Cover
Titel
La mémoire et l'ecrit. L'abbaye de Cluny et ses archives (Xe-XVIIIe siècle)


Autor(en)
Barret, Sébastien
Reihe
Vita regularis 19
Erschienen
Münster 2004: LIT Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 45,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julian Führer, Historisches Seminar, Universität Zürich

Wenn eine Studie sich das im 10. Jahrhundert gegründete Kloster Cluny zum Thema wählt, bedarf dies einer guten Begründung. Sébastien Barret, der mit diesem Buch über das Archiv des Klosters im Jahr 2001 promoviert wurde, wählt einen Ansatz, der eine erneute Beschäftigung mit Cluny durchaus rechtfertigt. Sein Ziel ist es, die Behandlung der vorhandenen Überlieferung in Cluny selbst von den ersten Spuren bis zur Französischen Revolution nachzuzeichnen. Die Arbeit entstand an der Technischen Universität in Dresden und an der École Pratique des Hautes Études in Paris als Co-Tutelle bei Gert Melville und Jean Vezin. Der Verfasser ist obendrein Absolvent der École nationale des Chartes in Paris. Damit sind die besten Voraussetzungen gegeben für dieses Thema, das verschiedene Forschungsgebiete wie Institutionengeschichte und Archivgeschichte verbindet.

Das Urkundenbuch von Cluny liegt für die Zeit bis 1300 gedruckt vor, ebenso die Akten der Generalkapitel.1 Die Editionen vermitteln allerdings kaum einen Eindruck davon, wie das Schriftgut im Kloster selbst geordnet und benutzt wurde. Die Ausgabe von Bernard und Bruel bietet die etwa 5.600 Urkunden in chronologischer Reihenfolge, was zwar für den heutigen Benutzer günstig ist, aber nicht den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ordnungsprinzipien entspricht, bei denen meist entweder der Aussteller oder die geografische Pertinenz im Vordergrund standen. Zu Klosterarchiven ist mitunter bereits gearbeitet worden2, jedoch unterscheidet sich Barrets institutionengeschichtlicher Zugriff hiervon deutlich, da es ihm nicht um den Besitz des Klosters, sondern um die Organisation der Überlieferung geht.

Barret legt seine methodischen Prämissen dar, unter denen er sich dem Thema nähert (S. 9-37), bevor er seine Quellen präsentiert, vor allem Originale und Chartulare aus verschiedenen Jahrhunderten. So ist unter anderem zu klären, was eigentlich ein Archiv ist, zumal im Französischen eher der Plural „les archives“ benutzt wird (S. 17). Überlieferung kann zufällig oder intentional sein; die Aufbewahrung hat eine rechtliche und eine memoriale Funktion, wie anhand des Aufbewahrungsortes, von Dorsualnotizen oder von immer wieder angefertigten Abschriften gezeigt wird. An dieser etwas ungewöhnlichen Stelle befindet sich auch das Literaturverzeichnis (S. 58-88).

Unter den Kopialbüchern ragen die Chartulare A-C heraus, die wahrscheinlich Ende des 11. Jahrhunderts entstanden sind, und zwar zunächst zu der Zeit, als Odo von Châtillon Mönch in Cluny war, und dann wieder um 1095/1096, als dieser Odo als Papst Urban II. wieder in Cluny weilte (S. 109, 142). Damit fällt diese Zeit der Organisation und Sicherung der Überlieferung in den Abbatiat Hugos von Semur, der schon oft als Meilenstein in der Geschichte des Klosterverbands angesehen wurde.3 Hier wird deutlich, wie stark die Organisation der Bestände mit externen Faktoren zusammenhängt. Den Chartularen werden Prologe vorangestellt, die die Intention des Ordnens und Abschreibens deutlich werden lassen; sprachlich ungelenke Stücke des 10. Jahrhunderts werden geglättet (S. 117). Diese Kopialbücher sind nicht nur Abschriften minderer Güte, selbst wenn das Original noch vorhanden sein sollte. Sie werden bei den hier verfolgten Fragestellungen zu Quellen, bei denen die Eingriffe in den Text der Originale besonders aussagekräftig werden (zu den Chartularen D und E vgl. S. 247-287).

Die Geschichte Clunys nach dem Tod des Abtes Petrus Venerabilis im Jahr 1156 ist zu lange als Niedergang angesehen worden. Cluny, so Barret, verfestigt den Verband, man beobachtet gerade am Archiv einen Prozess der Institutionalisierung, der sich etwa an den fast durchgängigen Dorsualnotizen auf den Originalurkunden ab dem 13. Jahrhundert zeigen lasse. Ein besonderer Akzent wird auf die Zeit 1450-1550 gelegt, als auf den Generalkapiteln die Rolle des Mutterklosters betont und eine Inventarisierung der Bestände in den Filialen gefordert wurde – „et inventorier, c’est déjà contrôler“ (S. 180). Die Originale sollen gemäß Beschluss von 1506 an die Zentrale gehen, die Filialen können Abschriften behalten. Da in Rechtsstreitigkeiten das Original erforderlich war, wird auf diesem Wege die Bindung an die Zentrale verstärkt und der Verband gefestigt.

Das Chartular E enthält eine Ordinatio privilegiorum, in der die Lage des Archivs in einem Turm der Abteikirche Cluny III (S. 230) beschrieben wird. Es gibt Truhen, Kisten etc., bestimmte Urkunden werden besonders geschützt. Die Deponierung der Archivalien in diesem Turm ist wahrscheinlich ab dem 14. Jahrhundert erfolgt. Auf der Basis der Quellen beschreibt Barret in einer Art virtuellen Führung das Archiv, wie es sich dem Betrachter dargeboten haben dürfte (S. 234f.).

Es muss noch eine Vielzahl weiterer Chartulare existiert haben, wie aus den Beschreibungen des Anwalts Louis-Henri Lambert de Barive deutlich wird, der im 18. Jahrhundert im cluniazensischen Archiv gearbeitet hat. Im Auftrag des Cabinet des chartes fertigte er etwa 5.000 Abschriften von Urkunden an, die in die Collection Moreau der Bibliothèque nationale de France eingegangen sind (S. 357). Zu dieser Zeit befanden sich die historischen Bestände immer noch in dem besagten Turm; das aktuell bedeutsame Schriftgut allerdings wurde offenbar an anderer Stelle verwahrt, wie allein schon die aufreibende Prozedur der Schlüsselbeschaffung deutlich macht (S. 402). Inzwischen war im 17. Jahrhundert auch durch Claude Loquet ein Inventar der Rechtstitel angefertigt worden (Grand inventaire des titres de Cluny). Mehrere Anhänge beschließen den Band: Chartularprologe, die Ordinatio privilegiorum des 15. Jahrhunderts, ein Nachweis über die Aufbewahrung von Visitationsprotokollen aus dem 16. Jahrhundert und eine Beschreibung des Archivs aus dem 18. Jahrhundert durch Lambert de Barive. Am Ende finden sich ein gründliches Register und einige Schriftproben in Abbildung, die jedoch wahrscheinlich aufgrund mangelhafter Qualität der Reproduktionsvorlage der Bibliothèque nationale leider unscharf und damit unbrauchbar sind.

In der Studie fällt die große Quellennähe auf, die mitunter jedoch dazu führt, dass sich lateinisches Zitat an lateinisches Zitat reiht, ohne dass auf diese besonders ausführlich eingegangen würde. Weiterhin ist zu bemerken, dass einige Schreibfehler stehen geblieben sind. Sébastien Barret hat mit diesem Buch einen neuen Weg beschritten, indem er gleichermaßen für das Mittelalter wie für die Frühe Neuzeit einen wichtigen Einblick in die Organisation von Wissen und Schriftlichkeit innerhalb eines Klosters liefert. Umso interessanter wird dies dadurch, dass für Cluny auch das Zusammenwirken von Zentrum und Peripherie beachtet wird, also das Verhältnis des Mutterklosters zu den unzähligen Prioraten. Die Zentrale steht allerdings deutlich im Vordergrund. Dem Buch ist eine weite Verbreitung zu wünschen, wie überhaupt eine stärkere Rezeption der französischsprachigen Forschungen gerade zu Chartularen angebracht ist.

Anmerkungen:
1 Recueil des chartes de l’abbaye de Cluny, formé par Alexandre Bernard, complété, révisé et publié par Alexandre Bruel, 6 Bde., Paris 1876-1903; Statuts, chapitres généraux et visites de l’ordre de Cluny, éd. Gaston Charvin, 9 Bde., Paris 1965-1982.
2 Vgl. nur Schoebel, Martin, Archiv und Besitz der Abtei St. Viktor in Paris, Bonn 1991.
3 Kohnle, Armin, Abt Hugo von Cluny (1049-1109), Sigmaringen 1993.

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