A. Schwegel: Der Polizeibegriff im NS-Staat

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Titel
Der Polizeibegriff im NS-Staat. Polizeirecht, juristische Publizistik und Judikative 1931-1944


Autor(en)
Schwegel, Andreas
Reihe
Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 48
Erschienen
Tübingen 2005: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XIII, 419 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carsten Dams, Dokumentations- und Forschungsstelle für Polizei- und Verwaltungsgeschichte, Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW, Münster

In den letzen zehn Jahren sind zahlreiche Studien zur Organisations- oder Sozialgeschichte der Polizei im Nationalsozialismus erschienen. Explizite Untersuchungen zum Polizeirecht des NS-Staates sind im gleichen Zeitraum nicht veröffentlicht worden. Die älteren Arbeiten von Stolleis, Fangmann und Terhorst aus den 1970er und 1980er Jahren und von Just aus dem Jahre 1990 stellten den aktuellen Forschungsstand dar.1 Ergänzt wurden diese Erkenntnisse durch Herbert, der in seiner bahnbrechenden Biografie Werner Bests auch ausführlich auf seine Tätigkeit als Gestapojustitiar einging.2

An diese Untersuchungen knüpft nun Andreas Schwegel mit seiner Studie an, die 2004 als Dissertation an der Universität Göttingen angenommen wurde. Im Kern benennt Schwegel drei bisherige Desiderate der Forschung, die er klären will. Die juristische Publizistik zum Polizeirecht war bisher nicht systematisch analysiert worden. Daher ist unklar, wie z.B. der Streit um Fortdauer des § 14 des Polizeiverwaltungsgesetzes (PVG) zu bewerten ist. In den zeitgenössischen Veröffentlichungen spielte die Auseinandersetzung um die so genannte Generalklausel eine zentrale Rolle, wurde aber von der Polizeigeschichtsforschung bisher wenig beachtet. Zwar wurde auf die Wechselwirkungen von Theorie und Praxis des Polizeirechts wurde in der Literatur bereits mehrfach hingewiesen, aber der Einfluss der Rechtssprechung auf das Polizeirechtsverständnis und umgekehrt die Beeinflussung der Gerichte durch die Polizeirechtsliteratur waren bisher nicht eingehend untersucht worden. Als abschließende Frage benennt Schwegel die Klärung der Auseinandersetzung, ob in der Abkehr vom § 14 des PVG die Durchsetzung einer Art nationalsozialistisch-wohlfahrtsstaatlichen Rechtsdoktrin vorliegt, oder ob nicht vielmehr von einer völkischen Erneuerung des Polizeirechts gesprochen werden muss.

Die Quellen auf die sich Schwegel stützt sind ausschließlich veröffentlichte Akten und die zeitgenössische Polizeirechtsliteratur. Schwegel unterteilt die Publikationsorgane in drei Gruppen: Allgemein-juristische wie Deutsches Recht oder Juristische Wochenschrift, staats- und verwaltungsrechtliche wie Deutsche Verwaltung oder die Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften sowie fachspezifische Magazine mit Praxisbezug wie die Kriminalistischen Monatshefte. Weiterhin wurden zahlreiche Dissertationen der 1930er und 1940er Jahre ausgewertet, die zum Teil nicht veröffentlicht wurden und in der Deutschen Bibliothek in Leipzig einsehbar sind. Die Entscheidung auf archivalische Quellen völlig zu verzichten, mag im Rahmen des Themas sinnvoll sein, wird leider aber nicht erläutert.

Schwegel gliedert seine Arbeit in vier Teile, die weitgehend chronologisch aufgebaut sind. Im ersten und kürzesten Teil schildert Schwegel die Entwicklung des Polizeirechts in der Weimarer Republik (S. 23-40). Hierbei konzentriert er sich auf Preußen, was angesichts der Größe und Vorbildhaftigkeit sowie der späteren Verschmelzung von preußischen und Reichsinstanzen sinnvoll erscheint. Der zweite Teil widmet sich der Umgestaltung des Polizeirechts in den ersten drei Jahren des NS-Staates (S. 41-149). Hier steht zwangsläufig die Wandlung der politischen Polizei zur Geheimen Staatspolizei im Vordergrund. Basierend auf der Reichstagsbrandverordnung wurde die klar umrissene Gefahrenabwehrformel des § 14 des PVG auf dem Gebiet der politischen Polizei von einem wenig eingeschränkten Staatsschutzverständnis abgelöst. Zudem wurde durch die gerichtlich nicht nachprüfbare Schutzhaft, das Rechtsschutzverfahren der §§ 45ff. des PVG unwirksam. Allerdings macht Schwegel klar, dass „von einem konsistenten juristischen Legitimationsgerüst für die Ausübung außernormativer Polizeigewalt in der Frühphase der NS-Diktatur noch nicht gesprochen werden kann“ (S. 89). Hierzu waren die Begründungsmuster zu heterogen.

Das Jahr 1936 bildet für die deutsche Polizei einen markanten Bruch: Durch die Ernennung Heinrich Himmlers zum Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern wurde zum einen die Zentralisierung der Polizei, zum anderen die Verschmelzung von Partei- und Staatsinstanzen vorangetrieben. Auch auf dem Gebiet des Polizeirechts kam es zu gravierenden Einschnitten (S. 150-279). Den ersten markierte das Gesetz über die Geheime Staatspolizei (Drittes Gestapogesetz), welches weitreichende Folgen hatte. Durch den § 1 Abs. 1 des Gesetzes wurde die juristische Entwicklung seit der Reichstagsbrandverordnung kodifiziert und es kam zu einer klaren Abkehr von der Generalklausel des PVG auf dem Gebiet der politischen Polizei. Weiterhin wurden alle Anordnungen der Geheimen Staatspolizei vom Rechtsschutzverfahren ausgeschlossen. Schließlich war das Geheime Staatspolizeiamt nunmehr gegenüber Ober- und Regierungspräsidenten weisungsberechtigt, wodurch die staatliche Mittelinstanz aufgeteilt und die organisatorische Verselbstständigung der Gestapo verfestigt wurde.

Die Entwicklung des Polizeirechts verlief keineswegs konfliktfrei wie Schwegel anhand der Auseinandersetzung des II. Polizeirechtsausschusses unter der Leitung Werner Bests und Reinhard Höhns mit dem Preußischen Oberverwaltungsericht unter Leitung Bill Drews zeigt (S. 244-279). Während Drews für das allgemeine Polizeirecht weiterhin an der Generalklausel des § 14 PVG festhielt und dieses sehr elastisch interpretierte, wollten Höhn und Best die vollständige Abkehr vom überlieferten Rechtssystem. Die Polizei, so die beiden führenden SD-Ideologen, müsse komplett von juristischen ‚Fesseln’ befreit werden.

Dieses neue Rechtsverständnis und seine praktischen Auswirkungen untersucht Schlegel im vierten Teil seiner Arbeit (S. 280-370). Klar kann er hier nachzeichnen, wie sich das radikal-völkische Rechtsverständnis in den späten 1930er- und frühen 1940er-Jahren flächendeckend durchsetzte. Die Gestapo wurde hierbei zum Mittelpunkt und „zum maßstabsetzenden institutionellen Faktor in der ‚Revolutionierung’ des Polizeirechts schlechthin“ (S. 368). Maßgeblichen Anteil an dieser Umgestaltung hatte Werner Best mit seinem damaligen Standardwerk „Die Deutsche Polizei“ aus dem Jahr 1940, in dem er das Bild eines inneren Staatsschutzkorps entwarf. Hieran knüpften insbesondere junge karriereorientierte Juristen an, denen sich auf dem Gebiet des Polizeirechts umfangreiche Profilierungsmöglichkeiten boten.

Abschließend beantwortet Schwegel seine eingangs aufgeworfenen Kernfragen kurz und präzise. Er macht zunächst deutlich, dass für die Jahre 1933 bis 1935 das preußische Oberverwaltungsgericht noch einen starken Einfluss hatte, so dass von einer allgemeinen Abkehr von der Generalklausel nicht gesprochen werden kann. Dies geschah erst mit dem bereits erwähnten Gestapogesetz von 1936. Es ist ein Verdienst von Schlegel, dies deutlich herausgearbeitet zu haben.

Die Frage, ob es sich bei dem nationalsozialistischen Polizeiverständnis um einen Rückfall in einen wohlfahrtsstaatlichen Polizeibegriff handelte, wird von Schwegel klar verneint. Durch die Auswertung der Polizeirechtsliteratur der 1940er-Jahre kann Schwegel klar belegen, dass sich die herkömmlichen Vorstellungen auflösten und einer neuen Staatsdoktrin Platz machten. Als grundlegende Faktoren der neuen Polizeirechtslehre benennt Schwegel „eine vollständige Ausrichtung des Staates am völkischen Primat, eine eigentümliche Doppelstruktur von Staatsgewalt und ein am Schutzkorpsprinzip orientierter Verwaltungsbegriff“ (S. 379). Wie tief die Abkehr vom bisherigen Recht war, zeigt sich auch daran, dass die Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zunehmend durch „Volksordnung“ oder ähnliche Begriffe ersetzt wurden. Durch seine tief gehende Analyse der zeitgenössischen Literatur belegt Schwegel abermals die These der Aufteilung in einen Maßnahmenstaat und einen Normenstaat als Charakteristikum des NS-Herrschaftssystems, wie dies bereits von Ernst Fraenkel 1940 konstatiert wurde.3 Mit seiner materialreichen gut lesbaren Studie hat Schwegel unsere Kenntnisse über das Polizeirecht des NS-Staates deutlich erweitert.

Anmerkungen:
1 Stolleis, Michael, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974; Fangmann, Helmut D., Faschistische Polizeirechtslehren, in: Reifner, Udo; Sonnen, Bernd-Rüdiger (Hgg.), Strafjustiz und Polizei im Dritten Reich, Frankfurt am Main 1984, S. 173-207; Terhorst, Karl-Leo, Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte vorbeugender Verbrechensbekämpfung, Heidelberg 1985; Just, Steffen, Polizeibegriff und Polizeirecht im Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung der Arbeit des Ausschusses für Polizeirecht bei der Akademie für Deutsches Recht, jur. Diss Würzburg 1990.
2 Herbert, Ulrich, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996.
3 Fraenkel, Ernst, The Dual State, New York 1940.

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