M. Meinhardt u.a. (Hgg.): Sozialstruktur und Sozialtopographie

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Titel
Sozialstruktur und Sozialtopographie vorindustrieller Städte.


Herausgeber
Meinhardt, Matthias; Ranft, Andreas
Reihe
Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 1
Erschienen
Berlin 2005: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
321 S.
Preis
€ 74,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Deutsch, Institut für Geschichtswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Das Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg rief in den vergangenen acht Jahren insgesamt drei neue Reihen ins Leben1; eine Publikationsoffensive, die an die Veröffentlichungstradition der Universität Halle-Wittenberg anknüpfen könnte2, die nach Aussage der Herausgeber der jüngsten Reihe – die Hallischen Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit – in erster Linie jedoch der „Ergebnis- bzw. Erkenntnissicherung“ sowie dem „wissenschaftlichen Austausch“ (Vorwort zur Reihe) dienen soll. Monika Neugebauer-Wölk und Andreas Ranft wählten mithin zur Bereicherung des mediävistisch-frühneuzeitlichen Wissenschaftsdiskurses sowohl ein traditionelles Medium als auch ein traditionelles Forum, um mit der von ihnen herausgegebenen Reihe neue Akzente zu setzen. Unter diesen Voraussetzungen liegt es nahe, die Wahl der Themen und Beiträge des ersten Bandes programmatisch zu deuten.

Die Wahl fiel auf die Publikation von elf Beiträgen, die im Januar 2000 im Rahmen eines Workshops zur „Sozialstruktur und Sozialtopographie vorindustrieller Städte“ vorgetragen worden sind. Christoph Heiermann und Stephan Selzer, befassen sich in der ersten Sektion mit der Erforschung sozialer Strukturen und Gruppen, wobei die konzise formulierten Forschungsperspektiven von Jürgen Ellermeyer und Stefan Kroll zur Sozialstruktur spätmittelalterlicher bzw. frühneuzeitlicher Städte durch exemplarische Untersuchungen zu Stadtgesellschaft und Residenzbildung (Matthias Meinhardt), städtischen Eliten (Christoph Heiermann) sowie Konsum als Zeichen sozialer Zuordnung (Stephan Selzer) abgerundet werden. Die Beiträge der zweiten Sektion befassen sich nach der einleitenden Darstellung des Forschungsstandes der sozialtopografischen Stadtgeschichtsforschung von Dietrich Denecke mit gesellschaftlichen Strukturen im städtischen Raum. Lübeck (Rolf Hammel-Kiesow), Göttingen (Helge Steenweg), Greifswald (Karsten Igel), Wittenberg (Monika Lücke) und Lüneburg (Marc Kühlborn) werden mit zum Teil sehr detaillierten Karten und Statistiken hinsichtlich ihres sozialräumlichen Gefüges vorgestellt. Die ausgewerteten Quellentypen reichen hierbei von Steuer- und Zinsregistern bis zu archäologischen Funden und Befunden. Dass die Rezeption der präsentierten Ergebnisse in Form umfangreichen Kartenmaterials zu Siedlungsform und -geschichte sowie Abbildungen von Gebäudeformen dem Spezialist/innen in der Regel leichter fallen dürfte als dem Allgemeinhistoriker/innen, ist sicherlich der fachspezifischen Arbeitsweise geschuldet, führt letztlich jedoch zu einem reduzierten Erkenntnisgewinn. In diesem Zusammenhang wirkt die von Jürgen Ellermeyer im einleitenden Forschungsüberblick (S. 17-34) geäußerte Kritik an der bisher praktizierten Vermittlung von Forschungsergebnissen (S. 33) mehr als verständlich, illustriert zugleich jedoch die schwierige Umsetzung der Forderung nach rezipientenfreundlicher Darstellung in der Publikationspraxis.

In der geäußerten Kritik an der möglicherweise erschwerten Rezeption der Forschungsergebnisse spiegelt sich auch die Sorge um die Positionierung strukturgeschichtlich orientierter sozialhistorischer Methoden und Theorien in der aktuellen Mediävistik wider, liegt doch die Hochzeit vor allem der sozialtopografischen Forschung – dies dokumentieren auch die Literaturhinweise im 349 Titel umfassenden bibliografischen Anhang der vorliegenden Publikation – in den 1970er bis 1990er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Zwar legen Termini wie „demographischer Wandel“ oder „Sozialstrukturen städtischer Quartiere“, die im gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Diskurs eine nicht geringe Rolle spielen, eine Verankerung dieser historischen Sozialforschung in der Diskussion nahe, doch scheint die Regionalisierung – Lübeck, Göttingen, Greifswald etc. in diesem Band – einer allgemeinen Betrachtung nicht förderlich zu sein. Zudem, so scheint es, vermögen Theorien zur Explikation historischer Sozialstrukturen heutige Entwicklungen, hier sei nur die ,Verelendung’ einzelner städtischer Quartiere genannt, kaum adäquat zu beschreiben. Die Bezeichnung der untersuchten sozialen Räume als „vorindustrielle Städte“ betont in diesem Fall sogar eher den Bruch als eine mögliche Kontinuität in den untersuchten städtischen Siedlungen, ohne allerdings die Charakteristika der „vorindustriellen Stadt“ näher zu klären. Tatsächlich geht keiner der Beiträge über das 16. Jahrhundert hinaus, sodass eine stärker auf den Reihentitel bezogene Titulatur des ersten Bandes eher gerechtfertigt erscheint als die bemühte Analogie zur „Vormoderne“ der Kulturwissenschaften.

Die etwas gezwungen wirkende Modernität mindert den Wert vor allem der fundierten Forschungsüberblicke keineswegs, scheint für den Beginn der Reihe jedoch nicht sehr glücklich. Zudem stellt sich bei dem explizit geäußerten Wunsch nach der Etablierung eines Diskussionsforums doch die Frage, ob die Veröffentlichung von Workshopbeiträgen fünf Jahre nach Ende der Veranstaltung diesem Ziele dient, zumal der zweite Band der Reihe, die Festschrift für Werner Paravicini, schon 2002 erscheinen ist.3 So bleibt insgesamt, trotz der sehr ansprechende Qualität einiger Beiträge der Eindruck, dass der Beginn der Publikationsoffensive nicht recht geglückt ist; es bleibt, auch im Sinne der von den Herausgebern genannten Zielsetzung zu wünschen, dass sie nicht stecken bleibt.

Anmerkungen:
1 Hallische Beiträge zu den historischen Hilfswissenschaften, Halle 1998ff.; Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte, Halle 2001ff.; Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Berlin 2002ff.
2 Hallische Beyträge zu der juristischen Gelehrten-Historie, 1-3, Halle 1755-1762; Hallische Beiträge zur Geschichtsforschung, Heft 1-5, Halle 1892-1894; Wissenschaftliche Beiträge, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Reihe C: Historische Beiträge, Halle 1966ff.
3 Selzer, Stephan (Hg.), Menschenbilder – Menschenbildner. Individuum und Gruppe im Blick des Historikers. Werner Paravicini zum 60. Geburtstag, Berlin 2002. Nicht zu verwechseln mit der 1994 unter demselben Titel im Böhlau Verlag publizierten Aufsatzsammlung des Erziehungswissenschaftlers Lutz Werner.

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