Titel
Zwischen Beharrung und Aufbruch. Ravensburg in den Jahren 1810 bis 1847


Autor(en)
Lutz, Alfred
Erschienen
Münster 2005: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
848 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Deinhardt, Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar

Die 1999 mit dem Promotionspreis der Tübinger Geschichtswissenschaftlichen Fakultät ausgezeichnete vorliegende Arbeit beschreibt auf stattlichen 848 Seiten 37 Jahre einer süddeutschen Kleinstadt im Umbruch. Alfred Lutz begann seine Studie in den 1990er-Jahren, als die Stadtgeschichtsforschung für die von Reinhart Koselleck als „Sattelzeit“ bezeichnete Übergangsphase von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft um 1800 eine regelrechte Konjunktur erlebte. Die meisten dieser Forschungen beschäftigten sich mit der Entstehung des modernen Bürgertums.1 Diese Bürgertumsforschung wurde vor allem vom Bielefelder Sonderforschungsbereich unter Hans-Ulrich Wehler und dem Frankfurter Forschungsprojekt um Lothar Gall vorangetrieben.2 Gall hatte sich dabei methodisch dem Bürgertum über die Analyse der städtischen Strukturen angenähert. In jenen Forschungshintergrund ordnet sich Alfred Lutz mit seiner Studie ein.

Während die großen Reichsstädte in der Vergangenheit die deutsche Stadtgeschichtsforschung stark bestimmten, blieb das Interesse für die kleinen Reichsstädte eher begrenzt. Lediglich die Studie von Hans-Werner Hahn zur Reichsstadt Wetzlar fand in der Forschungsdiskussion Beachtung.3 Grundsätzlich gilt die neuzeitliche, süddeutsche Stadtgeschichtsforschung, die sich sogar zu einem Arbeitskreis zusammengeschlossen hat, als ausgesprochen rege.4

Umso mehr muss es verwundern, dass die kleinen süddeutschen Reichsstädte in jener Phase nach Verlust ihrer Reichsunmittelbarkeit bislang kaum durch umfassende Studien untersucht wurden. Es ist also ein Verdienst Lutz’, sich jenes doppelten Wandels von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft und von der Reichs- zur landesherrlichen Stadt angenommen zu haben. Der zeitliche Rahmen seiner Untersuchung erstreckt sich von der Übernahme der Stadt Ravensburg durch das Königreich Württemberg von Bayern 1810 bis zu den Hungersnöten von 1846/47 am Vorabend der Revolution; reichliche Vor- und Rückgriffe eröffnen den Leser/innen jedoch ein viel größeres Zeitpanorama.

Die Studie nähert sich Ravensburg im Vormärz auf verschiedenen Wegen und schlägt auf diese Weise einen weiten Bogen. So untersucht Lutz in einem ersten Kapitel das Verhältnis zum württembergischen Staat, insbesondere zum Herrscherhaus, schildert die desolate Finanzsituation und beschreibt die Transformation von der ehemaligen Reichsstadt zur württembergischen Oberamtsstadt. Dem Bemühen Ravensburgs, sich in das neue Staatengebilde zu integrieren und es zu gestalten, stand die Entwicklung einer diffusen Reichsstadtnostalgie entgegen, die mit den tatsächlichen früheren Verhältnissen wenig gemein hatte, aber gern als Druckmittel eingesetzt wurde. Mit dem Verlust des Reichsstadtstatus, vor allem aber aufgrund der Verschuldung der Stadt und der schwierigen wirtschaftlichen Situation versuchte man, sich als regionales Verwaltungszentrum zu profilieren. Dies scheiterte jedoch. Ravensburg erhielt lediglich den Rang einer Oberamtsstadt.

Neben der Frage der Neuorientierung innerhalb des Staatsgefüges behandelt ein weiterer Teil der Arbeit die Entwicklung der städtischen Verwaltung, die sich zunächst einer Zentralisierung unterwerfen musste, um 1818 kommunale Selbstverwaltungskompetenzen zurückzuerlangen. Durch die Untersuchung der Sozialstruktur des Stadtratpersonals, das sich lange Zeit aus der reichsstädtischen Verwaltung erhielt, werden die klassischen ständischen Beharrungsstrukturen deutlich. Erst allmählich fanden durch das Element der Wahl, insbesondere durch das Kontrollgremium des Bürgerausschusses, dessen Mitglieder in den Stadtrat aufstiegen, liberale Themen und Positionen Eingang in die städtische Verwaltung. Lutz schildert dezidiert den Umgang mit liberalen Kampfthemen wie der Frage der Nebenämter, der Lebenslänglichkeit kommunaler Posten, der Öffentlichkeit der Verhandlungen – Streitpunkte, welche die breite Bevölkerung im süddeutschen Vormärz mobilisieren konnten. Ein eigenes Kapitel widmet er der Diskussion um die Bürgeraufnahme, der auch liberale Geister angesichts der Lasten für die Gemeinde reserviert gegenüberstanden sowie der Ambivalenz gegenüber der vom König 1829 befohlenen Bürgergarde. Nach der Entwaffnung 1810/11, welche den Stolz der ehemals reichsstädtischen Bürger tief gekränkt hatte, war diese Bürgergarde in der Bevölkerung nicht gut angesehen. In diesen Kapiteln zeigt sich die Stärke lokalgeschichtlicher Rückbindung politischer Phänomene in der Forschungsdiskussion um den Gemeindeliberalismus. Dabei verknüpft Lutz die politischen Debatten immer wieder mit dem Namen des Stadtschultheißen und späteren Landtagsabgeordneten Franz von Zwerger, der als Prototyp des liberalen Beamten gelten kann. Als weiteres Streitthema erwies sich die trotz des Übergewichtes der protestantischen Bevölkerung aus der Reichsstadtzeit herübergerettete konfessionelle Parität der städtischen Ämterbesetzung. Bestanden die württembergischen Oberbehörden auf dem Leistungsprinzip, so verteidigte der Stadtrat vehement die konfessionell ausgeglichene Ämterbesetzung als reichsstädtische Errungenschaft zur Wahrung des sozialen Friedens. Zwar konnte sich der Stadtrat in den 1820er-Jahren noch durchsetzen, doch der sich ausbreitende Ultramontanismus des späten Vormärz verhärtete zunehmend die Fronten, zwischen denen die reichsstädtische Idee einer Parität zerrieben wurde.

Als ein wichtiges Untersuchungsobjekt der Bürgertumsforschung gilt die städtische Vereinsentwicklung. Auch Lutz behandelt die Ravensburger Sozietäten, gelangt jedoch über die Schilderung der Eckdaten kaum auf eine analytische Ebene. Die Ausnahme bilden die ausführlichen Schilderungen zum politischen Impetus der Sängerfeste, die auch in Ravensburg stattfanden. Doch wie sich die Ravensburger nur allmählich für das Vereinsleben begeisterten, so lässt sich auch hinsichtlich liberaler Manifestationen wie der Griechen- oder Polenbewegung nur mäßiges Engagement feststellen.

Bereits in der Einleitung ordnet Lutz Ravensburg in jene Gruppe von Städten ein, die von Stagnation und relativer Rückständigkeit bestimmt waren. Diese Wertung ist vor allem durch die Wirtschaftsentwicklung geprägt. Das Bemühen der vom Handwerk dominierten früheren Reichsstadt um eine wirtschaftliche Konsolidierung in der Phase der Frühindustrialisierung ähnelt in vielen Punkten dem anderer Städte. Die Mischung aus einer Politik der Abschließung und dem Aufgreifen neuer Chancen, die der Zollverein und der Eisenbahnbau boten, sowie die privaten Initiativen zur Errichtung von Manufakturen führten allerdings nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Finanzkraft kaum zum Erfolg.

In Lutz’ Darstellung der Ravensburger Stadtgeschichte der Vormärzzeit wird eines der wichtigsten kommunalen Probleme dieser Zeit nicht ausgelassen: das Fürsorgewesen, das durch den Pauperismus vor neue Herausforderungen gestellt wurde. Die Studie konzentriert sich hier vor allem auf das Krisenmanagement während der Hungersnöte 1816/17 und Mitte der 1840er-Jahre. Etwas verloren wirkt das letzte Kapitel der Arbeit zur Entfestigung der Stadt. Es soll das Bemühen um Modernisierung unterstreichen, steht aber etwas unverbunden neben den übrigen Kapiteln.

Die Arbeit von Alfred Lutz ist nicht nur aufgrund des Umfangs respekteinflößend. Auch das der Studie zugrunde liegende umfassende Quellenstudium ist bemerkenswert. Doch scheint es, als habe die fundierte Quellenkenntnis den Autor stellenweise verleitet, sich in der Darstellung lokalgeschichtlicher Details zu verlieren. Den Leser/innen bleibt es an diesen Stellen überlassen, eigene Schlussfolgerungen aus den geschilderten Ereignissen zu ziehen. Die Rezensentin wünschte sich in manchem Kapitel den Vergleich mit anderen Städten der Umgebung, um die Aussagen relativieren zu können. Gleiches gilt für die spärliche Rückkoppelung an die aktuelle Forschungsliteratur.

Nichtsdestoweniger stellt die quellenfundierte Studie einen guten Ausgangspunkt für weitere Forschungen zu den kleineren süddeutschen Reichsstädten in der Sattelzeit dar.

Anmerkungen:
1 Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII-XXVII.
2 Lundgreen, Peter (Hg.), Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986-1997) (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 18), Göttingen 2000; Gall, Lothar (Hg.), Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft (Stadt und Bürgertum 4), München 1993.
3 Hahn, Hans-Werner, Altständisches Bürgertum zwischen Beharrung und Wandel. Wetzlar 1689-1870 (Stadt und Bürgertum 2), München 1991.
4 Der südwestdeutsche Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung publiziert regelmäßig in der Reihe „Stadt in der Geschichte“.

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