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Titel
The Imaginary Revolution. Parisian Students and Workers in 1968


Autor(en)
Seidman, Michael
Reihe
International Studies in Social History
Erschienen
New York 2004: Berghahn Books
Anzahl Seiten
310 Seiten
Preis
$ 24.95
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Till Kössler Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Neueste Geschichte

Michael Seidman verfolgt in seiner neuen Studie zum französischen „Mai 1968“ revisionistische Ziele. Er will die bisherige Forschung, der er eine Überschätzung der historischen Bedeutung von „1968“ und eine Verklärung ihrer studentischen Protagonisten vorwirft, in wesentlichen Punkten korrigieren und ihr eine nüchterne Neuinterpretation der vielbeschriebenen Maiereignisse als „basically a french episode with modest consequences“ (S. 282) entgegensetzen.1 Aufbau und Gegenstände der Arbeit beanspruchen keine Originalität. In fünf strikt chronologisch angelegten Kapiteln schildert Seidman Vorläufer der studentischen Proteste bis 1967, die Auseinandersetzungen an der Reformuniversität Nanterre – dem Ausgangsort der französischen 68er Bewegung – zwischen November 1967 und Mai 1968, die spektakulären Pariser Protestereignisse des Mai 1968, die Streikbewegung im Mai und Juni 1968 und schließlich die Domestizierung der Protestwelle durch den französischen Staat. Im Unterschied zu bisherigen Arbeiten widmet er sich allerdings weniger der Genese, Ideologie und Entwicklung der studentischen Avantgarde. Ihn interessieren vor allem die Interaktionen der protestierenden Studenten und Arbeiter mit radikalen Studentengruppen, der Staatsmacht – besonders in Gestalt der Universitäts- und Wohnheimverwaltungen – sowie den etablierten Parteien und Gewerkschaften. Um die dominierende Binnenperspektive der studentischen Protagonisten aufzubrechen, greift er intensiver als die Forschung vor ihm auf die Überlieferung von Staat und Polizei zurück.

Seidman relativiert die Bedeutung des Mai 1968 als sozial- und kulturgeschichtliche Zäsur stark. Demgegenüber hebt er die frühen 60er Jahre als Inkubationszeit eines gesellschaftlichen Wertewandel hervor. In einem instruktiven Kapitel legt er dar, wie schon zwischen 1962 und 1965 die Bewohner der Studentenwohnheimsiedlung in Antony in der Pariser banlieue erfolgreich eine Liberalisierung der nächtlichen Geschlechtertrennung durch Besuchsrestriktionen gegen die staatliche Wohnheimverwaltung durchsetzten. Der französische Staat erwies sich hier wie auch 1968 als durchaus flexibel und reformbereit. Seidmans Studie fügt sich damit in die seit einigen Jahren geübten Kritik an der Denkfigur einer „blockierten“ stagnierenden Gesellschaft in den 60er Jahren ein und betont die Dynamik von Staat und Gesellschaft in der Fünften Republik. Die Proteste von 1968 erscheinen in dieser Perspektive weniger als jugendlicher Aufstand gegen verkrustete Strukturen und mehr als Reaktionen auf Probleme eines rasanten Gesellschaftswandels und des gaullistischen Modernisierungsprogramms mit seinem Schwerpunkt auf technisch-wirtschaftlicher Innovation.

Anders als ihre posthume (Selbst-)Beschreibung nahe legt, sind die Protagonisten der 68er Bewegung in Seidmans Analyse keineswegs Vorreiter einer neuen Zivilgesellschaft, sondern vielmehr überzeugte Revolutionäre mit recht traditioneller marxistischer bzw. anarchistischer Ausrichtung. Die Maiproteste waren für sie nicht bloß eine spielerische, symbolische Infragestellung der herrschenden Ordnung, sondern reale Machtkämpfe. Auf Plakaten des Mai 1968 dominierten entsprechend altlinke, auf die Industriearbeiterschaft als revolutionäres Subjekt bezogene Botschaften, während Fragen individueller Emanzipation kaum thematisiert wurden. Auch die – akribisch aufgelisteten – Sachzerstörungen sowie die intransigente Unterdrückung abweichender Meinungen bilden für Seidman fundamentale Merkmale der radikalen Studentenbewegung, die er ideologisch eher in der Tradition der politischen Kämpfe der 30er Jahre denn als Traditionsbegründer neuer Bürgerlichkeit sieht.

Schließlich bestreitet Seidman die Bedeutung radikal-emanzipatorischer Umgestaltungswünsche als Protestmotivation der Mehrheit von Studenten und Arbeitern. Die Proteste hatten ihren Ursprung vielmehr in handfesten Problemen in den überfüllten Universitäten und in dem Wunsch vieler Arbeiter, an den Errungenschaften der sich entfaltenden Konsumgesellschaft zu partizipieren. Die fragile Koalition zwischen den kleinen Gruppen von Revolutionären und der Mehrheit der Studierenden, die durch das unverhältnismäßig erscheinende polizeiliche Vorgehen gegen studentische Besetzer der Sorbonne Anfang Mai 1968 zustande kam, zerbrach schon am Ende des Monats wieder. Besonders in der Bewertung der Arbeiterproteste wendet sich Seidman gegen vermeintliche romantische Verklärungen. Entgegen der These, weite Teile der Betriebsarbeiter seien gegen ihre Führungen für eine radikale Umgestaltung betrieblicher Machtverhältnisse im Zeichen der autogestion eingetreten, sieht er die größte Streikbewegung der Geschichte Frankreiches hauptsächlich von Konsuminteressen motiviert, wie sie in den dominanten Forderungen nach Lohnerhöhungen und mehr Urlaub zum Ausdruck kamen. Die Arbeiter nutzen dabei geschickt die politischen Differenzen an der Staatsspitze und eine sympathisierende öffentliche Meinung, um ihre Forderungen nach einer stärkeren Beteiligung am Wirtschaftswachstum durchzusetzen. Lediglich eine kleinere Gruppe unterer Funktionäre kämpfte für einen Abbau der hierarchischen Verhältnisse im Betrieb. An einer Übernahme der Betriebe waren nur die wenigsten interessiert. Den Gewerkschaften gelang es deshalb auch rasch, die Kontrolle über die Arbeitskämpfe zu gewinnen und sie in die Bahnen traditioneller Interessenvertretung zu lenken. Berühungspunkte mit radikalisierten Studentengruppen blieben demgegenüber marginal.

Selbst angesichts der massiven Proteste lässt sich nicht von einer Auflösung staatlicher Macht sprechen. Vielmehr gelang es der Regierung, die Staatsorgane zu schützen. Die Gewährleistung der Versorgung der Pariser Bevölkerung mit Lebensmitteln und Benzin sicherte dem Regime die Unterstützung wichtiger Bevölkerungsgruppen. Den berühmten Flug DeGaulles nach Baden-Baden am 29. Mai, oft als Verzweiflungstat angesichts eines unausweichlichen Regimesturzes interpretiert, erklärt Seidman in diesem Zusammenhang als geschickten taktischen Zug. Der Staatspräsident sicherte sich die Loyalität der Armee und erinnerte gleichzeitig die Protestierenden an die Möglichkeit des Einsatzes militärischer Macht zur Niederwerfung der Proteste. Nach dem Ende der Protestwelle stabilisierte DeGaulle das Regime weiter durch eine verhandlungsbereite Reformpolitik auf sozial-katholischer Grundlage. Diese integrative Politik zeigte auch unter den Studenten Wirkung und verhinderte zudem die Entstehung eines wirkmächtigen Linksterrorismus.

Seidman gelingt es immer wieder, durch eine differenzierte Analyse konventionelle Ansichten zu erschüttern und erfrischend provokative Deutungen bekannter Sachverhalte zu geben. Tatsächlich erreicht er eine schlüssige und facettenreiche Interpretation des französischen Mai 1968. Allerdings verdeckt sein bilderstürmerischer Impetus oftmals, dass seine Interpretation sich in vielen Punkten nur in Nuancen vom bisherigen Forschungsstand unterscheidet. So weichen beispielsweise seine Analyse der Krise der französischen Hochschulen, der Bedeutung polizeilicher Repressionen für den Zusammenschluss der Studentenbewegung und der Rolle der Massenmedien für die landesweite Mobilisierung nur wenig von bisherigen Darstellungen ab. Dem Leser, der mit der internationalen Forschung vertraut ist, die seit mehreren Jahren an einer breiteren historischen Kontextualisierung von „1968“ arbeitet, erscheinen zudem viele Erkenntnisse Seidmans weniger revolutionär, als es der Gestus des Buches nahe legt. Besonders seine radikale Umwertung der 68er Bewegung reizt schließlich zum Widerspruch. Lässt sich die Bewegung tatsächlich auf ihre unbezweifelbaren autoritären und antiparlamentarischen Seiten reduzieren? Hier scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen zu sein, zumal Seidman Neuerungen im Bereich der sozialen und kulturellen Praktiken während und nach 1968 eher kursorisch aus der kritischen Außenperspektive der staatlichen Ordnungsorgane beschreibt. Äußerst anregend ist hingegen seine knappe repräsentationshistorische Skizze des Mai 68. Dieser stellt für ihn im Kern einen posthume und kontrafaktische Konstruktion dar, die tiefgreifende Bedürfnisse der Öffentlichkeit nach heroischen Bezugspunkten und revolutionären Zäsuren in der jüngeren Vergangenheit befriedigt und als immer wieder aktualisierbarer Mythos einer jugendlichen Erneuerung Frankreichs die Möglichkeit radikalen Ausbruchs aus je aktuellen Krisen verspricht.

1 Vgl. die wichtigen jüngeren Darstellungen: Ingrid Gilcher-Holtey, „Die Phantasie an die Macht“. Mai 68 in Frankreich, Frankfurt/Main 1995; Kristin Ross, May ´68 and Its Afterlives, Chicago 2002.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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