S. V. Kulikov: Die bürokratische Elite Russlands

Titel
Die bürokratische Elite Russlands am Vorabend des Falls der alten Ordnung (1914-1917).


Autor(en)
Kulikov, S. V.
Reihe
Noveischaja rossijskaja istorija. Issledovanija i dokumety 4
Anzahl Seiten
467 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Feest, SFB 640 "Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel", Humboldt-Universität zu Berlin

(russ. Titel: Bjurokratitscheskaja Elita Rossijskoj imperii nakanune padenija starogo porjadka (1914-1917)

Auch Russland hatte zu Beginn des Ersten Weltkriegs seinen „Burgfrieden“. Die Staatsmacht und das ihr kritisch gegenüberstehende Parlament (Duma) begruben ihre Zwistigkeiten und schlossen sich zu einer „heiligen Union“ zusammen, Grenzen zwischen Staatsverwaltung und Parlament lösten sich auf und gesellschaftliche Aktivitäten nahmen zu: ländliche und munizipale Selbstverwaltungen taten sich zum Zentstwo- und Städtebund zusammen und Industrielle gründeten ein Kriegsindustriekomitee. Etwa zweieinhalb Jahre später existierte das Zarenreich nicht mehr. Über die Gründe sind seitdem ganze Bibliotheken verfasst worden.

Nach der neuen Darstellung S. V. Kulikovs, die auf Studien zu seiner Dissertation an der Europäischen Universität St. Petersburg basiert, bergen eben diese zweieinhalb Jahre den Schlüssel zu der alten Frage, was die primären Ursachen für den Untergang des Zarenreichs waren: Waren es gesellschaftliche Widersprüche, Spannungen zwischen Gesellschaft und Staatsmacht oder der desaströse Kriegsverlauf? Nichts von alledem, meint Kulikov. Für ihn war es in erster Linie der Staat selbst, der sich in diesen Jahren sein Grab schaufelte. Die wesentlichen Auseinandersetzungen fanden nicht zwischen der Staatsmacht und einer von ihr entfremdeten Gesellschaft statt, sondern innerhalb der höheren Schichten der Staatsverwaltung. Eine Grundthese des Buches lautet, dass die Revolution von oben kam und die Volksmassen erst spät ergriff.

Diese These allein ist noch nicht so bemerkenswert: Auch sozialhistorisch orientierte Wissenschaftler haben die Rolle der Staatsmacht in diesem Prozess meist als sehr wichtig eingeschätzt. 1 Bemerkenswert ist vielmehr, dass der schwarze Peter nicht der Starrsinnigkeit der alten, sondern der Ungeduld der liberalen Eliten zugeschoben wird und dass diese Argumentation mit einigem Aufwand, aber fast monokausal durchgezogen wird. Kulikov schreibt eine Elitengeschichte, deren Akteure in der obersten Schicht der Staatsbürokratie in St. Petersburg zu finden sind. Unter der „bürokratischen Elite“ versteht Kulikov nicht nur die Beamten des höhereren Dienstes, sondern ebenso Mitglieder der beratenden Organe und technischen Dienste, soweit sie an letzten Entscheidungen beteiligt waren und den politischen Willen der Gruppe ausdrückten. Zuletzt zählt er zu ihr auch Zar Nikolaj II. selbst, an dessen Selbstbezeichnung als „oberster Staatsdiener“ er keinen Zweifel aufkommen lässt. Die „Gesellschaft“ dagegen begreift Kulikov allenfalls als Produkt der Elite, wie er besonders mit der staatlichen Finanzierung unterschiedlichster Gruppierungen nach Kriegsbeginn zu belegen sucht (S. 241ff., 447ff.).

In der Erforschung der Auseinandersetzungen innerhalb der Elite liegt die Stärke der Untersuchung. In eindrucksvoller Fülle werden Erinnerungen, Tagebücher ausgewertet und die Diskurse über Reformen und Parlamentarismus nachvollzogen. Während die Arbeit hier allein schon aufgrund des neuen Materials innovativen Charakter hat, steht allerdings ihre argumentative Stoßrichtung in einem Gegensatz dazu. Bei ihr fühlt man sich manchmal an lang vergangene Zeiten erinnert, als die Fragestellung noch mit einem starken moralischen Impetus lautete: Wer war Schuld an der Revolution? Und die Antwort lautet letztlich ziemlich einseitig: die liberalen Eliten, die nicht bereit waren, auf die Vermittlungsversuche Nikolajs einzugehen.

Letzterer erscheint dann auch in erster Linie als Opfer von Verleumdungen, deren Wirkungen bis heute anhalten. In Absetzung zur herrschenden Meinung sieht Kulikov in Nikolaj den eigentlichen spiritus movens des Burgfriedens, der noch seine Hand zu den Reformern ausstreckte, so lange es ging. Dass die Verlautbarungen des Zaren in eine ganz andere Richtung gingen, ficht Kulikov nicht an. Sie sei doch nur Ausdruck eines „konservativen Rituals“ gewesen, zu dem Nikolaj genötigt gewesen sei, um die orthodoxen Konservativen zu beruhigen. Doch für die adäquate Beurteilung historischer Personen seien „nicht nur ihre Rituale, sondern auch ihre Praktiken“ wichtig (S. 30). Und diese seien beim letzten Zaren ausgesprochen liberal gewesen. Sogar der Hang zum Mystizismus, der ihn schon in den Augen der Zeitgenossen so sehr diskreditieren sollte, sei europäischen Ursprungs gewesen, und der Kult um den Wunderheiler Rasputin nichts anderes, als eine russische Variante des französischen Martinismus’. Eine „konservativ-liberale“ Grundhaltung wird schließlich sogar B. V. Stürmer (Štjurmer) zugestanden, dessen Ehrenrettung Kulikov ein ganzes Kapitel widmet.

Das Schicksal des Zarenreiches entschied sich somit nach Kulikov letztlich in einer Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Richtungen des Liberalismus, gegenüber der äußere Faktoren wie die Versorgungskrise oder Arbeiterstreiks eine nachgeordnete Rolle spielten. Auf der einen Seite standen die Parlamentaristen (unter der Führung des Landwirtschaftsministers A. V. Krivošein), die eine Einschränkung der zarischen Macht über die Gesetzgebung hinaus forderten, auf der anderen die Dualisten (besonders Premierminister I. L. Goremykin und der Zar selbst), die auf dem Boden des 1906 eingeführten konstitutionell-demokratischen Systems standen. Schien zu Kriegsbeginn noch eine Einigung möglich, so kam es bereits Ende 1915 zu einem Bruch mit den Parlamentaristen, die auf ihren Maximalforderungen bestanden. Dass sich Ende 1916 im Streit um Innenminister A. D. Protopopov auch eine Reihe Dualisten gegen den Zaren stellten, war der Anfang vom Ende. Die Polarisierung, die auf die bürokratische Elite übergriff und die durch den Reformprozess angestoßen worden war, machte jede Vermittlung unmöglich. Letztlich scheiterte das Regime an einem Zuviel, nicht an einem Zuwenig an Reform.

Radikale Interpretationen, die sich quer zu den herrschenden Forschungsmeinungen stellen, können wichtige Anregungen für weitere Forschungen geben. Das vorliegende Werk trägt zudem durch die dichte Darstellung der politischen Vorgänge innerhalb der Elite dazu bei, ein differenziertes Bild der Entscheidungsprozesse zu gewinnen. Wenn es aber zur großen Interpretation kommt, macht Kulikov diese Vorteile wieder zunichte. Erstens ist die These, dass Revolutionen von oben beginnen, so neu nicht – das der Einleitung vorangestellte berühmte Tocqueville-Zitat über die Schwierigkeit von Reformen nach langer Unterdrückung zeigt, dass dies dem Autoren auch bewusst ist. Doch sagt dieser Befund nur etwas über die Initialzündung der Unruhen aus, deren Wurzeln einer gründlicheren Analyse bedürfen, und zwar einer Analyse der Lebensbedingungen und deren Interpretationen durch die Bevölkerung, die Kulikov jedoch wenig interessieren. Die Darstellung der Elitenintrigen aber erklärt nicht so viel, wie der Autor annimmt. Sicher ist es instruktiv zu erfahren, was etwa an Gerüchten um die Deutschenfreundlichkeit Stürmers oder den Einfluss der Camarilla um Zarengattin Alexandra Fjodorowna und Rasputin auf die Regierungsbildung wirklich dran war. Um die Geschichte der Revolution zu verstehen, wäre es aber ebenso wichtig zu klären, woher das Misstrauen gegen die Regierung kam, das Ausdruck in Gerüchten über „dunkle Mächte“ fand.

Noch störender wirkt sich aus, dass manche Urteile wie bewusste Umkehrungen althergebrachter Meinungen anmuten. Auf diese Weise der alten Begrifflichkeit verhaftet bieten sie keinen neuen interpretativen Zugriff. Dies zeigt sich besonders deutlich, wenn Kulikov dem Zaren und den Dualisten attestiert, durch ihr „fast unbegrenztes“ Kompromissbestreben eine „höhere Stufe an politischer Reife und Verwestlichung“ als ihre Opponenten bewiesen zu haben, während diese bei aller nach außen getragenen Modernität letztlich Träger einer „patriarchalen, slawisch-asiatischen Mentalität“ geblieben seien (S. 395). Mit solchen Kategorien gelangt man nicht zu einem differenzierten Bild der Geschichte Russlands.

1 Hildermeier, Manfred, Die Russische Revolution 1905-1921, Frankfurt am Main 1989, S. 116, 130f.

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