mit den preußischen Reformen nahe, denen Hecker einen ähnlich dynamischen Veränderungswillen attestiert, doch hätten ihnen die „grundlegend anti-ständische Stoßrichtung und Sprengkraft“ gefehlt (S. 124). Leider wird der Vergleich nicht auf die Frage der Repräsentation ausgedehnt. Dass Hecker die der Thematik innewohnenden Möglichkeiten hier nicht ganz ausschöpft, liegt auch daran, dass er die grundlegende Studie von Martin Kirsch nicht zur Kenntnis genommen hat, der, von Frankreich ausgehend, unter dem Schlagwort des „monarchischen Konstitutionalismus“ eine über Deutschland hinausweisende Vergleichsebene erschließt und damit die alte These eines verfassungspolitischen Sonderwegs Deutschlands im 19. Jahrhundert erheblich relativiert. 5

Natürlich ist festzuhalten, dass die von Hecker gewählte Thematik noch viele andere, von ihm nicht berücksichtigte Fragestellungen impliziert, etwa im Sinne einer kulturgeschichtlichen Betrachtung die Frage nach dem in den Rheinbundstaaten praktizierten politischen Zeremoniell und dessen möglichen Vorbildern. Auch im Rahmen ihres engen, rein verfassungsgeschichtlich angelegten Ansatzes vermag die Studie jedoch insgesamt zu überzeugen. Mit ihrer stets konzisen Argumentationsführung bildet sie im Rahmen der Rheinbundforschung einen wertvollen Baustein, auf den künftig weiter aufgebaut werden kann. Umso bedauerlicher, dass das Buch schon angesichts seines prohibitiv hohen Preises wohl nur eine begrenzte Käufer- und Leserschaft finden wird.

Anmerkungen
1 Aus einer Vielzahl einschlägiger Veröffentlichung sei exemplarisch genannt: Fehrenbach, Elisabeth, Verfassungs- und sozialpolitische Reformen und Reformprojekte in Deutschland unter dem Einfluß des napoleonischen Frankreichs, in: HZ 228 (1979), S. 288-316.
2Berding, Helmut, Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807-1813 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 7), Göttingen 1973.
3Obenaus, Herbert, Die Reichsstände des Königreichs Westfalen, in: Francia 9 (1981), S. 299-329.
4Hier vor allem zu nennen: Quellen zu den Reformen in den Rheinbundstaaten, hg. v. d. Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bisher erschienen: Bde. 1-8, München 1992-2005.
5Kirsch, Martin, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 150), Göttingen 1999; vgl. zustimmend Kraus, Hans-Christof, Monarchischer Konstitutionalismus. Zu einer neuen Deutung der deutschen und europäischen Verfassungsentwicklung im 19. Jh., in: Der Staat 43 (2004), S. 595-620.