Titel
Molotov. A Biography


Autor(en)
Watson, Derek
Reihe
Studies in Russian and East European History and Society
Erschienen
Houndsmills 2005: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 89,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sandra Dahlke, Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr Hamburg

Bis heute wissen wir verhältnismäßig wenig über die Denkweisen, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster der sowjetischen Parteiführer und noch weniger darüber, wie sie als Menschen waren. Obwohl die führenden Repräsentanten der stalinistischen Diktatur und ihre Nachfolger eine so bedeutende Rolle in der Geschichte des 20. Jahrhunderts gespielt haben, war das biografische Interesse an ihnen lange Zeit teils aus ideologischen, teils aus forschungspraktischen Gründen gering. Erst in den letzten Jahren, nach der Auflösung der Sowjetunion und der damit verbundenen partiellen Öffnung der russischen Archive, haben einige Historiker/innen begonnen, diese Lücke zu schließen.

Eines der prominentesten, einflussreichsten und langlebigsten Mitglieder von Stalins Entourage ist Wjatscheslaw Molotow (1890-1986). Der ambitionierten Aufgabe, eine erste umfassende Biografie Molotovs zu verfassen, hat sich jetzt der britische Historiker Derek Watson gewidmet, der schon durch mehrere Publikationen über Molotow hervorgetreten ist.1 Watson zeichnet Molotows politisches Leben von der Wiege bis zur Bahre nach; seine Darstellung ist streng chronologisch gegliedert und beruht auf einer gewissenhaften Lektüre einer beeindruckenden Menge englisch- und russischsprachiger publizierter Literatur, publizierten Quellen sowie der begrenzten Nutzung von Archivalien.

In der Einleitung betont Watson, dass Molotows Leben durch Widersprüche gekennzeichnet sei, und macht es sich zur Aufgabe, in seiner Studie diese „Widersprüche“ zu erklären. So habe sich der junge feurige Revolutionär Skrjabin zum pedantischen Bürokraten Molotow entwickelt; der fähige und umsichtige „Staatsmann“, der von 1930 bis 1941 dem Rat der Volkskommissare vorstand, habe den Terror als notwendiges Mittel der Politik verstanden, und der Familienmensch sei nicht gegen die Verhaftung und Verbannung seiner eigenen Frau eingeschritten. Zudem sei erklärungswürdig, warum Stalin Molotow 1939 zum sowjetischen Außenminister machte, obwohl dieser nur über geringe Erfahrungen in der internationalen Politik verfügte.

Man muss Watson positiv anrechnen, dass er sich keiner vereinfachenden psychologisierenden oder moralisierenden Erklärungen bedient, vorsichtig urteilt und weder Angst und Zynismus, noch blinde Machtgier für diese „Widersprüche“ verantwortlich macht. Dies ist in Anbetracht von Molotows unmittelbarer Beteiligung an den Verbrechen der stalinistischen Diktatur nicht selbstverständlich. Molotow war eine der zentralen Figuren in der Kollektivierungskampagne, plante und organisierte die Kategorisierung, Deportation und Ermordung hunderttausender Bauern. 1932 leitete er mehrere Kommissionen zur gewaltsamen Implementierung der Getreiderequirierungskampagne in der Ukraine, die eine desaströse Hungersnot mit mehreren Millionen Toten zur Folge hatte. Aus Watsons Text geht hervor, dass Molotow wusste, was er tat und auch mögliche Folgen einkalkulierte, da er neben Stalin und Kaganowitsch zu den wenigen gehörte, die über die wirtschaftliche und soziale Lage gut informiert waren.

Molotow unterstützte Stalin während der sogenannten Massenoperationen gegen „antisowjetische Elemente“ in den Jahren 1937/38. Er unterschrieb in dieser Zeit 373 der 383 dem Politbüro vom NKWD vorgelegten Listen, auf denen die zu exekutierenden und zu deportierenden Personen namentlich aufgeführt waren, und befürwortete 1940 die Ermordung mehrerer tausender polnischer Offiziere und Kriegsgefangener in Katyn. Watson kommt zu dem Schluss, dass Molotow insbesondere während der Kollektivierungskampagne, aber auch im Terror keinesfalls nur als Stalins Erfüllungsgehilfe agiert, sondern auch seine eigenen radikalen klassenkämpferischen Positionen umgesetzt habe. Er zeichnet Molotow als überzeugten, machtbewussten Bolschewisten von einer eher technokratischen als kreativen Intelligenz und als pedantischen Ideologen des Klassenkampfs, der alles den Interessen des stalinschen Herrschaftsapparats untergeordnet und aus Überzeugung eine radikale Politik und „administrative“ Lösungen politischer und sozialer Probleme bevorzugt habe. Dabei schreibt er ihm eine gewisse Prinzipientreue und Mut zu, denn Molotow sei einer der wenigen in Stalins Entourage gewesen, der sich auch in den 1930-Jahren nicht gescheut habe, Stalin zu widersprechen.

Obwohl oder vielleicht auch gerade weil sich Watson um ein ausgewogenes Urteil bemüht, gelingt es ihm nicht, die Widersprüche, welche seiner Meinung nach Molotows Leben kennzeichnen, zu erklären. Das Buch gleicht eher einem akribisch zusammengestellten Handbuch als einer Monografie, lässt einen überzeugenden analytischen Rahmen vermissen und ist daher häufig ermüdend zu lesen. Eine Auseinandersetzung mit Problemen der Biografik sucht man bei Watson vergeblich. Molotows Leben wird offenbar als eine sich selbst genügende Serie von Ereignissen aufgefasst, die an vielen Stellen keine andere Verbindung aufzuweisen scheinen, als dass sie an die Person Molotows gebunden sind. So liefert Watson eine ausführliche und häufig verwirrende Aufzählung der Zuständigkeiten Molotows in der entstehenden sowjetischen Verwaltung, ohne die Bedeutung der teilweise sehr kurzlebigen Institutionen zu thematisieren. Molotovs Aufstieg in der stalinschen Führungsriege und seine Transformation vom Revolutionär zum Bürokraten und „Staatsmann“ kann auf diese Weise zwar konstatiert, aber nicht nachvollziehbar gemacht werden.

Watsons Darstellung bestätigt damit indirekt das von Graeme Gill und anderen vorgebrachte Argument, dass sowjetische Politik eben nicht auf Grundlage von Institutionen, sondern auf der Basis persönlicher Beziehungen funktionierte.2 Über Molotows Verhältnis zu seinen Genossen erfährt man jedoch nur wenig. Eine Analyse der sich entwickelnden personalen Netzwerke und von deren Funktionsmechanismen wird nicht unternommen. Watson beschränkt sich zu sehr darauf zu beschreiben, wann und wo Molotow was gesagt hat, ohne aber zwischen den einzelnen Aussagekontexten zu differenzieren. So wird z.B. aus Äußerungen Molotows geschlossen, er habe 1936 daran gezweifelt, dass der Terror ein sinnvolles Mittel der Politik sei. Auf dem Februar-März-Plenum 1937 habe sich Molotow dann jedoch gänzlich mit dieser Politik identifiziert. Was ihn zu diesem wichtigen Meinungsumschwung veranlasste, bleibt dabei unklar.

Um Molotows Lebenslauf zu kontextualisieren, wäre insgesamt eine systematischere Analyse der Funktionsmechanismen von Herrschaft und Politik sowie von deren Rückwirkung auf die Akteure und deren Wahrnehmungsmuster notwendig gewesen. In die Interaktion der Bolschewiki und deren Konkurrenz untereinander sowie in die sich etablierenden politischen Spielregeln dringt Watson aber nicht ausreichend vor. Die Bedeutung von Krisen bzw. von Veränderungen der Spielregeln und der Beziehungen der Parteiführer untereinander wird nicht explizit herausgearbeitet, so dass zuweilen der Eindruck entstehen kann, als sei die Durchsetzung bolschewistischer Herrschaft zwar gewaltsam, aber regelhaft und gleichförmig verlaufen. Wir erfahren z.B. nichts über Stalins zu Beginn der 1930er-Jahre verfolgte Politik, den Partei- und Staatsapparat zu zentralisieren und die dadurch bedingte Verschiebung der Machtbalance im engeren Führungszirkel, die sich auch wesentlich auf Molotow auswirkte. Dessen Ernennung zum Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare ist ohne diesen Kontext nicht zu verstehen. Der Stalinkult, dessen Funktion und Folgen für Stalins Entourage werden erst gar nicht erwähnt.3

Viele dieser Aspekte (personale Netzwerke, Patronage, Klientelismus, Muster bürokratischer Politik, Funktionsmechanismen des Stalinkults und des Terrors) sind in der Fachliteratur behandelt worden, mit der sich Watson jedoch häufig nur dann auseinandersetzt, wenn es um die Abgleichung von Fakten geht. Auch die Quellen nutzt Watson lediglich als Faktensteinbruch, stellt sie aber nur selten in ihren Entstehungszusammenhang und Verwendungskontext. Die zentrale Bedeutung der Abstufungen von Geheimhaltung und Information im Verkehr der Parteiführer untereinander und in der Kommunikation mit den unteren Hierarchieebenen von Partei und Staat wird nicht erörtert. Insbesondere die Korrespondenz Molotows mit Stalin, aber auch mit Kaganowitsch und Ordschonikidse hätten Watson mehr Grundsätzliches über deren politische Praktiken, Interaktionsformen, Denk- und Wahrnehmungsweisen sagen können.4

Insgesamt ist Watson nicht besonders einfallsreich, wenn es darum geht, Molotow in seiner Zeit und vor dem Hintergrund einer sich radikal verändernden Welt zu sehen. Auch das Umfeld, in dem Molotow sich bewegte, bleibt blaß. Die Leser/innen erfahren nur wenig über Molotows Lebensführung, über die Grenzen des Privaten und des Öffentlichen bzw. Politischen und nichts über die Jagdausflüge, Abendveranstaltungen, Datschenaufenthalte, bei denen sich Stalins Hofstaat zusammenfand.

Obwohl sich Derek Watson um kritische Distanz und eine Historisierung von Schuld und Verbrechen bemüht, ergibt sich doch am Ende der Lektüre nur ein schemenhaftes Bild des Menschen Molotow. Es bleibt den kenntnisreichen Lesern/innen selbst überlassen, sich aus der Masse der vielfach interessanten Informationen ein solches Bild zusammenzusetzen.

1 Watson, Derek, Molotov and Soviet Government. Sovnarkom 1930-1941, Basingstoke 1996; Ders.: Molotov’s Apprenticeship in Foreign Policy. The Tripple Alliance Negotiations in 1939, in: Europe-Asia-Studies 52 (2000), S. 695-722; Ders.: Molotov, the Making of the Grand Alliance and the Second Front 1939-1942, in: Europe-Asia-Studies 54 (2002), S. 51-85.

2 Gill, Graeme, The Origins of the Stalinist Political System, Cambridge 1990; Easter, Gerald, Reconstructing the State. Personal Networks and Elite Identity in Soviet Russia, Cambridge 2000.

3 Ennker, Benno: „Struggling for Stalin’s Soul“: The Leader Cult and the Balance of Power in Stalin’s Inner Circle, in: Heller, Klaus; Plamper, Jan (Hgg.), Personality Cults in Stalinism / Personenkulte im Stalinismus, , Göttingen 2004, S. 161-196.

4 Hierzu z.B. Cohen, Yves: Des lettres comme action: Staline au début des années 1930 vu depuis le fonds de Kaganovic, in: Cahiers du Monde russe 38 (1997), S. 307-346.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension