K. Hauser: Mutterschaftsversicherung in der Schweiz

Cover
Titel
Die Anfänge der Mutterschaftsversicherung. Deutschland und Schweiz im Vergleich


Autor(en)
Hauser, Karin
Erschienen
Zürich 2004: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Regina Wecker, Historisches Seminar, Universität Basel

Wer das bis 2004 dauernde Ringen um die „Mutterschaftsversicherung“, wie die Sicherung des Lohnersatzes für die Zeit der Geburt eines Kindes in der Schweiz genannt wird, verfolgt hat, kann sich kaum vorstellen, dass die Schweiz einst als Pionierland des gesetzlichen Mutterschutzes galt. Schon 1864 wurde im Fabrikgesetz des Kantons Glarus ein sechswöchiges Arbeitsverbot für die Zeit nach der Geburt festgesetzt. Das erste gesamtschweizerische Fabrikgesetz von 1877, ein Gesetz, das die Arbeitsbedingungen in Fabriken gesamthaft regelte, und insbesondere wegen der Festlegung des Normalarbeitstages auf 11 Stunden und des allgemeinen Nachtarbeitsverbots international hohe Beachtung fand, dehnte das Arbeitsverbot auf 8 Wochen aus. Damit war die Schweiz der erste Staat, der eine solche Regelung einführte. Allerdings galt diese Pionierrolle nur in Bezug auf das Arbeitsverbot der Fabrikarbeiterinnen während der Zeit von Geburt und Wochenbett: ein Lohnersatz war nicht vorgesehen, und es dauerte in der Schweiz tatsächlich bis 2004, bis alle Arbeitnehmerinnen Anrecht auf diese Leistung erhielten.

Anders in Deutschland: hier galt die Schweizer Regelung zwar als progressives Vorbild, das allenthalben lobend erwähnt wurde. Man konnte sich 1878 in der Novelle zur Gewerbeordnung aber dann gerade zu einem dreiwöchigen Arbeitsverbot durchringen. Allerdings wurde wenig später im Krankenversicherungsgesetz von 1883 ein Grundstein für die finanzielle Absicherung des Verdienstausfalls gelegt. Es entstand ein duales Gesetzesmodell, mit arbeitsrechtlicher Regelung des Wöchnerinnenschutzes und mit versicherungsrechtlicher Unterstützung über die Krankenversicherung, das dazu beitragen sollte, dass Deutschland die Schweiz schon bald überholte – zumindest was die finanzielle Sicherung anging. Zwar führte die Schweiz später eine ähnliche versicherungsrechtliche Lösung über die Krankenversicherung ein. Sie war allerdings nicht obligatorisch und führte wohl auch darum nicht zu einer allgemeinen Sicherung der finanziellen Risiken der Mutterschaft.

Diese Entwicklung und die Frage nach den Ursachen und Folgen des unterschiedlichen Verlaufs der Regelung des Mutterschutzes sind in beiden Ländern Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Dissertation von Karin Hauser. Dabei beschränkt sie sich auf die frühe Phase des Mutterschutzes, den Zeitraum zwischen 1860 und 1919, indem sie zunächst die rechtshistorische Entwicklung in Deutschland chronologisch darstellt, und sie dann im Kontext der gesellschaftlichen „Problemfelder“ und „Argumentationen“ analysiert. Es folgt die Darstellung der Schweizer Entwicklung im gleichen Analyseraster, wenn auch weniger umfangreich und schon stark vergleichend ausgerichtet. Den Abschluss bildet eine relativ kurze „Zusammenfassende Würdigung“, die dann nochmals explizit die wichtigsten Unterschiede und Gemeinsamkeiten analysiert. Methodisch schließt Hauser damit an ein (sozial)-rechtsgeschichtliches Vorgehen an, in dem sie die „Erweiterung einer rein juristischen Vorgehensweise“ (S. 21) sieht, wobei sie insbesondere die Argumente der Befürworter und Gegner des Mutterschutzes aufnimmt und nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Argumentationsmustern fragt.

Die Quellenbasis umfasst vielfältige zeitgenössische Veröffentlichungen, Parlamentsprotokolle, parlamentarische Vorstösse und Materialien zur rechtlichen Entwicklung, jedoch keine handschriftlichen Archivalien. Hauser fokussiert ganz auf die Entstehungsgeschichte des Mutterschutzes in den beiden Ländern. Darin unterscheidet sie sich von Studien, die auf einen internationalen Vergleich abzielen1, oder auch von Untersuchungen der deutschen Entwicklung2, die jeweils den Mutterschutz im Kontext der Entwicklung der Sozialgesetzgebung und der Arbeiter/innen-Schutzgesetzgebung (Normalarbeitstag, Nachtarbeitsverbot, Gesundheitsschutz) analysieren oder sie in den noch weiteren Kontext der Entwicklung der industriellen Frauenlohnarbeit stellen3, aber auch vom einzigen expliziten, wenn auch sehr kurzen Vergleich des Mutterschutzes in Deutschland, Österreich und der Schweiz, der den Zeitraum bis 1945 erfasst4, sowie von der ausführlichen Untersuchung zur Schweizer Schutzgesetzgebung5, welche die Entwicklung der Mutterschaftsversicherung bis 1945 verfolgt, sowie von weiteren Untersuchungen, welche die Entwicklung im Kontext der politischen Auseinandersetzung bis nach der erneuten Ablehnung der Mutterschaftsversicherung 1999 nachzeichnen. Diese Fokussierung und der enge zeitliche Rahmen erlauben eine sehr genaue Darstellung der einzelnen Schritte der Gesetzgebung sowie der unterschiedlichen rechtlichen, medizinischen und „sittlichen“ Argumentationsstränge von Befürwortern und Gegnern. In dieser genauen Analyse der Genese des Mutterschutzes und dem Vergleich von Argumenten und Argumentationskontexten sehe ich denn auch die Bedeutung der Untersuchung. Dabei ist es sicher nicht unerwartet, dass sich die Argumente für und wider den Mutterschutz in beiden Ländern ähneln. Wie viel intensiver und ausführlicher, facettenreicher und heftiger die deutsche Debatte im Untersuchungszeitraum ausfällt, ist allerdings bemerkenswert. So zählen sowohl die zahlreichen wissenschaftlichen Schriften zur medizinischen Bedeutung des Mutterschutzes als auch die Auseinandersetzung um die Frage, ob auch ledige Mütter Anrecht auf finanzielle Unterstützung haben sollten, zu den interessanten Spezifika der deutschen Debatte.

Die unterschiedliche Entwicklung in beiden Ländern, die sich im Untersuchungszeitraum ja erst anbahnt, führt Hauser auf die verschiedenen Rechtssysteme zurück, darauf, dass zum Beispiel eine obligatorische Krankenversicherung in der Schweiz vor dem Schweizer Souverän, der in den Sachabstimmungen (Referenden) das letzte Wort hat, keine Gnade fand, während das deutsche Parlament seine Entscheidungskompetenz in dieser Frage nutzen konnte. Das ist so allgemein kaum zu bestreiten und spätere Versuche, die Finanzierung eines allgemeinen Mutterschutzes in der Schweiz zu verankern, scheinen das zu bestätigen: Es wurden noch mehrere Anläufe im 20. Jahrhundert durch Referenden zum Scheitern gebracht, und zwar im Rahmen von Abstimmungen über die Krankenversicherung, sowie in Abstimmungen zu einer separaten Mutterschaftsversicherung. Im Untersuchungszeitraum beginnt aber auch eine Entwicklung, die meines Erachtens für die späteren Prozesse von grosser Bedeutung ist, und die in der Arbeit wenig Beachtung findet: Es entstehen in der Schweiz durch das Fehlen einer frühen, allgemeingültigen Regelung unterschiedliche Rechtsansprüche, und zwar je nach Versicherungsschutz, kantonaler Rechtpraxis und Anstellungsverhältnissen. Dabei sind – wie Hauser festhält – die Kantone durchaus die Motoren einer Weiterentwicklung und Ausdehnung des Versicherungsschutzes. Insbesondere betrifft das auch die kantonalen Verwaltungen als Arbeitsgeber. Gerade damit aber verzögern sie eine gesamtschweizerische Lösung. Bis 2004 wird es neben Gruppen erwerbstätiger Frauen mit gutem Versicherungsschutz und dem Recht auf Lohnfortzahlung von bis zu 16 Wochen, Frauen geben, die nicht einmal für die Dauer des gesetzlichen Arbeitsverbotes von 8 Wochen Anspruch auf Lohnfortzahlung haben. Dies erschwerte das gemeinsame Vorgehen der (Frauen-)Verbände und verminderte das Interesse der gut Versicherten.

Solche Entwicklungen bahnen sich im Untersuchungszeitraum an, werden aber erst viel später in ihrer vollen Tragweite sichtbar. Hier liegt nun eine Gefahr der konsequenten Beschränkung auf den kurzen und fraglos interessanten Untersuchungszeitraum: Die wirklich folgenschweren Unterschiede zwischen Deutschland und der Schweiz entwickeln sich im 20. Jahrhundert, insbesondere nach 1921 als das Schweizer Parlament entschied, dem Washingtoner Abkommen, das ein sechswöchiges Beschäftigungsverbot mit Lohnersatz enthielt, nicht beizutreten, während Deutschland das Abkommen 1926 doch wenigstens ratifizierte. Also wird schon bald nach Ende des gewählten Zeitabschnitts deutlich, dass nicht nur das politische System die Verantwortung für die Verschleppung der Schweizer Mutterschaftsversicherung trägt. Für die Analyse der Schweizer Entwicklung und den Vergleich mit Deutschland erscheint mir die Begrenzung auf 1919 insofern eher ungünstig, als wichtige Diskussionen, dann in der parlamentarischen Debatte um das Washingtoner Abkommen nach 1920 geführt werden.

Ulla Wikander hat der Auseinandersetzung um die Frage der Arbeiterinnenschutzes und der Frage der Frauenlohnarbeit, der ja auch auf internationalen Kongressen der Frauenbewegung geführt wurde, als aussagekräftiger für die gesellschaftliche Situation von Frauen bezeichnet, aber auch bedeutend kontroverser als die Auseinandersetzung um politischen Rechte.6 Das gilt wohl auch für den Mutterschutz. So weisen denn die historischen Arbeiten zum Mutterschutz, neben der unbestrittenen sozialpolitischen Bedeutung sowohl auf den Zeichencharakter wie auf die politische und ökonomische Bedeutung der Auseinandersetzungen um die gesetzlichen Regelung hin: auf die Ambivalenz des Schutzes, auf Folgen der Gleichsetzung von Schwangerschaft und Krankheit auf die wachsenden Elemente von Kontrolle, Fürsorge und Beratung, die mit der Gesetzgebung verbunden wurde,7 auf die Verstärkung einer geschlechterdifferenten Sozial- und Arbeitsmarkpolitik, die mit dem Mutterschutz verbunden wurden8, auf die Art und Weise wie der Mutterschutz dazu beitrug, Geschlechterhierarchie und Arbeitsmarktsegregation aufrecht zu erhalten und „Geschlecht zu konstruieren“.9 Diese Fragen machen die Thematik auch in geschlechtertheoretischer Beziehung für die Anfänge der gesetzlichen Regelung sehr interessant, sie werden von Karin Hauser aber zu wenig angesprochen.

Anmerkungen:
1 Wikander, Ulla u.a. (Hgg.), Protecting Women. Labor Legislation in Europe, the United States, and Australia, 1880-1920, Urbana 1995.
2 Schmitt, Sabine, Der Arbeiterinnenschutz im deutschen Kaiserreich. Zur Konstruktion der schutzbedürftigen Arbeiterin, Stuttgart 1999, Hausen, Karin, Arbeiterinnenschutz, Mutterschutz und gesetzliche Krankenversicherung im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Zur Funktion von Arbeits- und Sozialrecht für die Normierung und Stabilisierung der Geschlechterverhältnisse, in: Gerhard, Ute (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997.
3 Canning, Kathleen, Languages of Labor and Gender. Female Factory Work in Germany 1850–1914, Ithaka 1996.
4 Neyer, Gerda, Die Entwicklung des Mutterschutzes in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in: Gerhard (wie Anm. 2), S. 744-758.
5 Wecker, Regina; Studer, Brigitte; Sutter Gaby, Die „schutzbedürftige Frau“. Zur Konstruktion von Geschlecht durch Mutterschaftsversicherung, Nachtarbeitsverbot und Sonderschutzgesetzgebung, Zürich 2001.
6 Wikander, Ulla, International Women’s Congresses, 1878-1914. The Controversy over Equality and Special Labour Legislation, in: Eduards, Maud L. u.a. (Hgg.): Rethinking Change. Current Swedish Feminist Research, Uppsala 1992, S. 11-36.
7 Hausen (wie in Anm. 2), S. 731.
8 Neyer (wie in Anm. 4).
9 Wecker (wie in Anm. 5) und Schmitt (wie in Anm. 2)

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