M. Seckelmann: Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht

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Titel
Industrialisierung, Internationalisierung und Patentrecht im Deutschen Reich, 1871-1914.


Autor(en)
Seckelmann, Margrit
Reihe
Recht in der Industriellen Revolution
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
XII, 527 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Dommann, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zuerich

Zu den rechtsgeschichtlichen Themen, die lange vernachlässigt wurden und eine integrale Perspektive unter Einbezug sozialer, ökonomischer, politischer, wissenschaftlicher, technischer und kultureller Faktoren geradezu herausfordern, gehört die Entstehung eines ‚modernen’ Patentrechts in Deutschland im 19. Jahrhundert.1 Patente stehen heute im Zentrum globaler Konflikte. Die Parallelitäten zur Entwicklung im 19. Jahrhundert sind augenfällig: Eine Internationalisierung von Märkten zieht eine ‚Globalisierung’ von Rechtsinstrumenten mit sich. Gleichzeitig manifestieren sich divergierende Interessenkonstellationen zwischen Freihandelsbefürwortern und Steuerungsanhängern, zwischen Nationen und der Internationalen Gemeinschaft und zwischen ‚Erfindern’ und kapitalintensiven Unternehmungen. Heute kreisen die heißen Debatten um Software, Biodiversität und Gensequenzen, damals um die verfahrenstechnische Frage, ob, wie und mit welchen Konsequenzen Wissen verrechtlicht werden soll. Die Frage nach Sinn und Unsinn von Patenten war Mitte des 19. Jahrhunderts dominiert von der ökonomischen Frage, ob sie sich günstig auf Wohlfahrt auswirken.

In der neueren Institutionenökonomie wird den Eigentumsrechten als Instrument zur Senkung von Transaktionskosten eine entscheidende Rolle für ökonomische Entwicklung zugeschrieben.2 Von dieser institutionenökonomischen Prämisse geht auch die rechtshistorische Dissertation von Margrit Seckelmann aus, die im Rahmen einer Nachwuchsforschergruppe zum Recht in der Industriellen Revolution am Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main entstanden ist.3 Seckelmann folgt damit dem im 19. Jahrhundert von Patentkritikern und -befürwortern gleichermaßen praktizierten Vorgehen, Patente in Hinblick auf Wohlfahrtseffekte zu betrachten. Es stellt sich hier die Frage, wie die Effekte des Patentrechts auf den Aufschwung von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft im Rahmen einer „Zweiten Industriellen Revolution“ im Deutschen Kaiserreich zu gewichten sind. Seckelmann betont die Reduktion von Rechtsunsicherheit und den damit einhergehenden Kosten. Es ist allerdings fraglich, ob sich der Steuerungseffekt von Recht auf Wirtschaft oder Wissenschaft auf Ebene der Rechtspraxis wirklich greifen lässt oder damit nicht vielmehr die steuerungsoptimistische Rechtsrhetorik nachgezeichnet wird. Dies räumt Seckelmann in ihrem Fazit auch ein, wenn sie sagt, dass der Faktor „Recht als Vorbedingung für technisch-wissenschaftlichen Innovation in der Analyse nicht gleichsam unter Laborbedingungen“ isolierbar sei (S. 405). Die Juristin fokussiert das Patentrecht im Deutschen Reich vom Zeitpunkt der Reichsgründung 1871 bis zum Ersten Weltkrieg 1914. Ihr Interesse gilt der Entstehung, Anwendung und Weiterentwicklung des Patentrechts, klassische Kodifikationsgeschichte also, die jedoch durch den Blick auf die Wechselwirkungen mit den internationalen Entwicklungen und das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Recht, Wissenschaft, Technik und Wirtschaft Neuland betritt. Die Stärke von Seckelmanns Studie liegt im Vorgehen, Recht nicht als positivistische Ideengeschichte zu betreiben, sondern deren komplexe Entstehung und Transformation in seinen verwinkelten gesellschaftlichen Zusammenhängen zu entschlüsseln. Akribisch genau analysiert sie den Kodifikationsprozess als ein komplexes Zusammenspiel von Verbänden, Expertennetzwerken, Politikern und Juristen.

Privilegien hatten unter den Anhängern des Freihandels im 19. Jahrhundert einen schlechten Ruf als Instrument des Merkantilismus und Vehikel der Geldbeschaffung für Verwaltung und Diplomatie. Die erste Weltausstellung von 1851 in London (wie auch die späteren in Paris, Wien und Philadelphia) stärkte die patentbefürwortenden Stimmen, weil sich der Schutz der Exponate vor Nachahmung als eine Bedingung für den Erfolg von internationalen Ausstellungen herauskristallisierte. Zu den Trägern einer patentrechtlichen Grundsatzdebatte avancierten Verbände: Der 1858 gegründete Kongress Deutscher Volkswirte profilierte sich dabei als scharfer Kritiker jeglicher Patente, während der 1856 gegründete Verein deutscher Ingenieure die Patente vom Ruch des Ancien Régime zu befreien suchte und als universalistische Rechtsidee propagierte. Anlässlich der Weltausstellung in Wien 1873 fand der Erste Internationale Patentschutzkongress statt, der sich für eine internationale Angleichung des Patentschutzes stark machte. Der in Anschluss an die Konferenz initiierte Deutsche Patentschutzverein war gespalten in ein internationalistisches und ein nationalistisches-protektionistisches Lager. Die nationalistische Option setzte sich durch und trieb eine nationale Vereinheitlichung voran.

Im ersten deutschen Patentgesetz von 1877 waren die Hürden für ein Patent hoch gelegt: Dafür sorgten ein Vorprüfungssystem und hohe Patentgebühren, die sich als willkommene Einnahmequelle für das junge Deutsche Reich entpuppten. Seckelmann verfolgt auch den verwaltungsgeschichtlich aufschlussreichen Aufbau des Patentamtes und die professionsgeschichtlich relevante Entstehung eines neuen Berufsfeldes von Patentkonsulenten, -agenten und -anwälten, das sich aus einem heterogenen Personenkreis von Technikern, Chemikern und Naturwissenschaftlern rekrutierte. Juristen waren durch ihre auf römisches Recht ausgerichtete akademische Ausbildung nur schlecht auf die technischen und ökonomischen Themen vorbereitet. Davon profitierten junge Rechtswissenschaftler wie Carl Gareis oder Josef Kohler: Sie konnten die juristische Bearbeitung von Technik und Wirtschaft als Sprungbrett für akademische Karrieren nutzen.

Die chemische Industrie hatte sich anfänglich kaum am Gesetzgebungsprozess interessiert gezeigt und stattdessen Ausbeute an ausländischen Patenten betrieben. Nachdem sie weltweit führend wurde, wandte sich das Blatt: Die Großchemie sah sich mit unliebsamen Imitationen aus Ländern ohne Patentgesetzen konfrontiert, wie den Niederlanden oder der Schweiz. Dort profitierte die Basler Chemie davon, dass das Schweizerische Patentgesetz von 1888 chemische Stoffe vom Patentschutz ausgenommen hatte und die Möglichkeit offen ließ, deutsche Erfindungen im großen Stil nachzuahmen. Zur Vermeidung von kostspieligen Prozessen gingen Unternehmungen dazu über Patente auszutauschen. Die Folge davon war Kartellbildung, eine von Ökonomen kritisierte Folge patentrechtlicher Steuerung, die von der Rechtssprechung sanktioniert wurde.

Hohe Patentgebühren und die Langwierigkeit des Verfahrens stärkten die Position der Großunternehmen gegenüber den kleinen ‚Erfindern’. Die sozialen Differenzen spiegelten sich auch auf Ebene der Unternehmen. Die Frage nach dem rechtlichen Status des Angestelltenerfinders in Unternehmungen avancierte in der Jurisprudenz zur rechtstheoretischen Debatte. Die Kontroverse ist aus kulturanalytischer Perspektive besonders interessant, weil sie die Sprengkraft von soziokulturellen Prozessen spiegelt, die sich im Recht artikulieren. Der Widerspruch, dass ‚Erfinder’ und ‚Anmelder’ in großen, arbeitsteiligen Unternehmungen nicht mehr identisch waren, und die Rechtstradition nur Individuen und keine Kollektive als ‚Erfinder’ vorgesehen hatte, führte zu juristischen Verrenkungen, etwa wenn Josef Kohler davon sprach, dass die Erfindung „bei der Konzeption im Gehirn des Angestellten sofort in das Vermögen des Geschäftsherrns“ hineinwachse (S. 365). In der Rechtssprechung dominierte dann nach 1900 eine etwas pragmatischere Sicht, indem auf eine Verschriftlichung dieser Angelegenheit in arbeitsrechtlichen Verträgen gedrängt wurde. Die durch den Deutschen Erfinderbund und den Bund technisch-industrieller Beamte initiierten Gesetzesreformen wurden durch den Beginn des Ersten Weltkrieges unterbrochen.

Seckelmanns Studien analysiert die Anatomie eines Gesetzgebungsprozesses, auf den auch Verwaltungstätigkeit und Rechtssprechung einwirkten. Angesichts der detailreichen, quellennahen Beschreibungen wünscht man sich zuweilen eine Zuspitzung der Argumentation. Widersprüchliche Aussagen hinterlassen bei den Lesern/innen offene Fragen: So ist von der Gerichtsfestigkeit der Entscheidungen des Patentamtes die Rede (S. 259), und kurz darauf wird festgehalten, die Patente seien wenig gerichtsfest gewesen (S. 264). Man wünscht sich dieser ersten umfassenden Studie zum Patentrecht im deutschen Kaiserreich auch eine Rezeption außerhalb der Rechtsgeschichte und erhofft sich weitere Forschung, welche an der Schnittstelle von Wissen, Technik, Wirtschaft und Recht ansetzt. Hierzu bietet die Arbeit von Margrit Seckelmann interessante Anregungen: Etwa die aus Sicht einer Geschichte des Wissens relevante Frage, wie sich Patente auf die Produktion von Wissen auswirken. Die Frage, wann die Option der Offenlegung (d.h. der Patentierung) und wann jene der Geheimniswahrung gewählt wird, verweist auf die Grenzen des patentrechtlichen Instrumentariums. Auch die sich bereits im 19. Jahrhundert manifestierende Konzentration von Patenten in den Händen von Unternehmungen und deren Bewirtschaftung als Unternehmensressource (teilweise auf Kosten der Angestellten-Erfinder) wären weitere Untersuchungen wert. Genauer unter die Lupe nehmen könnte man schließlich auch die Entwicklung der Patentierungstabus: „Nahrungs-, Genuss- und Arzneimittel“ und „Erfindungen, deren Verwertung den Gesetzen oder guten Sitten zuwiderlaufen würde“, waren 1877 von der Patentierung ausgeschlossen. (Anhang S. 427) An der Frage der Anstößigkeit von Patenten in den Lebenswissenschaften entzünden sich heute neue Debatten, während die Kontroversen im 19. Jahrhundert ausschließlich um die ökonomische Beurteilung der Patente gekreist waren.

Anmerkungen:
1 Zum deutschen Patentrecht bestehen bislang nur punktuelle Studien: Heggen, Alfred, Erfindungsschutz und Industrialisierung in Preußen, 1793-1877, Göttingen 1975; Fleischer, Arndt, Patentgesetzgebung und chemisch-pharmazeutische Industrie im deutschen Kaiserreich (1871-1918), Stuttgart 1984.
2 North, Douglass C., Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992.
3 Vec, Milos, Recht und Normierung in der Industriellen Revolution. Neue Strukturen in der Normsetzung in Völkerrecht, staatlicher Gesetzgebung und gesellschaftlicher Selbstnormierung (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte; 200. Recht in der Industriellen Revolution 1), Frankfurt am Main 2006.

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