O.Guyotjeannin (Hg.): La France médiévale

Titel
La France médiévale, IXe-XVe siècle.


Herausgeber
Guyotjeannin, Olivier
Reihe
Atlas de l'histoire de France 1
Erschienen
Anzahl Seiten
103 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Feuchter, Sonderforschungsbereich "Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel", Humboldt-Universität zu Berlin

Das Mittelalter war keine Zeit der Karten, sondern der Listen. Zwar kannte es Weltkarten, doch begann sich erst im 14. und 15. Jahrhundert die kartografische Darstellung auch von partikularen Räumen allmählich zu verbreiten. Zuvor war der übliche Modus der geografischen Repräsentation die Aufzählung von Ortsnamen. Dies entsprach einer noch nicht territorialisierten Raumauffassung und -wirklichkeit: „[…] l’espace du haut Moyen Âge était un vide, un intervalle, empli de lieux et points remarquables“ (S. 10). Erst die Neuzeit sollte die Zeit der Karten werden („le temps des cartes est venu, le théâtre est dressé pour l’âge moderne“, S. 94). Mit diesen Thesen beginnt und endet der neue Atlas „La France médiévale“ und die Reflexion über die Schwierigkeit, mittelalterliche Verhältnisse im Medium der Karte darzustellen, ist als seine besondere Stärke zu bezeichnen.

Vorgelegt hat ihn der Mediävist und Diplomatiker Olivier Guyotjeannin von der Pariser École nationale des Chartes als ersten von drei Bänden eines neuen „Atlas de l’histoire de France“ (Gesamtherausgeber ist Jean Boutier; der moderne und der zeitgenössische Band sollen noch in diesem Jahr folgen). Nach sehr lesenwerten Seiten über Kartografie im Mittelalter (S. 8f.), über die Entwicklung der mediävistischen Kartografie (S. 10f.) und einem einführenden Überblick zur Geschichte des französischen Königtums (S. 12-15) beginnt das eigentliche Kartenwerk. Gegliedert ist es in drei chronologische Abschnitte zum 9./10. Jahrhundert (Des dominations brillantes et lâches, S. 16-27), zum 11.-13. Jahrhundert (Le grand bond en avant, S. 28-57) und zum 14./15. Jahrhundert (Consolidations et crises, S. 58-85) sowie einen kurzen vierten Teil (Inventaire d’une diversité, S. 86-93). Letzterer präsentiert das Mittelalter als Zeit, in der sich die noch heute so spürbaren starken regionalen „Kulturen“ Frankreichs entwickelten. Anhand von Karten zur Sprache, zum Recht und zur Sachkultur, etwa zur je vorherrschenden Dachbedeckung oder zum in der Küche verwendeten Fonds (Butter, Olivenöl oder Schmalz), zeigt Guyotjeannin hier, dass von einer großen dualen Nord-Südteilung, wie sie zumindest das Selbstbild des Landes seit dem 19. Jahrhundert bestimmt, im Mittelalter nicht die Rede sein kann. Es folgen schließlich noch ein Glossar, eine Königsgenealogie, eine Zeittafel, eine hilfreiche kommentierte Bibliografie und ein leider schmales Register.

Die Karten thematisieren in ausgewogenem Verhältnis Herrschaft, Kirche, Wirtschaft, Recht, Kultur, Siedlung und Verkehr vom 9. bis 15. Jahrhundert. Sie beruhen dabei teils auf adaptierten Vorlagen aus historiografischen Werken, teils auch auf nicht-kartenförmigen Daten aus Forschungsarbeiten, die erst für diesen Atlas in Karten umgesetzt wurden. Die Quellen werden stets genannt. Viel Platz nehmen jeweils die kommentierenden Texte ein, in denen der wissenschaftliche Erkenntnisstand in gelungener Verknappung präsentiert wird. Wegen des für einen Atlanten sehr kleinen Formates, das freilich stark zur Erschwinglichkeit des Buches beigetragen haben dürfte, bleibt für die Karten selbst dann allerdings weniger Raum. Entsprechend wenig detailliert geraten sie.

Zu bedauern ist die enge geografische Beschränkung auf das heutige französische Staatsgebiet. Ganze drei Karten gehen auch nur etwas darüber hinaus (16, 27, 75). Der europäische Kontext der Geschichte Frankreichs im Mittelalter kommt schlicht nicht vor. Nicht einmal die Kreuzzüge werden dargestellt, nur die Rekrutierung für die Züge Ludwigs des Heiligen nach Ägypten und Tunesien in Frankreich selbst.

Guyotjeannin konkurriert nur mit einem jüngeren und noch lieferbaren Werk, dem „Atlas de l’histoire de France“ von Réné Rémond (bzw. dessen Mittelalter-Teil, S. 56-113).1 Gegenüber diesem zeichnet er sich vor allem durch die Qualität der Texte und die schon erwähnte methodische Überlegtheit aus. Man vergleiche etwa die Darstellung der französischen Städte im Mittelalter, deren Einwohnerzahl wir nur schätzen können: Während Rémond (S. 86f.) einfach angibt, dass im 13. Jahrhundert Rouen 70.000, Orléans 20.000 und Paris 100.000 Einwohner gehabt hätten, bringt Guyotjeannin einen Absatz über „Les sources de la démographie médiévale“ (S. 59) und präsentiert keine Karte absoluter Größen, sondern das Ergebnis der urbanistischen Mendikanten-Enquête von Jacques le Goff, die die Bedeutung von Städten anhand der Zahl der Bettelordensniederlassungen zu erschließen suchte (S. 41).

Einige Errata fielen bei der Schreibung deutscher Namen auf: So steht „Brülh“ statt richtig Brühl (S. 22), „Bölhau“ statt Böhlau (S. 22 und passim), „Elmsäuser“ statt Elmshäuser (S. 26). Und in die Karte der ersten Konsulate in Südfrankreich (S. 49) haben sich zwei sachliche Fehler eingeschlichen: Das Konsulat von Montauban entstand erst nach 1175, jenes von Toulouse hingegen bereits davor – nicht umgekehrt. Das ändert nichts daran, dass es sich um ein Werk von konziser wissenschaftlicher Qualität handelt, dem eine große Verbreitung zu wünschen ist. Sein geringer Preis wird gewiss dazu beitragen.

Anmerkung:
1 Rémond, Réné, Atlas de l’histoire de France, Paris 1996.

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