Titel
Römische Inquisition und Indexkongregation. Grundlagenforschung: 1814-1917 in sieben Bänden


Herausgeber
Wolf, Hubert
Erschienen
Paderborn 2005: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
3.756 S. in 7 Bd.
Preis
€ 525,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Lokatis, Zentrum für Zeithistorische Forschungen Potsdam

Wie der Homepage der DFG (20.3.2006) zu entnehmen ist, wurde deren Präsident Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker kürzlich vom Papst empfangen, gemeinsam mit dem Herausgeber Prof. Dr. Hubert Wolf, Träger des Leibniz-Preises, dessen Mitarbeiter/innen und Repräsentant/innen des Schöningh-Verlages, um sieben Bände des hier besprochenen Werkes zu überreichen. Dem Rezensenten haben leider „nur“ sechs Bände vorgelegen, der für eine sachgerechte Beurteilung unverzichtbare Registerband ist bislang nicht erschienen. Vorläufig (das Erscheinen ist aber für Juli 2006 angekündigt) ist das imposante Nachschlagewerk jenen ehrwürdigen Wälzern zuzurechnen, die entschieden leichter zu schreiben als zu lesen sind.

So ist beispielsweise schwer zu sagen, ob die in jedem Band wiederholten, insgesamt 53 Seiten umfassenden Abkürzungsverzeichnisse vollständig sind, bzw. ob die aufgeführten vierzig Orden und neununddreißig Kongregationen tatsächlich in jedem Band alle vorkommen. Hervorzuheben ist ein nützliches Verzeichnis von über hundert Internet-Bibliothekskatalogen im „Systematischen Repertorium“. Die Bände stellen ein Zwischenergebnis vor. Sie behandeln die Zeit von der postnapoleonischen Restauration des Kirchenstaates bis 1917, als die Indexkongregation aufgelöst und mitsamt ihrem Archiv in das Heilige Offizium, die römische Inquisition überführt wurde. 1998 wurden deren Archive geöffnet, allerdings leider bisher nur für die Zeit bis 1922. Das Münsteraner Großprojekt einer systematischen Grundlagenforschung arbeitet mithin in umgekehrter Richtung, es beginnt mit den, wenn man unter diesen Umständen noch so sagen darf, zeitnahen Beständen, um sich demnächst dem 18. Jahrhundert zuzuwenden und später bis ins 16. Jahrhundert zurückzusteigen.

Die Einleitung bietet zunächst die Skizze einer 500-jährigen Zensurgeschichte und des Forschungsstandes, sie erläutert forschungsstrategische Überlegungen und bietet vor allem eine unverzichtbare Gebrauchsanweisung für den Benutzer. Das alles auf 116 Seiten: Der Umfang des Einleitungsbandes von 402 Seiten (ohne Abkürzungsverzeichnis) kommt durch Übersetzungen ins Englische, Italienische und Spanische zustande. Da sich die Kommentare zu den lateinischen Dokumenten der übrigen Bände und die 1.600 Seiten starke Prosopografie nur dem der deutschen Sprache mächtigen Benutzer erschließen, ist der wissenschaftliche Nutzen einer vielsprachigen Einleitung allerdings nicht leicht zu sehen. Falls sie entsprechend dem selbstgesetzten Anspruch, der internationalen interdisziplinären Fachwelt zu dienen, die Übersetzung des kompletten Gesamtwerkes in die westlichen Weltsprachen vorbereiten soll, wird der Verlag nicht auf seine Kosten kommen. Immerhin bedarf Band II, das die künftige Erforschung der Vatikanischen Zensurarchive erleichternde Repertorium, kaum einer Übersetzung. Wie die Einleitung darlegt, verweisen die Bände jedoch aufeinander und kommentieren sich wechselseitig. So verzeichnet die Prosopografie (Band III) nicht nur die biografischen Daten der Gutachter der Index-Kongregation und der Inquisition, deren Namen erst mit Hilfe der ebenfalls publizierten Zensurplakate, der Bandi (Band I) ermittelt wurden, sondern führt auch auf, zu welchen Büchern die betreffenden Kardinäle etc. Gutachten verfasst haben. In welcher Sitzung diese mit welchem Ergebnis verhandelt wurden und wo sie sich befinden, entnimmt man dem Repertorium (Band II). Wer allerdings etwas über den Inhalt besagter Gutachten und näheres über einen bestimmten Zensurfall erfahren will, wird sich in der großen Mehrzahl der Fälle selbst nach Rom aufmachen müssen. Das Repertorium stellt also nicht mehr und nicht weniger als ein vorzüglich kommentiertes Findbuch dar.

Vorwort und Einleitung – etwa ein Grund für deren weltweite Verbreitung? – dienen wohl nicht zuletzt dem diskreten Kampf des Herausgebers um das Erstgeburtsrecht, die Geheimnisse der vatikanischen Archive gelüftet und sich, dieser Ausdruck wird im Vorwort gleich dreimal (also mit Übersetzungen zwölfmal) verwendet, einer wissenschaftlichen „Herkulesarbeit“ unterzogen zu haben. Nicht nur Unfromme denken hierbei an den Augias-Stall. Hubert Wolf bedankt sich auf schöne Weise u.a. gebührlich bei acht wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen, fünfzehn studentischen Hilfskräften, vor allem natürlich bei dem das Gesamtprojekt schulternden Riesen, dem Limburger Domarchivar Hermann H. Schwedt, dessen jahrzehntelange Sammlung von 700 Bandi, der in den römischen Kirchen angeschlagenen Verbotsplakate, und von 3.000 prosopografischen Studien zum zensierenden Klerus den Grundstock zu den erschienenen Bänden lieferten. Umso auffälliger, dass Wolf, soweit sich das ohne Register feststellen lässt, bei der Darlegung des Forschungsstandes von seinem bekanntesten Konkurrenten nicht einmal den Namen erwähnt: Peter Godman (Die geheime Inquisition. Aus den verbotenen Archiven des Vatikans, München 2001, 399 S. Weltliteratur auf dem Index. Die geheimen Gutachten des Vatikans, Berlin 2001, 543 S.). Stattdessen findet sich folgender mysteriöse Satz: „Ferner erschienen einige schnell gemachte populistische Darstellungen, die freilich ohne weitere wissenschaftliche Relevanz sind.“ (Einleitung, S. 27) Gelernt ist gelernt – diese elegante damnatio memoriae, schaut man sich gern in der italienischen (S. 141), englischen (S. 239) und spanischen (S. 331) Fassung an. Insofern seinerzeit auch Peter Godman Hubert Wolfs einschlägige Arbeiten mit Stillschweigen übergangen hatte, handelt es sich um ein klares Revanchefoul.

Der wissenschaftliche Neuigkeitswert der sechs Bände für Zensurforscher und Buchwissenschaftler ist, solange der zentralen Aufgabe einer Institutionsgeschichte ausgewichen wird, vorläufig noch gering. Eine solche müsste im 16. Jahrhundert und nicht mittendrin beginnen, hauptsächlich mit Querschnittsakten (am besten auch aus dem bislang noch verschollenen Archiv des magister palatii) arbeiten, die beiden benediktinischen Zensurreformen (wie für das 17. Jahrhundert geplant) und deren Folgen in den Mittelpunkt stellen, wechselnde Verfahrensregeln und die Eigendynamik der Bürokratie herausarbeiten sowie die ökonomischen Interessen des vatikanischen Buchhandels, der venezianischen Konkurrenz und des katholischen Buchhandels insgesamt in den Blick rücken. Auch ein Puzzle aus 10.000 Gutachten würde hingegen nicht weiterhelfen. Die Aufdeckung der Anonymität der Gutachter, der glühende Wunsch jedes gequälten Autors, stellt hundert Jahre später für sich genommen noch keine überzeugende Zielrichtung dar. Das Interesse des Herausgebers richtete sich bislang mehr auf individuelle Hintergründe, auf die Verfasser der Gutachten und den möglichst rätselhaften und paradoxen, der spekulativ-kriminalistischen Phantasie Raum gewährenden Einzelfall, etwa auf Heinrich Heine, Karl May und Leopold von Ranke (Wolf, Hubert, Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher, München, 2006, 303 S., 22,90€). Dabei erlaubte die Öffnung der vatikanischen Archive endlich auch die von der Kirche gebilligten Bücher in den Blick zu rücken, während bisher durch den Index nur die verbotenen Titel bekannt waren. Leider fehlt eine entsprechende Bilanz, die Auszählung wäre aus verschiedenen Gründen auch hochkompliziert, z.B. weil von so fruchtbaren Autoren wie Dumas, Zola u.v.a. das Gesamtwerk verboten war, und wichtige Titel wie etwa die gesamte marxistische Literatur (jedenfalls bis 1922) weitgehend erst gar nicht zur Diskussion kam, protestantische Literatur generell indiziert war, schon wegen der sprachlichen Schranken nur ein kleiner Ausschnitt der Weltliteratur verhandelt wurde und der Rest durch allgemeine Indexregeln ausgegrenzt wurde usw. Um so erstaunlicher, dass sich auch im Repertorium der letztlich sehr wenigen von der Index-Kongregation verhandelten Fälle eine extrem hohe, auf wenigstens 80 Prozent zu schätzende Verbotsquote spiegelt. Es stimmt doch bedenklich, dass die vergleichbare Verbotsquote der DDR-Zensur nur in den ideologischen Frostphasen nach 1958 und 1965 höher als 1 Prozent lag! Erlaubt wurde anscheinend, von Victor Cousin und „Onkel Toms Hütte“ einmal abgesehen, hauptsächlich Erbauungsliteratur, Eheleitfäden (hübsch „Das Schifflein der Standeswahl oder Lehren über die Wahl zwischen dem Ehestande und dem jungfräulichen Stande sowie über die wichtigsten Pflichten beider Stände“, Steyl, Missionsdruckerei zum heil. Erzengel Michael, 1885), gereinigte Fassungen usw. Nein, weit interessanter bleiben die indizierten Titel.

Das eigentliche, für jeden Kirchenkritiker unschätzbare Verdienst des Herausgebers ist darin zu sehen, die zwischen 1814 und 1917 verbotenen Bücher, ob sie seinerzeit die Unfehlbarkeit oder das Zölibat attackierten, sorgfältig bibliografiert, mit unerhörtem Aufwand ihre bibliothekarischen Standorte nachgewiesen und mit kirchlicher Billigung allgemein zugänglich gemacht zu haben. Leibniz hätte daran seine Freude gehabt.