Th. Etzemüller: Ein Riss in der Geschichte?

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Titel
1968 – Ein Riss in der Geschichte?. Gesellschaftlicher Umbruch und 68er-Bewegungen in Westdeutschland und Schweden


Autor(en)
Etzemüller, Thomas
Erschienen
Konstanz 2005: UVK Verlag
Anzahl Seiten
269 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franz-Werner Kersting, Westfälisches Institut für Regionalgeschichte, Universität Münster und Siegen

Thomas Etzemüller, seit Oktober 2003 Juniorprofessor für Zeitgeschichte an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg, präsentiert mit der vorliegenden Studie den Ertrag eines von ihm zuvor als Stipendiat der DFG durchgeführten Forschungsprojekts über „‚1968’ in Schweden und Westdeutschland“.1 Seine Forschungsperspektiven und -ergebnisse können sich gleich in mehrfacher Hinsicht sehen lassen.

Der dezidiert international vergleichende Ansatz war und ist in zeithistorischen Analysen zum Thema keineswegs selbstverständlich. Zudem haben erste länderübergreifende Vergleiche und Einordnungsversuche der westdeutschen 68er-Bewegung bislang fast ausschließlich die USA sowie Länder West- und Südeuropas (insbesondere Frankreich und Italien) als Referenzpunkte gewählt. Dieser globalere Fokus ist Etzemüller vertraut, und in ihn integriert er nun mit dem Schwerpunktbeispiel Schweden und einem zumindest kurzen Seitenblick auf Finnland und Dänemark (vgl. S. 161ff.) erstmals auch den Norden Europas. Seinen Untersuchungszeitraum hat Etzemüller ebenfalls systematisch weiter gefasst als viele andere vor ihm: Er reicht von den 1950er-Jahren bis in die 1970er-Jahre – will die Studie die „Hochwassermarke ’68“ (Wilhelm Damberg) doch als Resultat, Spiegelbild und Katalysator eines dynamischen Wechselverhältnisses „zwischen gesellschaftlichem Wandel und politischen Protesten in der Nachkriegszeit“ zeigen (S. 175). Die langfristig angelegte, international vergleichende und gesamtgesellschaftlich dimensionierte Sicht auf ’68 lässt Etzemüller zu Recht auch von verschiedenen (nationalen, regionalen und sektoralen) „68er-Bewegungen“ im Umbruch zwischen den 1950er- und 1970er-Jahren sprechen. Gleichzeitig erlaubt es ihm gerade dieser Ansatz zu zeigen, dass es dennoch auch ‚die eine’ 68er-Bewegung gegeben hat – freilich weniger als faktische Einheit, sondern mehr als Teil und Produkt eines zeitgenössisch-„transnational imaginierten [...] Revolutionszusammenhangs“ (S. 159ff.) und der „seitdem wirkenden Macht der Mythisierung“ (S. 109).

Dieser Befund führt zu einem weiteren methodischen Vorzug von Etzemüllers Studie: Er bringt die laufende Historisierung des 68er-Phänomens auch durch die kulturwissenschaftlich inspirierte Erweiterung seines zeithistorischen Blicks um erfahrungs- und wahrnehmungsgeschichtliche Perspektiven voran. Wesentliche Entstehungs-, Entwicklungs- und Konfliktlinien sowie die Globalität des 68er-Geschehens beschreibt Etzemüller anschaulich und plausibel als „zirkuläre Wahrnehmungsprozesse“ (S. 14). In ihnen erfuhren, deuteten und verhandelten die „Alten“ (das „Establishment“) und die „Jungen“ individuell wie kollektiv den fundamentalen Wandel der westlichen, noch mehr oder weniger stark hierarchisch und autoritär verfassten Nachkriegsgesellschaften hin zur modernen, pluralistischen, liberal-demokratischen Konsum- und Wohlstandsgesellschaft mit ihren postmateriellen Lebensentwürfen (Stichwort „Silent Revolution“). Zentrale historische Faktoren waren in vielem eben ‚nur’ die „Medien“ der Austragung und Aneignung des länderübergreifenden Transformationsprozesses zwischen Tradition und Moderne im Zeichen von „Strukturwandel, Politisierung und Lebensstilrevolution“ (S. 204). Zu ihnen gehörten einmal die bekannten, teils nationalen (Bildungs- und Gesellschaftsreform, NS-Vergangenheit, Notstandsgesetze), teils internationalen gesellschaftspolitischen Reizthemen (Atomwaffen, Vietnamkrieg, „Dritte Welt“, Sexualität, Frauenemanzipation etc.). Aber deutlich wurde der Wandel natürlich auch in den vielfältigen sozial-kulturellen Formen der wechselseitigen Selbstvergewisserung, Abgrenzung und Auseinandersetzung (Formierung der „Neuen Linken“, Aktionen/Bewegungen einer neuen Jugend-, Gegen-, Alternativ- und Bürgerkultur, Polizeieinsätze, „Springer-Presse“, Sprache, Bilder, Beat- und Rockmusik, Kleidung, Habitus etc.). Hinzu kam noch die weltumspannende Rezeption von Schlüsseltexten zeitgenössischer linker Systemkritik (Frantz Fanon, Régis Debray, Herbert Marcuse, Mao Tse-tung, Che Guevara etc.). Schließlich wirkte aber vor allem auch die intensive, globale Presse- und Fernsehberichterstattung über die 68er-Ereignisse als ein wichtiges Medium der Alltags- und Zeiterfahrung der historischen Akteure.

Der weiten methodischen und leitperspektivischen Ausrichtung des flüssig und spannend geschriebenen Buches entspricht ein breites inhaltliches Darstellungsspektrum: Am westdeutschen und schwedischen Beispiel (aber gleichzeitig auch immer wieder weit darüber hinaus) werden der materielle soziale Nachkriegswandel durch mehr wirtschaftliches Wachstum, mehr Kinder und Studierende, mehr Küchengeräte, mehr Fernsehen, mehr Schallplatten, mehr Mopeds, mehr Mobilität, mehr Urbanisierung usw. ebenso vergleichend beschrieben wie die durch diesen Wandel teils indizierten, teils hervorgerufenen, teils beschleunigten Veränderungen im ideellen Normen- und Wertegefüge beider Gesellschaften. Das sich seit den 1960er-Jahren zunehmend politisierende Ineinandergreifen beider Trends wird einmal im Spiegel der Selbst- und Fremdwahrnehmung der modernen – immer auch kommerzialisierten – Jugendkultur (Halbstarke, „raggare“, „mods“, Teenager etc.) sowie der engeren 68er-Bewegung veranschaulicht. Aber auch anderen Handlungsfeldern, die bislang kaum systematisch in eine 68er-Geschichte integriert wurden, hat Etzemüller eigene Kapitel gewidmet: „Die Kunst im politischen Kampf“ (S. 55ff.), „Apokalypse und Revolution im Film“ (S. 171ff.), „Der ‚Nebenwiderspruch’: Die Frauenbewegung“ (S. 175ff.). In dem Abschnitt „Die ‚Vergesellschaftung’ der Kritik“ (S. 195ff.) wird schließlich gezeigt, wie das (radikale) linke Vokabular und Denken im Übergang von den 1960er- zu den 1970er-Jahren auf zweifache Weise ausstrahlte: Es beeinflusste auch andere Neue Soziale Bewegungen (Schüler- und Lehrlingsbewegung, Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung, Bürgerinitiativen, Spontis etc.) sowie zahlreiche gesellschaftliche Reformfelder (u.a. Literatur, Schulen, Kirchen, Krankenhäuser, Psychiatrie). Damit gab es der laufenden staatlichen Politik für mehr Demokratisierung und Liberalisierung gleichzeitig beschleunigende Impulse.

Der gemeinsame Strukturwandel und die Globalität der Protestwahrnehmung und -praxis „synchronisierte[n] Ereignisse und Entwicklungen“ in Schweden und Westdeutschland (S. 218). Doch lassen sich neben deutlichen Parallelen auch „fundamentale Unterschiede“ (ebd.) zwischen den westdeutschen und schwedischen ‚68er Jahren’ beobachten. Im skandinavischen Norden erlebte man zwar eine ganz „ähnliche Kette medien- und identitätsträchtiger Gewaltereignisse“ (S. 145), aber insgesamt keineswegs jene Eskalation und Frontverhärtung wie in der Bundesrepublik. Überzeugend begründet Etzemüller dies einmal mit einem traditionellen grundlegenden „Zug der schwedischen politischen Kultur“, dem unbedingten „Primat des Konsenses und der Zusammenarbeit“ (S. 156): In dem reformorientierten korporatistisch-sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaat wurden „Außenseiter […] nicht als Feinde bekämpft, sondern als verlorene Schafe heimgetrieben“ (S. 12). Auch die schwedischen Protestbewegungen selbst, deren breitenwirksamster Strang „Die vereinigten FNL-Gruppen“ waren („Front National de Libération du Viêt-nam du Sud“), fühlten sich letztlich dem Primat des Dialogs verpflichtet. Darüber hinaus fehlte in Schweden „all das, was in der Bundesrepublik [zusätzlich] für Konfliktstoff sorgte: konfessionelle Gegensätze, regionale Differenzen, politische Antagonismen, die lang anhaltende Opposition zwischen SPD und Kirchen, das Bürgerkriegsmodell der Polizei, die konservative Gesellschaftsideologie, der massive Antikommunismus, natürlich auch die DDR in der eigenen Nachbarschaft bzw. um das eingeschlossene Westberlin“. Entsprechend unterschiedlich fällt denn auch Etzemüllers zugespitzte Bilanz der Bedeutung des 68er-Geschehens für die innere Verfassung beider Länder aus: „In Schweden wird seit Jahrzehnten innerhalb eines relativ engen ideologischen Rahmens die Gesellschaft stets aufs neue Veränderungen angepaßt, wobei ‚1968’, im internationalen Trend liegend, einen solchen Veränderungsbedarf indizierte und stimulierte. In der Bundesrepublik war ‚1968’ ein entscheidendes Medium, Gesellschaftskritik ihres Nimbus als gesellschaftszersetzender Kraft zu berauben und in der Gesellschaft zu institutionalisieren.“ (S. 221)

Natürlich ist das spezifische Konfrontations-, Durchdringungs- und Beschleunigungsverhältnis zwischen den antiautoritären Programmen und Aktionen der 68er-Bewegungen einerseits und den bereits angelegten längerfristigen wie aktuellen Veränderungstendenzen in Politik, Gesellschaft und Kultur andererseits auch mit dem vorliegenden Buch noch keineswegs flächendeckend erfasst und hinreichend austariert. Aber der Weg für weitere Detailforschungen ist aufgezeigt. Sie werden hoffentlich auch all jenen „Kulturkämpfern“ um die Deutungshoheit über ’68 endgültig den Wind aus den Segeln nehmen, die als „Protest-Geprägte“ und „Protest-Geschädigte“ (Hermann Rudolph) immer noch glauben, das historische Phänomen vor allem als (reinen) Gegensatz von Bewegung und Gesellschaft sowie mittels einseitiger Erfolgs- oder Schadensbilanzen verorten zu können.

Anmerkung:
1 Als Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse in Aufsatzform vgl. auch: Etzemüller, Thomas, Imaginäre Feldschlachten? „1968“ in Schweden und Westdeutschland, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2 (2005), S. 203-223, online unter URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Etzemueller-2-2005>.

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