I. Stark (Hg.): Elisabeth Charlotte Welskopf

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Titel
Elisabeth Charlotte Welskopf und die Alte Geschichte in der DDR. Beiträge der Konferenz in Halle/Saale


Herausgeber
Stark, Isolde
Erschienen
Stuttgart 2005: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Willing, Marburg

Die Alte Geschichte fristete in der DDR lange Zeit ein Schattendasein. Als Folge des Zweiten Weltkrieges war im Jahr 1955 kein einziger Lehrstuhl mehr besetzt, und auch in den folgenden Dezennien konnte das Fach nur an den Universitäten in Berlin, Halle an der Saale, Jena und Leipzig einigermaßen etabliert werden. Als Zentrum der altertumswissenschaftlichen Forschung in der DDR kristallisierte sich das 1969 eingerichtete "Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie" (ZIAGA) an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften heraus. Nicht zuletzt aufgrund der langjährigen wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen des Marburger Althistorikers Karl Christ darf das Nischenfach seit der Vereinigung beider deutscher Staaten nicht mehr als Terra incognita gelten.1

Zur bedeutendsten Althistorikerin der DDR avancierte Elisabeth Charlotte Welskopf (1901-1979). Als Quereinsteigerin war die überzeugte Antifaschistin und Kommunistin erst Ende der 1940er-Jahre zur Alten Geschichte gekommen, wurde als erste Frau in die Berliner Akademie der Wissenschaften aufgenommen und begründete an der Humboldt-Universität eine liberale marxistische Forschungstradition. Popularität in der DDR erlangte Welskopf aber weniger durch ihr recht überschaubares wissenschaftliches Œuvre, sondern als Kinder- und Jugendbuchautorin. Der wirtschaftliche Erfolg ihrer Indianergeschichten, die sie zu einem weiblichen "Karl May des Ostens" werden ließen, ermöglichten ihr im Verbund mit ihrem politischen Einfluss eine im DDR-Wissenschaftsbetrieb selten anzutreffende Unabhängigkeit.2 Die DDR-Althistorie im Allgemeinen und Elisabeth Charlotte Welskopf im Besonderen standen im Mittelpunkt einer Tagung, die im November 2002 etwa 60 bis 70 Wissenschaftler/innen in Halle an der Saale zusammenführte. Der vorliegende Tagungsband umfasst rund zwei Dutzend kleinere Beiträge und Statements, die nicht immer mit den auf der Tagung gehaltenen Vorträgen identisch sind. Sie behandeln ein weit gespanntes Themenspektrum, das von Fragen der Alten Geschichte im Nationalsozialismus über den Geschichtsunterricht in der DDR und die Diskussion um die "asiatische" Produktionsweise bis zu persönlichen Erinnerungen an Welskopf reicht. Die nachfolgenden Anmerkungen beschränken sich auf die Aufsätze, die die DDR-Althistorie im engeren Sinne betreffen.

Nichts Neues enthält der Beitrag von Wolfgang Schuller über "Inhalte althistorischer Forschung in der DDR", der in der Substanz noch aus "Vor-Wende-Zeiten" stammt.3 Dem Geschichtsbild des Leipziger Althistorikers Rigobert Günther wendet sich Burkhard Meißner zu; er charakterisiert ihn als parteilichen Wissenschaftler/innen im Dienste der SED. Verdienstvoll sind die historischen Rückblicke von Detlef Lotze auf die Alte Geschichte in Jena und von Hans-Dieter Zimmermann auf die Alte Geschichte in Halle. Beide Zeitzeugen ergänzen, präzisieren und korrigieren wo nötig bereits vorliegende Untersuchungen, die aus der Distanz die Entwicklung zu erfassen suchten. Überaus lesenswert sind darüber hinaus die profunden Ausführungen von Hans Kloft zur antiken Wirtschaftsgeschichte in der DDR.

Wilfried Nippel setzt sich im Stile einer ausführlichen Rezension mit der 1957 erschienenen Welskopf-Monografie "Die Produktionsverhältnisse im Alten Orient und in der griechisch-römischen Welt" auseinander. Als Bilanz seiner umfassenden Analyse konstatiert Nippel, das Buch stelle ein "wissenschaftliches Desaster" dar (S. 183). Kurt Raaflaub widmet sich der Untersuchung der "Hellenischen Poleis" (4 Bde.) und den "Sozialen Typenbegriffen im alten Griechenland und ihr Fortleben in den Sprachen der Welt" (7 Bde.), die von Welskopf als internationale und interdisziplinäre Werke herausgegeben bzw. postum veröffentlicht wurden. Weitere Informationen zur Bedeutung von Welskopf liefert die Herausgeberin des Tagungsbandes, Isolde Stark, anhand von Archivmaterialien. Dabei gerät die Sequenz über die Entstehungsgeschichte der "Hellenischen Poleis" zu einer persönlichen Abrechnung mit ihrem früheren Vorgesetzten im ZIAGA, Joachim Herrmann, der mit Lug und Trug versucht habe, das Welskopf-Projekt zu verhindern.4 Allerdings wird aus der Darstellung Starks nicht recht deutlich, warum die "Hellenischen Poleis" trotz des starken Widerstandes der Institutsleitung wenig später erscheinen konnten. Einen weiteren biografischen Beitrag widmet Christian Mileta Heinz Kreißig, dem bedeutendsten Schüler von Welskopf, den er als "Mittler" zwischen verschiedenen Interessengruppen und Hierarchien im DDR-Wissenschaftsbetrieb einstuft. Nachhaltigen Eindruck hinterließ auf der Hallenser Tagung ein Vortrag der langjährigen "Klio"-Redakteurin Gabriele Bockisch, der die politische Repression gegenüber nichtmarxistischen Wissenschaftler/innen an der Leipziger Universität 1957/1958 zum Gegenstand hatte und in dem schwere Vorwürfe gegen den damaligen Aspiranten Rigobert Günther erhoben wurden. Warum der Vortrag von Bockisch unangekündigt in das Tagungsprogramm aufgenommen, aber im vorliegenden Protokollband nicht abgedruckt wurde, kann nur gemutmaßt werden.5

Wie deutlich geworden sein dürfte, fasst der Tagungsband ein Sammelsurium von disparaten Beiträgen unterschiedlichen Niveaus zusammen, bei dem die Person von Welskopf unter Einbeziehung von Anekdotischem überbetont wird, gleichzeitig aber wesentliche Aspekte der althistorischen Entwicklung in der DDR unterbelichtet bleiben. Pars pro toto ist auf die altertumswissenschaftliche Entwicklung an der Berliner Akademie der Wissenschaften hinzuweisen, die mit dem 1955 gegründeten Institut für griechisch-römische Altertumskunde, später dem erwähnten ZIAGA, seinen organisatorischen Ausdruck fand. Auch vermisst man die konsequente Berücksichtigung der Auslandskontakte beispielsweise im Rahmen des "Eirene-Komitees" oder der Internationalen Historikerkongresse. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis zum bundesdeutschen Pendant, etwa anlässlich der Tagungen der "Mommsen-Gesellschaft" oder der Deutschen Historikertage in Ulm 1956 und Trier 1958. Ohne die Berücksichtigung des "historischen Kontextes" von westlichen und östlichen Einflüssen fehlen wesentliche Voraussetzungen zum tieferen Verständnis der DDR-Althistorie.6

Auf die Problematik des Ost-West-Konfliktes geht nur der Beitrag von Elisabeth Herrmann-Otto "Joseph Vogt und die antike Sklavenhaltergesellschaft" näher ein, der sich allerdings nicht auf die DDR, sondern die sowjetische Forschung bezieht. Möglicherweise zu Recht vertritt Herrmann-Otto die Ansicht, der Tübinger Althistoriker Vogt habe das berühmte Sklavereiprojekt der Mainzer Akademie der Wissenschaften 1950 vorrangig aus geistesgeschichtlich-humanistischen, nicht aus antikommunistischen Gründen initiiert. Dass Vogt im Nationalsozialismus zentrale Elemente der NS-Ideologie verbreitete und sieben Jahre zuvor das höchst problematische Gemeinschaftswerk "Rom und Karthago" im Rahmen des "Kriegseinsatzes" der Altertumswissenschaft herausgab, das den "Rassengegensatz" zwischen den antiken Großmächten zur Leitfrage der Forschung erhob, hätte jedoch in diesem Zusammenhang zumindest erwähnt werden sollen.7

Auch wenn der vorliegende Sammelband keinen Meilenstein zur Erforschung der DDR-Althistorie darstellt, ist sein Erscheinen zu begrüßen, da somit die Thematik wieder in das Bewusstsein der Fachöffentlichkeit gerückt wird. Zu bedauern bleibt allerdings, dass das Werk keine marxistischen Sichtweisen widerspiegeln konnte, da ehemalige Vertreter des Historischen Materialismus nicht an der Hallenser Tagung teilnahmen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Christ, Karl, Zur Entwicklung der Alten Geschichte in Deutschland, Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 22 (1971), S. 577-593; Ders., Die Entwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Ders., Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaften, München 1982, S. 311-330 in: Fischer, Alexander; Heydemann, Günther (Hgg.), Geschichtswissenschaft in der DDR, Bd. 2, Berlin 1990, S. 59-80; Schuller, Wolfgang, Alte Geschichte in der DDR. Vorläufige Skizze, in: Fischer, Alexander; Heydemann, Günther (Hgg.), Geschichtswissenschaft in der DDR, Bd. 2, Berlin 1990, S. 37-58; Willing, Matthias, Althistorische Forschung in der DDR, Berlin 1991.
2 Audring, Gert, Humanistin und Forscherin, in: Elisabeth Charlotte Welskopf, Das Altertum 33 (1987), S. 121-124; Jähne, Armin, Elisabeth Charlotte Welskopf (1901-1979). Gedanken zu ihrem 100. Geburtstag, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 53 (2002), S. 119-131.
3 Schuller (wie Anm. 1).
4 "Herrmann erdreistet sich zu lügen", so Isolde Stark (Die Alte Geschichte in Berlin, DDR. Zur Bedeutung von Elisabeth Charlotte Welskopf, S. 229-251, hier S. 247).
5 Wie aus dem Beitrag von Burkhard Meißner (Die Alte Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Anmerkungen zum Geschichtsbild von Rigobert Günther, S. 90-107, hier S. 101, Anm. 37) hervorgeht, war Bockisch offenbar selber negativ in die Vorgänge in Leipzig involviert und hatte die Aberkennung der akademischen Grade für den aus Leipzig vertriebenen Althistoriker Helmut Thierfelder gefordert.
6 Willing, Matthias, Die DDR-Althistorie im historischen Kontext, in: Quaderni di storia 52 (2000), S. 245-275.
7 Zu Vogt vgl. Christ, Karl, Joseph Vogt (1895-1986), in: Ders., Neue Profile der Alten Geschichte, Darmstadt 1990, S. 63-124; Ders., Homo novus. Zum 100. Geburtstag von Joseph Vogt, in: Historia 44 (1995), S. 504-507; Königs, Diemuth, Joseph Vogt. Ein Althistoriker in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Basel 1995.

Kommentare

Von Bockisch, Gabriele19.07.2006

Mein Diskussionsbeitrag, nicht "Vortrag", hatte nicht "die politischen Repression gegenüber nichtmarxistischen Wissenschaftlern an der Leipziger Universität zum Gegenstand", sondern galt vor allem der Erinnerung an Horst Kleinert, der als Marxist und Mitglied der SED Opfer einer unglaublichen Verleumdungskampagne wurde. Die von mir vorgebrachten Fakten beruhen nicht nur auf eigenen Erlebnissen, sondern vor allem auf mir schriftlich vorliegenden Berichten der Zeitzeugen Kleinert, Prachner und Langhammer. Willing vermisst Ankündigung und Abdruck meines "Vortrages" im Tagungsband und beantwortet selbst die Frage mit "warum ... kann nur gemutmaßt werden" in Anm. 5 mit dem Hinweis auf den Beitrag von Burkhard Meißner (S.101, Anm. 37 im Konferenzband): Bockisch war "offenbar selber negativ in die Vorgänge in Leipzig involviert und hatte die Aberkennung der akademischen Grade für den aus Leipzig vertriebenen Althistoriker Helmut Thierfelder gefordert". Willing bemerkt völlig zurecht in der Rezension: "Ohne die Berücksichtigung des 'historischen Kontextes' von westlichen und östlichen Einflüssen fehlen wesentliche Voraussetzungen zum tieferen Verständnis der DDR-Althistorie". Einem Teilaspekt des Kontextes soll diese Erwiderung dienen.

Der genaue Wortlaut der Quelle mit meiner angeblichen Anschuldigung, von der ich selbst erstmalig nach der oben genannten Konferenz durch PD Dr. Stark in Kenntnis gesetzt wurde, wurde in keinem der beiden Beiträge zitiert (Universitätszeitung, Leipzig, 17.04.1958):

"Jetzt und für alle Zukunft: Für Republikverräter kein Platz an der Universität. Der kommissarische Direktor des Instituts für Allgemeine Geschichte und Dozent für Geschichte des Altertums, Helmut Thierfelder, hat unsere Republik illegal verlassen. Die Kollegen des Instituts haben mit Empörung von seinem Verrat Kenntnis genommen. Alle Angehörigen der Abteilung Geschichte des Altertums beantragen, der Rat der Fakultät solle Thierfelder die akademischen Grade eines Dr. phil. und eines Dr. habil. sowie den Titel eines Dozenten aberkennen. 'Im künftigen sozialistischen Hochschulwesen des einheitlichen Deutschlands ist für ihn kein Platz', heißt es im Antrag der Abteilung. Die Redaktion erhielt zahlreiche Schreiben von Angehörigen des Instituts für Allgemeine Geschichte, in denen der Verrat des ehemaligen kommissarischen Direktors scharf verurteilt wird. Asp. Dr. Rigobert Günther: 'Die politisch-moralische Verworfenheit Thierfelders kommt gerade darin bestens zum Ausdruck, daß er in dem Augenblick zum Verräter und Verbrecher wurde, als unser Kampf um den Frieden einen neuen Höhepunkt erreichte. Die Republikflucht Thierfelders erweist sich als eine offene Sympathieerklärung gegenüber den NATO-Kräften, die nach dem Beschluß über die Atomaufrüstung in Westdeutschland das deutsche Volk in einen Atom-Krieg stürzen wollen.' Ass. Sabine Winkler: 'Thierfelder war für Assistenten und Studenten weder fachlich noch etwa gar politisch Vorbild. Es machte ihm nichts aus, im Vorlesungsverzeichnis zehn Stunden Vorlesungen, Seminare und Kolloquien anzugeben, davon aber nur vier Stunden zu halten. Mehr noch: Für seine Studienreise nach Italien, von der er nicht mehr ins Institut zurückgekehrt ist, stellte ihm unser Staat 52 000 Lira zur Verfügung – darüber hinaus nahm er für diese Reise noch 300 DM Vorschuß in Anspruch. Alle Gelder unterschlug er und ist damit nichts anderes als ein gemeiner Verbrecher.' Stud. hist. Gabriele Bockisch: 'Vor allem empört es mich, dass Thierfelder als Hochschullehrer so verantwortungslos, ja direkt gemein handelte, indem er die Studenten, von denen ein großer Teil bei ihm das Staatsexamen oder die Diplomarbeit ablegen wollten, verlassen hat. Durch das Verlassen der DDR hat Thierfelder bewiesen, daß er sich wohl nie seiner großen Verantwortung uns gegenüber bewußt war. Ich schließe mich vollkommen der Forderung an, Thierfelder seine akademischen Grade, deren Erwerbung ihm nur unser Staat ermöglicht hat, abzuerkennen.' Ass. Dr. G. Schrot und Ass. Dr. G. Härtel: 'Die Kollegen des Instituts beantworten Thierfelders Verrat mit der feierlichen Verpflichtung, die Lehr- und Forschungsaufgaben gut zu erfüllen, die gesamte Arbeit noch besser als bisher durchzuführen und noch schärfer als bisher gegen alle Versuche der Desorientierung und der politischen Doppelzüngigkeit vorzugehen. Unser Ziel ist, mit politischer Verantwortung eine Altertumswissenschaft aufzubauen, die der Errichtung des Sozialismus und der marxistischen Erziehung dient.'"

Eine Versammlung der Mitarbeiter und Studenten der Abteilung Geschichte des Altertums hat nie stattgefunden. Allerdings gab es seitens der Genossen offene Verdächtigungen gegen die Sekretärin Margarete Meier und gegen mich, von der Republikflucht Thierfelders gewusst zu haben. Wir stritten alles ab. Auf wiederholte Aufforderungen seitens der Genossen, Thierfelder zu verurteilen oder mit liebenswürdigen Briefen zu Rückkehr zu bewegen, haben weder die sogenannten "bürgerlichen" Mitarbeiter, noch die Studenten der Alten Geschichte reagiert. Die "zahlreichen" Schreiben sind erfunden. Meinen Namen haben die SED-Genossen der Abteilung Alte Geschichte in schamloser Weise missbraucht. Die unter meinen Namen abgedruckten Beschimpfungen meines Lehrers Thierfelder habe ich weder verfasst, noch zur Kenntnis erhalten. Es war ein Versuch, mich durch ein derartiges Elaborat zu isolieren und den festen Freundeskreis der sogenannten "Bürgerlichen und Desorientierten" zu sprengen. Diese bewusste Schädigung meines guten Rufes hat eine Vorgeschichte, in der ich meine Ablehnung der von der SED initiierten Maßnahmen gegen sogenannte "bürgerliche Elemente" allzu deutlich werden ließ.

Seit 1956 hatte Dr. Hellmut Thierfelder als habilitierter Dozent und dienstältester Mitarbeiter der Abteilung für Alte Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig begonnen, diese Abteilung zur Basis eines Zentrums der gesamten altertumswissenschaftlichen Disziplinen auszubauen. Das Lehrangebot war ausgezeichnet, doch aus der Sicht der Genossen kritikwürdig, da gesamtdeutsch konzipiert. Entgegen der oben genannten Anschuldigungen hat Thierfelder stets die von ihm angekündigten Lehrveranstaltung auch abgehalten - da Latinum und Graecum Voraussetzung - mit einem oft kleinen Hörerkreis in seinem Dienstzimmer. Die Situation änderte sich dramatisch 1957/58 nach Niederschlagung des Ungarischen Aufstandes und der darauf folgenden Sicherungsmaßnahmen der DDR. Für die Universitäten bedeuteten diese Maßnahmen die Entfernung aller bürgerlichen Mitarbeiter, es sei denn, sie bekannten sich durch Eintritt in die SED oder eine der Blockparteien zum Aufbau des Sozialismus. Auch Thierfelder wurde vom Parteisekretär des Instituts für Allgemeine Geschichte, Prof. Helmert, assistiert von Schrot, Günther und Winkler agitiert, in die SED einzutreten. Sein Bekenntnis zum Aufbau des Sozialismus sollte mit dem Ordinariat für Alte Geschichte und dem Posten des Direktors des Antiken-Zentrums belohnt werden.

Im Sommer 1957 erfolgten Verhaftung und Verurteilung des evangelischen Studentenpfarrers Schmutzler mit der Anklage "versuchte Störung der Energieversorgung der DDR" (Sonntagsgottesdienste im Braunkohlentagebau vor Ort!). Mit den von der FDJ-Leitung ausgesprochenen Vorwürfen einer "Mittäterschaft" sowie "Studienbummelei" sollte Ingrid Weise, Studentin der Alten Geschichte, von der Universität verwiesen werden. Vor der von Genossen und Mitgliedern der FDJ dominierten Fachschaft des Instituts für Allgemeine Geschichte verlas ich, natürlich erfolglos, mit Wissen und Einverständnis Thierfelders einen Gegenantrag. Ich wurde sofort von meiner Aufgabe als Seminargruppensprecherin "entlastet". Den Posten übernahm ein Genosse, während ich in offener Protesthaltung zu keiner Versammlung mehr erschien, es sei denn, ich wurde zur Teilnahme aufgefordert. Im September 1957 wurde Horst Kleinert, Promotionsstudent und SED-Mitglied, kurz vor Abgabe seiner Dissertation nach einer üblen Denunziation durch die Assistentin Sabine Winkler verhaftet und zu 11 Monaten Gefängnis mit anschließendem Berufsverbot verurteilt. Thierfelder hat vergeblich versucht, sich als Entlastungszeuge zur Verfügung zu stellen und Härtel sowie mich regelrecht aufgefordert, dem Prozess beizuwohnen. Wir wurden Zeugen der Lügen, die Günther und Winkler über Kleinert aussagten, und der vergeblichen Versuche der Sekretärin Margarete Meier, den Angeklagten zu entlasten.

Nach diesen Erlebnissen kehrte Thierfelder von einer Forschungsreise nicht zurück. Da die gesamte Altertumswissenschaft in Leipzig keinen habilitierten Genossen besaß, musste mangels eines geeigneten Leiters der Plan eines Antike-Zentrums aufgegeben werden. Nun gingen die Genossen gegen den Rest der "Bürgerlichen" vor. Prachner schützte zunächst seine österreichische Staatsangehörigkeit. Dem Oberassistenten Dr. Walter Langhammer bereiteten Helmert und Schrot - letzterer nachweisbar als Mitarbeiter der Stasi für die Überwachung der Mitarbeiter der Philosophischen und der Theologischen Fakultät zuständig - in einer Mitarbeiterversammlung des Instituts für Allgemeine Geschichte ein regelrechtes Tribunal. Das Verhaftungskommando - von mir im Sekretariat der Abteilung für Alte Geschichte beobachtet - konnte nicht zugreifen. Die Versammlung wurde abgebrochen, nachdem Langhammer zu erkennen gegeben hatte, dass er von einer NS- und SS-Vergangenheit der Genossen Helmert und Schrot wusste.

Mit der durchaus richtigen Vermutung weiterer Fluchtpläne hat der Parteisekretär die Namen Bockisch und Langhammer bis Ende 1959 auf die Fahndungsliste der DDR setzen lassen, was ich durch besonders intensive Zugkontrollen bei meinen Wochenendfahrten nach Berlin deutlich zu spüren bekam. Wir wären bei Ausweiskontrollen an der Grenze zu Westberlin oder der BRD verhaftet und als "Verräter" verurteilt worden. Also blieben wir in Leipzig. Für mich dachten die Genossen Schrot, Winkler und Günther ein weiteres infames Vorgehen aus. Nach der an Universitäten der DDR üblichen Abschlussbeurteilung, verfasst vom stellvertr. FDJ-Sekretär, war ich ein negatives bürgerliches Element: Mein Abitur am Theresianum war "von Nonnen erzogen", die durchweg sehr guten Benotungen "Strebertum", die Aufnahme eines Zweitfaches "Klassische Archäologie" "Unbescheidenheit". Außerdem hätte ich mich nicht mit "erfahrenen Genossen", sondern mit den "bürgerlichen Hochschullehrern" beraten. Nach dem Studium sollte ich dann im Landwirtschaftsmuseum Neubrandenburg "Bescheidenheit" lernen, was einem Berufsverbot gleichkam.

Nach der Flucht meines Betreuers Thierfelder war ich in einer schwierigen Situation. Ich musste nun meine Examina bei den Genossen abzulegen, die mich zu den "bürgerlichen Elementen" zählten. Die mir zustehende Studienverlängerung wegen Zweitfachbelegung konnte ich nach einem vertraulichen Gespräch mit Prof. Herbert Koch, Ordinarius für Klassische Archäologie, nicht in Anspruch nehmen. Noch im August 1958 hat Koch die DDR mit seiner Familie verlassen. Trotz negativer politischer Beurteilung wurde ich im Oktober 1958 auf Fürsprache von Prof. E. Welskopf und dem Epigraphiker Prof. Günther Klaffenbach am Institut für Altertumskunde der damals noch Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin angestellt Mit Langhammer und Prachner, die Anfang 1959 die DDR verließen, sowie mit Thierfelder blieb ich weiter in engem freundschaftlichen Kontakt. Unklar bleibt, warum niemand von uns das anfangs zitierte Exemplar der Universitätszeitung-Leipzig mit dem unter meinem Namen veröffentlichten, jedoch von mir nicht verfassten Verdikt gegen Thierfelder kannte. Weitere Informationen erhoffe ich von einer Akteneinsicht im Universitätsarchiv Leipzig.


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