E.-M. Becker (Hg.): Die antike Historiographie

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Titel
Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung.


Herausgeber
Becker, Eve-Marie
Reihe
Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 129
Erschienen
Berlin 2005: de Gruyter
Anzahl Seiten
XIII, 308 S.
Preis
€ 88,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helga Botermann, Althistorisches Seminar, Georg-August-Universität Göttingen

Die 13 Beiträge des vorliegenden Bandes sind aus einem "neutestamentlichen Forschungskolloquium in transdiziplinärer Ausrichtung" hervorgegangen, das im Januar 2004 unter dem Titel "Die Wirkung des Anfangs - Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung" im Institut für Neues Testament der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg stattfand (S. V). In ihrem einführenden Beitrag "Historiographieforschung und Evangelienforschung" (S. 1-17) charakterisiert die Herausgeberin die gegenwärtige Forschungslage: "Geschichtliche und literaturgeschichtliche Forschung einerseits und kulturhermeneutische und geschichtstheoretische Überlegungen im weiteren Sinne andererseits sind im Bereich der geschichtswissenschaftlichen Überlegungen spürbar auseinandergetreten." Eine "inter-beziehungsweise transdisziplinär gewählte Zusammenschau historiographiegeschichtlicher Forschung" biete einen möglichen "Ausweg aus der forschungsgeschichtlichen Engführung" (S. 2). Die Frage nach 'Anfängen von Geschichtsschreibung' sei als Ansatz zu einer solchen strukturellen Hermeneutik der Historiografie zu verstehen (S. 3). Aus der Sicht der neutestamentlichen Wissenschaft gehe es dabei auch um die Frage, ob nicht schon in der "Evangelienschreibung, parallel zu den Strukturmerkmalen antiker Geschichtsschreiung und in produktiver Weiterführung hebräischer, frühjüdischer, griechisch-hellenistischer und römischer Denkvorgaben eine [...] entscheidende Weiche gestellt wurde, nämlich die eines geschichtsbezogenen und historiographieorientierten Denkens und Schaffens" (S. 4).

Zwei Beiträge dienen der Klärung der Voraussetzungen. Martin Mulsow (Zur Geschichte der Anfangsgeschichten, S. 19-28) lässt zunächst - von der Antike bis Hayden White - die Reflexionen über Anfänge und die Bedeutung des Mythos Revue passieren und wirft dann die Frage auf: "Ist das Movens für die möglichst weitgehende Annäherung des Anfangs der Kirchengeschichtsschreibung an den quellenmäßig unzugänglichen Nullpunkt des Christentums, das Leben Jesu, womöglich gespeist aus dem mythischen Bedürfnis, den Ursprung zu fassen? Dann läge dieser Tagung ein Paradox zugrunde." (S. 27) Schließlich äußert Mulsow die Befürchtung, der angestrebte Dialog zwischen den Disziplinen sei nicht "ohne die Gefahren des Aneinandervorbeiredens und des Missverständnisses" (S. 28) - ein vaticinium ex eventu?

Hans-Joachim Gehrke klärt in "Die Bedeutung der (antiken) Historiographie für die Entwicklung des Geschichtsbewusstseins" (S. 29-51) zunächst die Begriffe Geschichtsbewusstsein, Eigengeschichte oder intentionale Geschichte. Die Vorstellungen, die eine Gruppe von ihrer Vergangenheit hat, sind von elementarer Bedeutung für ihre kollektive Identität. Ihre Vergangenheit muss als das Bindende und Verbindende verankert und mit der Gegenwart der Gruppe verbunden sein. Dabei fallen Geschichte und Mythos häufig zusammen. Das Besondere bei den Griechen war, dass die Produzenten nicht in erster Linie Historiker und noch weniger Priester waren, sondern Intellektuelle und Künstler, die im Zusammenspiel mit den jeweiligen Rezipienten das Geschichtsbewusstsein konstituierten. Die homerischen Sänger schufen einen spezifischen Vergangenheitsraum, der nichts anderes als eine ins Präteritum verlegte und ins Sagenhaft-Grandiose gesteigerte Gegenwart war. Durch zahlreiche genealogische Linien entstand um das mythische Großereignis, Kampf um Troja, ein Geflecht, das Götter und Menschen, vergangene und gegenwärtige Geschlechter und Kollektive, Griechen und Nichtgriechen verband. Dieses Netz konnte im Hellenismus beliebig auf die ganze Welt ausgeweitet werden. Die Heroisierung der Vergangenheit erlaubte es, auch eigene Taten, waren sie nur bedeutend genug, wie die Perserkriege oder die Galatersiege der Pergamener, nach dem überlieferten Muster zu deuten. Von Herodot und Thukydides ist in diesem Zusammenhang eher abzusehen. Ihr spezifischer Modus im Umgang mit der Geschichte war ein Fall radikaler intellektueller Tätigkeit und Diskursivität, ein spezifisches Elitephänomen (S. 43).

Am Beispiel von Athen zeigt Gehrke die Nähe von Polisidentität und Geschichtsbewusstsein als Selbstbewusstsein. Die in den Perserkriegen errungene Vorrangstellung verlängerten die attischen Intellektuellen und Künstler in die Vergangenheit bis zu Theseus und den Amazonen. "Zur intentionalen Geschichte wurden sie (also ihre Werke, z.B. Tragödien und der Baudekor des Parthenon), indem das Volk sie immer wieder durch Anschauen und Ansehen, monumental überhöht und rituell wiederholt zur Kenntnis nahm und als seine eigene Geschichte verstand." (S. 45) "Deshalb ist der soziale Ort der Geschichtsproduktion so wichtig: Das Ambiente ist im Grunde inhärierender Teil des Prozesses der Herausbildung von Geschichtsbewusstsein. Dies entstand interaktiv, und die ohnehin gegebene Wechselbeziehung von Gesellschaft und Geschichte, von Gegenwart und Vergangenheit bildeten im griechischen Bereich geradezu eine Einheit." (S. 50)

Markus Witte (Von den Anfängen der Geschichtswerke im Alten Testament, S. 53-81) weist die Frühdatierung des AT ins 10. Jahrhundert zurück und diskutiert sechs Modelle, deren Datierungsansätze vom 8. bis zum 6. Jahrhundert reichen, in einem Fall ins 2. Jahrhundert v.Chr. Gemeinsam ist allen Modellen die Vorstellung, dass die literarische Reflexion der Vergangenheit jeweils aus der Notwendigkeit erwuchs, in einer Krise, also angesichts des drohenden oder schon eingetretenen Verlusts, Staat und Kult zu legitimieren und die kollektive Identität zu bestimmen. Insofern stellen die Geschichtswerke des Alten Testaments Geschichtsschreibung dar; wenn auch eigener Art. Von den Entwürfen des Vorderen Orients und der griechischen Geschichtsschreibung unterscheiden sie sich in den konsequent theologischen Deutungsmustern, die ihren Brennpunkt in der Vorstellung von Jahwe als dem Herrn der Zeit besitzen, in einem final ausgerichteten Geschichtsverständnis und der Strukturierung geschichtlicher Prozesse mittels des Schemas von Verheißung und Erfüllung (S. 77f.). Abschließend skizziert Witte die "literarischen Anfänge" des AT mit Blick auf ihren "Modellcharakter für die Formen der Geschichtsschreibung im Neuen Testament" (S. 79); so ist etwa Gen 1,1 das Vorbild für Joh 1,1. Wie die Anfänge berühren sich auch die Enden: 1 Chr 1,1 - Mt 1,1 und 2 Chr 36,23 - Mt 28,19. Am Ende der alttestamentlichen Geschichtsschreibung steht das merkwürdige Phänomen, dass die jüdische Historiografie im 1./2. Jahrhundert, also nach den Katastrophen von 66-70 und 132-135, versiegt, während sich die Linie geschichtlicher Interpretation politischer und religiöser Krisen im NT fortsetzt (S. 81).1

Es folgen drei altertumswissenschaftliche Aufsätze. Burkhard Meissner (Anfänge und frühe Entwicklungen der griechischen Historiographie, S. 83-109) zeichnet die Herausbildung der Idee einer kontinuierlichen Geschichtsdarstellung nach: von der Geschichte als Teil der ionischen Weltkunde über die Kriegsmonografien von Herodot und Thukydides zur historia perpetua Xenophons als Versöhnung mit dem Phänomen des politisch-strategischen Wandels. Um einen Anfang handelt es sich insofern, als die aufgezeigten Momente (Kritik, Pragmatik, Kontinuität und Kompensationsgedanke) für alle spätere Universalgeschichtsschreibung von erheblicher Bedeutung wurde (S. 105).

Nach Andreas Mehl (Geschichtsschreibung in und über Rom, S. 111-136) war die Anfangssituation alles andere als primitiv, da schon Fabius Pictor und Cato - nach den jeweiligen aktuellen Gegebenheiten und Bedürfnissen - eine Synthese von griechischer Tradition und römischer Denkweise herstellen mussten. Mehl bezieht sich ausdrücklich auf das Generalthema, indem er abschließend die Frage aufwirft, wie und wieweit aus der römischen Geschichte Welt- und Universalgeschichte wurde. Aus Rom wurde das römische Weltreich, fremde Völker traten für die Historiker in den Blick, soweit sie mit dem Imperium Kontakt hatten. Die in der Spätantike eigentlich obsolete Universalgeschichte als Gleichung von Welt und Imperium Romanum lebte nur in der christlichen Geschichtsschreibung fort (S. 132). Während mit Ausnahme von Velleius Paterculus und Florus in der Kaiserzeit Geschichte nie auf eine zu verherrlichende Hoch-Zeit hin konzipiert wurde, hatte die entstehende christliche Geschichtsschreibung ein Endziel der Geschichte entweder grundsätzlich oder sogar nach Jahren abmessbar vor Augen (S. 136).

Franz Römer (Biographisches in der Geschichtsschreibung der frühen römischen Kaiserzeit, S. 137-155) zeigt, dass trotz der in der Antike üblichen Unterscheidung zwischen Biografie und Historiografie die meisten biografischen Schriften im Hinblick auf ihre Thematik und ihr Zielpublikum der Geschichtsschreibung sehr nahe standen. Nach einem kurzen Überblick über die Entstehung der Gattung der Biografie in Rom sucht Römer die biografischen Elemente in den Werken der Historiker Sallust, Nepos, Velleius Paterculus und Tacitus auf, um mit Sueton zu schließen.

Drei Abhandlungen sind sodann der frühjüdischen Literatur gewidmet. Nach Oda Wischmeyer (Orte der Geschichte und Geschichtsschreibung in der frühjüdischen Literatur, S. 157-169) lässt sich zwar das Frühjudentum seit Alexander dem Großen als eigenständige historische und kulturelle Größe verstehen, es war aber eine transformierte Kultur, die durch die Tora aufs engste mit dem vorhellenistischen Judentum verbunden war. Die literarisierte Geschichte Israels und damit die Herkunftsgeschichte als Gottesgeschichte waren feste Vorgaben. Insofern kann man nicht sinnvoll nach einem Anfang suchen. Die frühjüdische Geschichtsschreibung ist kein Krisenphänomen. Das Neue war, dass jüdische historische Schriftsteller in den sprachlichen, literarischen und gedanklichen Kontakt mit der griechischsprachigen Historiografie ihrer Zeit traten und damit an zwei Kulturen partizipierten. Kulturell scheiterte die jüdische Geschichtsschreibung angesichts der ungeheuren Dominanz der griechisch-römischen Geschichte und Kultur, aber wohl auch an dem auf Dauer mangelnden Publikum. Als 'intentionale Geschichte' wurde nach 100 n.Chr. nur noch die kanonisierte Geschichte Israels betrachtet.

Beate Ego (Vergangenheit im Horizont eschatologischer Hoffnung, S. 171-195) interpretiert die Tierversion (1 Henoch 85-90) als Beispiel apokalyptischer Hoffnung. Diese spezifische Artikulationsmöglichkeit des antiken Judentums entstand in der Makkabäerzeit als Antwort auf Unterdrückung und Fremdherrschaft. Sie produzierte eine geradezu faszinierende Verschränkung von Vergangenheit und Zukunft: Die vorgebliche Vision einer älteren Autorität umfasst den gesamten Zeitablauf von der Schöpfung bis zum Eschaton. Das für die Zukunft Erwartete steht damit im Lichte der Faktizität. Das Anliegen von Geschichtsschreibung, kontingente Erfahrung zu deuten, wird somit potenziert. Herman Lichtenberger (Geschichtsschreibung und Geschichtserzählung im 1. und 2. Makkabäerbuch, S. 197-212) untersucht den literarischen Charakter und die theologische Konzeption der beiden Werke. Während das Erste Makkabäerbuch die Hasmonäerherrschaft in Anlehnung an die biblischen Geschichtserzählungen beschreibt und, etwa mit dem Instrument der Königstypologie, deutet, stellt das Zweite eine sich dem Hellenismus verdankende, mit rhetorischen und pathetischen Mitteln arbeitende Form jüdischer Geschichtsdarstellung dar. Theologisch bestimmendes Element ist eine strikt theozentrische Grundorientierung.

Wolfgang Wischmeyer (Wahrnehmung von Geschichte in der christlichen Literatur zwischen Lukas und Eusebius, S. 263-276) stellt die Ordnung der Zeit in einer listenförmigen Geschichtsschreibung dar. Julius Africanus, der Vater der christlichen Chronografie, brachte die gesamte Weltgeschichte in ein geordnetes, chiliastisch gedeutetes System, in dem Chronologie und Eschatologie verschmolzen waren. Die Diadochai der großen Bistümer orientierten sich an Listen der römischen Kaiser, was zunächst eine praktische Funktion hatte, aber auf ein darüber hinaus liegendes Moment eines akzeptierten Herrschafts- und Ordnungsbereichs hinweist. Jörg Ulrich (Eusebius als Kirchengeschichtsschreiber, S. 277-287) führt seine These aus: "Eusebius als Kirchengeschichtsschreiber ist zu verstehen als Logos-Theologe und Apologet, der die Kirchengeschichte als spezifischen Teil der gesamten vom Logos bestimmten Geschichte des Kosmos versteht, sie als besonders beweistragendes Phänomen für sein apologetisch-theologisches Anliegen in Anspruch nimmt und sie deshalb und unter diesem Aspekt in einem bis dato nicht gekannte Facetten- und Materialreichtum entfaltet." (S. 277)

Am Ende ihrer Einleitung schreibt die Herausgeberin: "Evangelien-Forschung und Historiographie-Forschung stehen also in mehrfacher Hinsicht am 'Anfang' einer gemeinsamen Forschungsgeschichte" (S. 17). Ob sie die referierten Beiträge als geglückten Anfang ansieht, ist schwer zu sagen. Sie sind zwar allesamt gediegen, und man liest sie mit Gewinn, aber man würde darüber hinaus gerne etwas über die Diskussionen im Forschungskolloquium erfahren. Der Ertrag ist deshalb an den Aufsätzen der beiden Neutestamentler zu messen: Für Eve-Marie Becker (Der jüdisch-römische Krieg (66-70 n. Chr.) und das Markus-Evangelium. Zu den "Anfängen" frühchristlicher Historiographie, S. 213-236) besteht zwischen den beiden im Titel genannten Phänomenen ein enger Zusammenhang. Der Krieg und die Zerstörung des Tempels hatten nicht nur innerjüdische Folgen, sondern bedeuteten auch für die Christen eine Zäsur: Sie verloren den gemeinsamen Kultort und die Anbindung an Jerusalem. Markus kompensierte die neue Situation: "Nach der Ablösung des frühesten Christentums vom Judentum, von der Jerusalemer Tradition und von der Autorität der ersten Zeugen unternimmt der Evangelist Markus mit der Abfassung seines Evangeliums den Versuch, die Jesus-Überlieferung zu tradieren, zu strukturieren und komponieren und sie als archè toû euaggelíou zu erzählen und zu deuten." (S. 236) Der durch die Tempelzerstörung ausgelöste Literarisierungsprozeß war also gleichermaßen ein Krisenphänomen und ein Versuch der innerchristlichen Neuorientierung.

Für Jens Schröter (Lukas als Historiograph, S. 237-262) sind die lukanischen Schriften Teil eines zusammenhängenden Werkes, und Lukas hatte bei der Abfassung des ersten Teils die Fortsetzung schon im Blick, doch gattungsmäßig ist nur die Apostelgeschichte Historiografie im engeren Sinne. Der Autor liefert die erste und bis auf Eusebius einzige Darstellung, in der sich die Christen als geschichtliche Bewegung mit eigenem Ursprung und eigenen, in der Geschichte handelnden Personen begreifen. Lukas entwirft das Bild einer von Gott gelenkten ersten Phase der christlichen Geschichte, die in Jerusalem beginnt und mit der Trennung von Israel und der Kirche in Rom endet (S. 253). "Der durch die Nichtakzeptanz der Christusbotschaft heidenchristlich gewordenen Kirche einen geschichtlichen Ort zu geben, dürfte deshalb die Intention gewesen sein, die Lukas bei der Abfassung seines Werkes geleitet hat." (S. 261) Ist Geschichte die kreative Aneignung der Vergangenheit, so lässt sich festhalten, dass Lukas "durch die Zusammenordnung seines Materials zu einer Geschichtsdarstellung aus spezifischer Perspektive auf das Christentum - nämlich als durch die Mission des Paulus entstandenes Heidenchristentum - der Aufgabe des Historikers, den Ereignissen einen Sinn zu verleihen, in hohem Maße gerecht geworden ist." (S. 249)

Bekanntlich ist die Diskussion zwischen AlthistorikerInnen und NeutestamentlerInnen nach Meyer und Lietzmann abgerissen. Von Harnack sagte 1890 bei seiner Aufnahme in die Preußische Akademie: "Der Zaun, welcher früher das Feld der Kirchengeschichte von dem Feld der allgemeinen Geschichte getrennt hat, ist niedergerissen." Dies erwies sich als ein unbegründeter Optimismus. Daher sind das Kolloquium und die hinter ihm stehende Idee unbedingt zu begrüßen. Allerdings müsste eine eingehende Analyse, die hier nicht zu leisten ist, aufspüren, was sich wirklich verändert hat. Verschwunden ist das Modell des beschränkten, seine Quellen zusammenleimenden Redaktors, nach dem die "kritische Actaforschung" jahrzehntelang Lukas traktiert hat.2 Geblieben ist die Aufteilung der Lukas zur Verfügung stehenden Quellen nach dem Schema: Berichte von tatsächlichen Vorkommnissen und zusätzliches allgemeines kulturelles Wissen (das sogenannte Lokalkolorit). Wenn immerhin die Möglichkeit eingeräumt wird, sich Lukas als Paulusbegleiter vorzustellen, was geradezu sensationell ist, müsste dies doch Folgen für das "von Lukas entworfene Paulusbild" (S. 252) haben. Mit Meyer kann man die Apostelgeschichte ab Kapitel 20,5 als zusammenhängenden Wir-Bericht verstehen; Reiser hat kürzlich gezeigt, dass Kapitel 27 nicht die romanhafte Darstellung eines beliebigen Schiffbruchs, sondern der plausible Bericht eines Augenzeugen ist. Auch andere Zeugen werden von Lukas namentlich genannt. Er produziert sein "Bild" also nicht abgehoben von der ihn umgebenden Gemeinschaft, sondern im Gespräch mit seinen "Quellen". Deshalb müsste die von Gehrke mit Recht herausgestellte Interaktion von Produzenten und Rezipienten intentionaler Geschichte stärker beachtet werden. Die starke Akzentuierung der "geschichtstheoretischen Einsicht, [...] dass Geschichtsdarstellungen kreative, 'poetische' Entwürfe" sind (S. 248), birgt zudem die Gefahr in sich, dass die genuin historische Kritik der Apostelgeschichte, also die Frage, wie richtig, wie sehr den Geschehnissen entsprechend die Auffassungen des Lukas sind, zu stark in den Hintergrund tritt.3 Der Schiffbruch des Paulus und die Irrfahrten des Odysseus dürfen nicht auf einer Fläche stehen.

Der Band ist mit zahlreichen bibliografischen Angaben ausgestattet, die dankenswerter Weise so angeordnet sind, dass den LeserInnen unnötiges Blättern erspart wird, und bietet ein Stellen-, Personen- und Sachregister.

Anmerkungen:
1 Nach Witte (S. 81) gehört Flavius Josephus sehr viel mehr in die Welt der hellenstisch-römischen Historiografie. Anders Oda Wischmeyer: Josephus habe nie die israelisch-jüdische Geschichts- und Geschichtsschreibungskultur verlassen.
2 Ganz verschwunden ist der Redaktor nicht. Etwas halbherzig und nicht recht verständlich Becker: "Markus arbeitet nicht nur historiographisch, sondern durch die Komposition und Redaktion seiner Quellen deutet und bewältigt er die Geschichte seit Jesu Tod." (S. 235)
3 Reiser, M., Das Ende des Paulus, in: Beihefte ZNW 106 (2001), S. 49-74. Es wäre schön, wenn man den Aufsatz bahnbrechend nennen könnte. Nicht rezipiert sind auch die Überlegungen der Rezensentin in: Das Judenedikt des Kaisers Claudius, Stuttgart 1996, S. 29ff.

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