E.-M. Becker u.a. (Hgg.): Biographie und Persönlichkeit des Paulus

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Titel
Biographie und Persönlichkeit des Paulus.


Herausgeber
Becker, Eve-Marie; Pilhofer, Peter
Reihe
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 187
Erschienen
Tübingen 2005: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
VIII, 392 S.
Preis
€ 94,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paul Metzger, Seminar für Neues Testament, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Eine Frage stellt sich den gespannten Lesern/innen ob des Themas des hier anzuzeigenden Bandes "Biographie und Persönlichkeit des Paulus" sofort: Wie war Paulus wohl persönlich?
Antwort: vielleicht ein bisschen nervös, eingeschränkt aggressiv, nicht besonders depressiv, zum Teil erregbar, durchaus gesellig, meist gelassen, mitunter dominant, nicht gehemmt, ziemlich offen, etwas narzisstisch, unverhältnismäßig auf Leistung und Arbeit achtend, stark Über-Ich-orientiert, aber immerhin: "Eine Persönlichkeitsstörung von klinischer Relevanz lässt sich für Paulus mithin sicher ausschließen." (Göttel-Leypold/Demling, S. 142). So beruhigt, lässt sich ein genauerer Blick auf den Band werfen. Er versammelt Vorträge, die bei einem neutestamentlichen Kolloquium am 21. und 22. Oktober 2004 anlässlich des 60. Geburtstags von Oda Wischmeyer in Erlangen gehalten wurden. Auf Idee und Initiative von Eve-Marie Becker sollten die Teilnehmer Biografie und Persönlichkeit des Paulus untersuchen, wobei sich einige eher der Forschungsgeschichte gewidmet haben, andere vor allem der Biografie und Rezeption des Paulus. Eine Einführung in die Thematik von Walter Sparn und ein meditativer Ausblick von Gunda Schneider-Flume runden den Band ab.

In einer kurzen Einleitung (Biographie und Person des Paulus. Einführende Überlegungen) stellt Eve-Marie Becker treffend fest, dass die Biografie des Paulus bereits seit den Anfängen der historisch-kritischen Erforschung des Neuen Testaments ein bedeutendes Thema ist. Autobiografische Passagen sollen trotzdem nochmals darauf hin untersucht werden, welche Persönlichkeit Paulus war. Zu fragen sei demnach: "Wer ist die 'Person' Paulus hinter seinen Briefen?" (S. 6) So soll der Forschung zunächst in historischer Perspektive ein neues Feld eröffnet werden, das einen "Einblick in den 'Menschen' Paulus" (S. 6) gewähren soll. Sodann sollen neue Einsichten für die Anthropologie gewonnen werden, so dass gesehen werde, "ob und wie ein möglicher Typus 'Paulus' auf die Geschichte des christlichen Menschenbildes oder auf die Geistesgeschichte christlicher Personen oder 'Persönlichkeiten' allgemein eingewirkt" (S. 6) habe. Damit ist die Zielsetzung des Bandes formuliert. Dass hiermit aber der Paulusforschung ein neues Gebiet erschlossen wird (S. 6), ist zu bezweifeln.

Bevor sich im ersten Abschnitt des Bandes Otto Merk (Paulus als Persönlichkeit in der Religionsgeschichtlichen Schule) und Alexander J. M. Wedderburn (Eine neuere Paulusperspektive?) mit der Forschungsgeschichte zum Thema befassen, bemüht sich Walter Sparn (Einführung in die Thematik) zunächst, dieses systematisch zu reflektieren und zu profilieren. Dabei gibt er einen Überblick über die Bedeutung von "Persönlichkeit" und fragt zu Recht, ob dieser überhaupt auf Paulus angewendet werden kann, da er ein spezifisch neuzeitlicher Terminus sei (S. 10). Er schlägt deshalb vor, den Begriff "Persönlichkeit" durch den des "Charakters" zu ersetzen (was keiner der folgenden Aufsätze aufnimmt) und diesen phänomenologisch zu bestimmen (S. 19). Er mahnt in diesem Zusammenhang die neutestamentliche Wissenschaft, die religionspsychologischen Auswirkungen einer Konversion zu bedenken (S. 21) und damit zum Teil die Lücken im Leben des Paulus im Hinblick auf dessen religiösen Charakter zu füllen (S. 27). Diesen bestimmt er abschließend recht vorsichtig mit dem Hinweis auf die Frömmigkeit des Apostels (S. 28). Die oben skizzierte Charakteristik des Paulus wäre demnach durch "fromm" zu ergänzen.

Merk bewältigt sein Thema in einer lesenswerten Darstellung mit kluger Beurteilung. Er zeigt, dass zum Thema der Persönlichkeit des Paulus die Religionsgeschichtliche Schule schon Wesentliches geleistet hat. Sowohl was die Grenzen der Frage als auch ihre Möglichkeiten angehen, haben Wrede und Bousset herausgearbeitet, dass Paulus nicht unbedingt liebenswürdig gewesen sein muss (vgl. S. 39). A. J. M. Wedderburn diskutiert in erster Linie die Kritik J. G. Gagers an der neuen Paulusperspektive, wie sie von J. D. G. Dunn und E. P. Sanders etabliert wurde. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass sowohl die traditionelle Paulusexegese wie auch die neue und die "neuere" von Gager jeweils gute Argumente auf ihrer Seiten haben, was an der Vielschichtigkeit des Paulus selbst liege (S. 63). Er endet mit der Feststellung, dass Paulus' Bild vom Judentum durch seine Erfahrungen geprägt gewesen sei, was kaum überrascht (S. 64). Dieser Aufsatz ist zwar für die Paulusforschung insgesamt interessant, weist aber mit dem Thema des Bandes kaum Berührungen auf.

In einem zweiten großen Abschnitt wird das Thema "Autobiographie und Person" behandelt. Eve-Marie Becker (Autobiographisches bei Paulus) eröffnet ihn, indem sie autobiografische Texte des Paulus "als historische Nachrichten auswerten", sie in ihrer "literarischen Bedeutung" bestimmen und nach der "Konstituierung paulinischer Individualität und Personalität" befragen will. Dabei kommt sie zu einem Ergebnis, das niemanden überraschen wird: "Biographie und Theologie bzw. Autobiographie und apostolisches Selbstverständnis einerseits und Christologie andererseits bilden einen gemeinsamen Deutungshorizont." (S. 86) Es scheint, als lasse Becker bewusst die angezeigten Fragen offen, um weitere anzuschließen: "Inwieweit ist die paulinische Selbst-Bezeichnung als 'Apostel Jesu Christi' ein zunächst fiktives Moment paulinischer Selbst-Wahrnehmung und Selbstdarstellung, d.h. ein zentraler Aspekt des von Paulus in seinen Briefen selbst geschaffenen und literarisch gestalteten Charakters?" (S. 87). So endet der Beitrag und lässt die LeserInnen etwas ratlos zurück.

Oda Wischmeyer (Paulus als Ich-Erzähler) versucht nun, einige der Texte, die Becker zusammengestellt, aber nicht ausgewertet hat, "als Beitrag zur Person und zur Theologie des Paulus" (S. 89) zu interpretieren. Unter Beachtung moderner Erzähl- und antiker Rhetorikforschung erklärt Wischmeyer, dass selbst wenn Paulus von sich spreche, er trotzdem niemals sein eigenes Leben thematisieren wolle (S. 103): "Er argumentiert lediglich mit seiner Person." (S. 104) Wenn Paulus also nichts über sein Leben an sich berichten will und nur im Zusammenhang seiner theologischen Argumentation Aussagen über sich macht, ist fraglich, ob eine Persönlichkeit des Paulus überhaupt zu konstruieren ist; es sei denn, seine Texte sollen bewusst gegen ihre Intention gelesen werden. Im Anschluss greift Lukas Bormann (Autobiographische Fiktionalität bei Paulus) dieses Problem auf. Er untersucht, wie die Persönlichkeit des Paulus entworfen werden kann, wenn vorauszusetzen ist, dass die autobiografischen Texte - wie von Wischmeyer gezeigt - rhetorisch funktionalisiert sind. Nochmals zählt er dabei die Texte auf, die Becker zusammengestellt hat und kommt zu dem eine neue Aufgabe aufwerfenden Ergebnis, dass in den paulinischen Texten eine "Selbstbehauptung des Ichs" zu erkennen ist, "deren angemessener Platz […] von der Autobiographieforschung noch zu bestimmen ist". Damit mahnt der Aufsatz bei der Bestimmung der paulinischen Persönlichkeit eine große Vorsicht an.

Wesentlich zuversichtlicher gehen die eingangs schon zitierten Psychologen Monika Göttel-Leypold und Joachim Demling (Die Persönlichkeitsstruktur des Paulus nach seinen Selbstzeugnissen) vor. Sie legen "psychologische und psychopathologisch-psychiatrische Untersuchungsinstrumente […] an die Selbstzeugnisse des Paulus" an und meinen, so "charakteristische Eigenschaften […] der dahinter stehenden Persönlichkeit näher" (S. 125) erfassen zu können. In ihrem recht kurzweilig zu lesenden Aufsatz kommen sie dabei zu dem oben vorweggenommenen Ergebnis, dass Paulus nicht ernsthaft gestört war (S. 146). Nach diesem eher amüsant anmutenden Einblick in die Psyche einer vor fast 2000 Jahren verstorbenen Person, von der wir allenfalls sieben echte Briefe kennen, entdeckt François Vouga in seinem Beitrag "Personalität und Identität bei Paulus" den Humor der Selbstdistanzierung bei Paulus, den er auch schon in seinem Buch zur Kirche dargelegt hat.1 Da sich in Christus der Mensch praktisch so betrachten könne, wie er wirklich sei, ohne davon belastet zu werden, könne er über sich selbst lachen. Lachen sei demnach "kritische, entmythologisierende, befreite und befreiende, manchmal auch therapeutische Selbstbetrachtung in der Freiheit des Evangeliums" (S. 165). Paulus dürfte demnach auch Humor gehabt haben.

In einem dritten Teil (Biographie und Person) untersucht Anna Maria Schwemer "Die Auswirkungen der Verfolgung durch Agrippa I. auf die paulinische Mission". Sie weist darauf hin, dass die frühen Christen in ständiger Gefahr schwebten, denunziert zu werden (S. 175), und kommt zu dem mir nicht zwingend erscheinenden Ergebnis, dass für die paulinische Auseinandersetzung mit judenchristlichen Gegnern die "Agrippaverfolgung im Grunde die Weichen gestellt" (S. 190) habe. Jörg Frey (Paulus und die Apostel) greift in seinem Beitrag ein Thema auf, das er bereits früher behandelt hat.2 Er stellt das Verhältnis von Paulus zu den anderen Aposteln in historischer Perspektive dar. Zunächst sei Paulus "Apostel" der antiochenischen Gemeinde gewesen, was lediglich einen missionarischen Gesandten bezeichnet habe (S. 197). Erst beim Apostelkonvent sei der Begriff präzisiert und theologisch aufgeladen worden (S. 209). Seine Autorität als Apostel habe er dann spätestens seit dem antiochenischen Zwischenfall durch die Erscheinung Jesu vor Damaskus begründet (S. 210). Sein Verhältnis zu den anderen Aposteln sei distanziert gewesen (S. 221), obwohl sich beispielsweise Petrus und Paulus theologisch nahe gestanden hätten (S. 224). Insofern bleibe das Verhältnis des Heidenapostels zu den anderen kritisch und münde schließlich in eine ungelöste Krise (S. 226).

Gerd Theißen (Paulus - der Unglücksstifter) stellt Paulus als einen Menschen dar, der zwar das Gute wollte, aber dabei oft Unheil für sich und andere heraufbeschwor. Theißen gesteht wohltuend zu, dass er in diesem Beitrag eine "historisch-kriminalistische" Methode verfolge, die allein auf Rückschlüssen und Indizien beruhe. Folgt man seiner Kombinationsgabe, entfaltet er eine durchaus schlüssige und gut zu lesende Kriminalgeschichte - mehr aber auch nicht. So schließt er etwa: Da Paulus in Jerusalem verhaftet worden sei, würden "wenige Zeit später […] Judenchristen in Jerusalem als vermeintliche Gesetzesbrecher hingerichtet" (S. 238). Außerdem sei "Nero durch die Appellation des Paulus auf die Christen aufmerksam geworden", weshalb er "später auf den Gedanken kommen konnte, den Verdacht der Brandstiftung auf sie abzulenken" (S. 242). Insofern habe Paulus zwei Gemeinden durch seine rigorose theologische Haltung ins Verderben gestürzt: die Jerusalemer Urgemeinde und die römische. Nach Theißens Kurzkrimi behandelt Udo Schnelle in seinem Beitrag "Paulus und das Gesetz" ein altes "ideologische[s] Schlachtfeld […] der Paulusexegese" (S. 245), das er selbst bereits des Öfteren bearbeitet und dabei das folgende Ergebnis schon mehrmals dargelegt hat.3 Er führt aus, dass das Gesetz für Paulus zum Problem wurde, weil er vor Damaskus "eine externe Transzendenzerfahrung" gemacht habe, "die eine neue Identität" (S. 254) begründet habe. Aus dieser Erfahrung heraus habe Paulus seine Welt neu gedeutet und dabei auch das Gesetz kritisch sehen gelernt. Erst im Galaterbrief habe er dann die Form der Rechtfertigungslehre entwickelt, die später für Luther und die klassische Paulusexegese maßgeblich geworden sei (S. 263).

Bernhard Heininger (Paulus als Wundertäter nach der Apostelgeschichte) führt Paulus in den "Dunstkreis der Magie" (S. 271) ein. Er kritisiert zunächst, dass Exegeten in der Regel die Wunder des Paulus unbeachtet lassen, und will die Apostelgeschichte darauf hin untersuchen, wie sie den Wundertäter Paulus zeichnet. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Lukas seinen Helden "auf Distanz zur Magie" halte (S. 286). Dies tue er mit der Absicht, Paulus in römischen Augen unverdächtig erscheinen zu lassen, da magische Praktiken zur Zeit des Lukas "in der Wahrnehmung des römischen Staates einen Straftatbestand" darstellten (S. 290). Auf die Frage, wie theologisch mit dem Befund der paulinischen Wundertaten umgegangen werden solle, antwortet Heininger, indem er G.G. Márquez's Roman "100 Jahre Einsamkeit" als literarische Antwort heranzieht, weil er nach eigener Auskunft keine theologische geben kann (S. 291). Dass dies unbefriedigend ist, müsste er selbst bemerkt haben.

Der vierte Abschnitt des Bandes beschäftigt sich mit der "Rezeption von Person und Werk" des Paulus. Zunächst beschreibt Hanns Christof Brennecke die "Anfänge der Paulus-Verehrung". Nach einer recht langen Vorrede, in der er feststellt, dass jedes antike oder moderne Paulusbild sein Recht hat (S. 299), widmet er sich den Acta Pauli. An dieser Schrift interessiert ihn vor allem, wie durch die Paulusrezeption eine "Normierung christlichen Lebens" (S. 300, 305) erstrebt worden sei. Carola Jäggi untersucht im Anschluss "Archäologische Zeugnisse für die Anfänge der Paulus-Verehrung", was nach ihrer Auskunft keineswegs ein banales Thema sei (S. 306), und kommt zunächst zu dem ernüchternden Ergebnis, dass weder in der Heimatstadt des Paulus, Tarsus, noch in seinen späteren Wirkungsstätten Spuren zu finden sind. Allein in Rom sei eine Verehrung festzustellen, die später in den Bau der Basilika St. Paul vor den Mauern gemündet sei. Allerdings sei dieser Bau lediglich aus machtpolitischen Erwägungen initiiert worden, nicht aus theologischer Verehrung (S. 321f.). Im letzten Beitrag dieses Abschnittes betrachtet Wolfgang Wischmeyer (Paulus und Augustin) die Rezeption des Heidenapostels durch den berühmten Kirchenvater im Streit mit Julian von Aeclanum. Er beschreibt dabei den Konflikt um die richtige Auslegung der neutestamentlichen Texte, die Alternative zwischen paulinischer Dialektik und philosophischer Logik (S. 327).

Ein "Meditativer Ausblick", in dem Gunda Schneider-Flume "Zur Frage nach dem christlichen Menschenbild" Stellung nimmt, beschließt den Band. Sie fragt, ob sich in der Persönlichkeit des Paulus "ein christliches Menschenbild" zeige (S. 347). Diese unscharfe Frage präzisiert sie aber sogleich, wenn sie als Grundfrage ihres Beitrag formuliert: "Was kann man sagen, was muss man sagen, wenn man vom Menschen im Kontext des christlichen Glaubens, im Kontext der biblischen Tradition spricht?" (S. 350). Damit nimmt sie die eingangs von Becker gestellte Frage, ob Paulus als Typ auf eine christliche Anthropologie eingewirkt habe, wohlweislich nicht auf, sondern untersucht die unterschiedlichen Perspektiven, in denen die Bibel vom Menschen spricht. Dass sie schließlich auf eine kurze Skizze christlicher Anthropologie verzichtet, ist innerhalb des Duktus des Aufsatzes zwar verständlich, bleibt aber doch bedauerlich. Allerdings formuliert sie m.E. mit Paulus doch das Wesentliche der christlichen Sicht auf den Menschen. Diese muss "auf Christus verweis[en], durch den Menschen neu werden" (S. 363). Eine lyrische Zusammenfassung ihrer Gedanken beschließt den Beitrag. Erschlossen wird der Band durch ein Stellen- und ein Personen- und Sachenregister, wobei nicht ganz deutlich ist, unter welchem Kriterium "Person" gefasst wird. (Muss ein Autor verstorben sein, um zu einer "Person" zu werden?) Ein Register moderner AutorInnen fehlt, wäre aber wünschenswert.

Eine Gesamtsicht des Bandes fällt schwer: Wenn ich von den Problemen absehe, die die einzelnen psychologischen Modelle, die auf die paulinischen Texte angewandt werden, in sich selbst bergen, dann bleiben zwei dezidiert neutestamentliche Anfragen bestehen. Zum einen liegt die erste in der spärlichen Quellenlage begründet. So gestehen alle AutorInnen zu, dass selbst ein Lebenslauf des Paulus kaum hinreichend und sicher zu erstellen ist. Weder Geburtsort und -zeit, noch die Orte seines Lebens und Lernens sind eindeutig zu bestimmen. Wir wissen nicht mit Sicherheit, wo er gewirkt, wo er seine Briefe verfasst hat und an wen. Wir wissen nicht einmal, wie viele Briefe er geschrieben hat und ob einige kompiliert wurden (2. Kor). Wir haben keine absolut verlässlichen Quellen über ihn. Manche AutorInnen (Wischmeyer, Bormann) arbeiten sogar dezidiert heraus, dass Paulus keine Autobiografie schreiben wollte, sondern sich selbst bewusst zurücknahm und nur von sich sprach, um sein theologisches Anliegen zu erreichen. Er scheint sich der angelegten Fragestellung also selbst zu entziehen. Deshalb ist m.E. die Frage mehr als angebracht, ob es einen Sinn ergibt, angesichts solch dürftiger Quellenlage die Erforschung der Persönlichkeit bzw. des Charakters des Paulus mit der Aussicht auf Erfolg anzugehen. Zuviel obliegt in diesem Zusammenhang für mein Empfinden der Spekulation.

Ein zweites Problem stellt sich in theologischer Hinsicht. Selbst wenn man den Charakter des Paulus eruieren könnte, welche Bedeutung müsste man ihm dann hinsichtlich seiner Theologie beimissen. Würde diese Einsicht den Sinn der Texte erhellen? Würde er ihre theologische Aussage bestimmen, vielleicht sogar eine theologische Bewertung fordern? Drastisch formuliert: Dürfte man die paulinischen Texte außer Acht lassen, wenn man feststellen würde, dass Paulus ein bösartiger Choleriker oder ein (zu) stolzer Apostel war? Weiter ist zu bezweifeln, ob Paulus als "Typ" auf die christliche Anthropologie eingewirkt hat. Viel eher doch mit seinen Texten! Während also der Teil zu "Autobiographie und Person" des Paulus für mich eher entbehrlich zu sein scheint, lassen sich die Aufsätze, die sich mit der Forschungsgeschichte oder der paulinischen Biografie beschäftigen, durchaus mit Gewinn lesen. So sind die Aufsätze von Otto Merk, Jörg Frey und Udo Schnelle für neutestamentlich interessierte LeserInnen lohnenswert. Der Beitrag von Gerd Theißen regt hingegen vor allem die historische Phantasie der LeserInnen an.

Anmerkungen:
1 Stiewe, Martin; Vouga, Francois, Das Fundament der Kirche im Dialog, Tübingen 2003.
2 Frey, Jörg, Apostelbegriff, Apostelamt und Apostolizität. Neutestamentliche Perspektiven zur Frage nach der 'Apostolizität' der Kirche, in: Schneider, Theodor; Wenz, Gunther (Hgg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge, Bd. 1: Grundlagen und Grundfragen, Freiburg im Breisgau 2004, S. 91-188.
3 Vgl. Schnelle, Udo, Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003; vgl. dazu meine Rezension in H-Soz-u-Kult, 02.06.2003 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-123>.

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