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Titel
Was ist Kulturgeschichte?.


Autor(en)
Burke, Peter
Erschienen
Frankfurt am Main 2005: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
203 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang E.J. Weber, Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg

Wenn einer der international renommiertesten Historiker am Ende seiner aktiven Berufslaufbahn eine Abhandlung über das von ihm maßgeblich mit geprägte Fachgebiet vorlegt, verdient dies immer besondere Beachtung. Erst recht ist Aufmerksamkeit geboten, wenn es sich bei der in den Blick genommenen Disziplin um einen so kontrovers diskutierten Fall wie denjenigen der Kulturgeschichte handelt.

Erklärtes Ziel von Peter Burkes schmalem, erstmals 2004 auf Englisch erschienenen Band ist es, „nicht nur eine Erklärung für die Wiederentdeckung der Kulturgeschichte seit den 1970er Jahren“ zu bieten, „sondern auch dar[zu]legen, was Kulturgeschichte ist, und mehr noch, was Kulturhistoriker tun, wobei die unterschiedlichen Arten von Kulturgeschichte, die Debatten und Konflikte, aber auch gemeinsame Interessen und Traditionen berücksichtigt werden sollen“ (S. 7). Burkes Vorgehensweise ist eine doppelte, jedoch miteinander verschränkte: In einer wissenschaftsinternen Perspektive soll die Problemwahrnehmungs- und Problemlösungsgeschichte des Fachgebietes dargelegt werden, in einer externen Perspektive das, „was [die Kultur-]Historiker für die Zeit tun, in der sie selbst leben“. Beabsichtigt sei eine „illustrierte Untersuchung von Trends“ und kein „Versuch, die besten Werke der letzten Generation aufzulisten und zu besprechen“ (S. 13). Mit der aus seiner Sicht ohnehin fruchtlosen Definition von Kulturgeschichte – noch am ehesten könne man „das Interesse für das Symbolische oder dessen Deutung“ als „gemeinsame Grundlage der Kulturhistoriker“ bezeichnen (S. 10) – bzw. der dieser historischen Perspektive zugrunde liegenden Leitkategorie Kultur hält sich der bewährte Pragmatiker nicht lange auf.

Das erste Kapitel ist der „Großen [sic!] Tradition“ der Kulturgeschichte gewidmet. Gestiftet wurde diese Tradition nach Burkes bekannter Auffassung von deutschen Autoren „ab etwa 1780“, die sich mit „Geschichten der menschlichen Kultur oder der Kultur einzelner Regionen oder Länder“ befassten (S. 14). Das auf diese Weise begründete „Zeitalter der sogenannten ‚klassischen‘ Kulturgeschichte“ dauerte „von 1800 bis 1950“ (S. 15). Die Reihe ihrer Vertreter ist mit den üblichen Namen ausgestattet; die für die Entwicklung des transdisziplinären Fachgebiets in Beschlag genommenen Disziplinen reichen von der allgemeinen Geschichtswissenschaft über die Soziologie, Kunstgeschichte und Geistes- bzw. Ideengeschichte bis zur Volkskunde bzw. Ethnologie. Nicht verschwiegen wird die Rolle des Marxismus und von dessen Gegnern sowie zumindest ansatzweise der konservativen Kulturkritik einerseits und der Cultural Studies andererseits.

Um die problematischen Grundannahmen und Methoden dieser teils antagonistischen oder zumindest alternativen, teils komplementären Richtungen dreht sich die Erörterung im zweiten Kapitel. Die ohne eindeutige eigene Wertung referierte Kritik an den Klassikern Burckhardt, Huizinga und anderen hebt vor allem auf deren vielfach impressionistische Argumentationsweise oder mangelnde analytische Tiefe ab; auch die unreflektierte Haftung am bürgerlichen Zeitgeist wird bemängelt. Bei den diversen marxistischen Ansätzen beklagt Burke vor allem Ökonomismus und Determinismus. Ein Zugang über die Konzeption ‚Volkskultur versus Hochkultur‘ unterliege dagegen Missverständnissen, die sich aus einer polaren Gegenüberstellung der beiden Kulturen ergeben würden.

Nachdem er neuere Versuche der Anthropologie und der Ethnologie diskutiert hat, den Leitbegriff ‚Kultur’ zu definieren (vgl. S. 45f.), gelangt Burke zum dritten Kapitel, überschrieben „Die Stunde der historischen Anthropologie“. Dort widmet er sich der gegenwärtigen, mithin nachklassischen oder neuen Phase der Kulturgeschichte. Gestützt auf einen neuen Kulturbegriff, der sich bei unterschiedlichsten Autoren unterschiedlichster Fächer durchsetzte, habe sich das Panorama der Fragen und Studien explosionsartig ausgedehnt – vor allem dank des Einbezugs der Literaturwissenschaften. Damit sei es möglich geworden, ebenso unterschiedlichste soziokulturelle Bedürfnisse und Interessen aufzugreifen und kulturhistorisch abzuarbeiten. Explizit diskutiert Burke dabei die Mikrogeschichte, den Postkolonialismus und den Feminismus.

Dass aus den Aufbruchjahren etwa zwischen 1970 und 1990 „ein neues Paradigma der Kulturgeschichte“ entstanden sei, wird jedoch bereits in der Überschrift des anschließenden Kapitels mit einem Fragezeichen versehen (S. 75). Als charakteristisch für die Neue Kulturgeschichte nennt Burke nichtsdestotrotz ein „gesteigertes Interesse an Theorie“, verbunden mit den Werken und Wirkungen der auch derzeit noch aktuellen kulturhistorischen Lichtgestalten Bachtin, Elias, Foucault und Bourdieu (S. 75-86), sowie eine „Wendung zur Praxis“ – von der Geschichte des Lesens, der „Darstellung“ (Imagination, Präsentation) und der Gedächtnisbildung bis zur materiellen Kultur und zur Körpergeschichte. Von den Problemen der „Darstellung“ oder „Präsentation“, die „zu implizieren scheinen“, dass „Bilder und Texte die soziale Realität lediglich widerspiegeln oder nachahmen“, sei die Neue Kulturgeschichte jüngst zur „Konstruktion“ gelangt, also der wesentlich von Philosophie, Psychologie und Soziologie angeregten Sicht, „Wirklichkeit werde durch Darstellung erst konstruiert“ (S. 111).

Hier spannt sich der Bogen der erörterten oder zumindest erwähnten Werke und Ideengeber von Michel de Certeau über Hayden White bis zu den mittlerweile sattsam bekannten Rollen- und Gruppenkonstruktionen. Weil zu jeder Konstruktion die Nutzung und Schaffung entsprechender Anlässe und Performanzen gehört, schließen sich entsprechende Abschnitte dazu an. Von der Übersteigerung bzw. Brüchigkeit derartiger Ideen und Praktiken gelangt Burke elegant auf das weite, aber nur sehr knapp skizzierte Feld der Dekonstruktion als kulturhistorischem Forschungsansatz und -bereich.

Das sechste und letzte Kapitel, betitelt mit „Jenseits der kulturellen Wende?“, konstatiert für die Gegenwart eine „Zeit der Besinnung, der Bestandsaufnahme und der Konsolidierung“, welche die kreativere, innovativere Phase davor abschließe (S. 147). Erklärt wird dieser Wandel einerseits mit der wachsenden Erkenntnis mancher fachlichen Hyperstilisierungen und methodischen Schwächen der Vorperiode, andererseits extern mit der Entstehung neuer Erkenntnisbedürfnisse der gegenwärtigen Gesellschaft. Eigens behandelt werden in diesem Rahmen die Kulturgeschichte der Politik, der Gewalt, der Emotionen und der Kulturbegegnung bzw. der Grenzen und der Fremdheit. Weitere für die aktuelle Konfiguration der Kulturgeschichte charakteristische Richtungen sind aus Burkes Sicht die Kulturgeschichte des Sozialen – inhaltlich nicht ganz stimmig überschrieben mit „Die Rache der Sozialgeschichte“ (S. 165-171) – und die neuartige Befassung mit Erzählung und Gegenerzählung (S. 178-183).

Der etwas unvermittelte und sehr knappe, zugleich das letzte Kapitel und den gesamten Band beendende Schluss (S. 187f.) ist sehr persönlich gehalten; hier werden nur zwei Argumente beigebracht bzw. bekräftigt. Erstens sei die Kulturgeschichte „schlicht ein notwendiger Bestandteil des kollektiven geschichtswissenschaftlichen Unternehmens“, ein spezifischer Zweig jeglicher wissenschaftlichen Geschichtsbefassung. Zweitens bestehe ihr wesentliches Verdienst darin, den „empiristischen oder ‚positivistischen‘ Historikern“ wieder „die historische Bedeutung des Symbols“ beigebracht, d.h. ihnen die „Buchstabengläubigkeit“ hoffentlich für immer ausgetrieben zu haben (S. 184). Dem Text angefügt ist eine Liste ausgewählter, zwischen 1860 und 2003 erschienener, von Burke als wesentlich angesehener Werke der Kulturgeschichte, gefolgt von einer Danksagung und einem in seiner Stichwortwahl nicht durchweg überzeugenden Register (z.B. fehlt „Wahrnehmung“).

Zweifellos: Hier ist einem Meister ein souveräner Entwicklungsüberblick und eine bedeutende Standortbestimmung seines Fachgebiets gelungen, ohne dass er hegemoniale Ansprüche erheben würde. Die häufige, ausdrückliche Deklaration der Sichtweisen und Argumente als persönlich lässt kritische Anmerkungen zusätzlich problematisch erscheinen. Einige seien dennoch genannt, anknüpfend an dem von Burke vielfach betonten Tatbestand, dass es sich auch bei der Kulturgeschichte um einen endlosen Diskurs handelt, der nur durch kritischen Austausch vorangebracht werden kann. Hinsichtlich der Auswahl der erörterten Ansätze und Themengebiete erstaunt das Fehlen der Mediengeschichte. Entgegen der eigenen Programmatik nicht wirklich umgesetzt erscheint die Berücksichtigung der wechselnden Quellen, welche die Kulturgeschichte ja in einem weit breiteren Spektrum als die allgemeine Geschichtswissenschaft heranzieht – neben Text und Bild auch das Objekt sowie die Sekundärformen Ensemble und Interview. Zudem bleibt der beabsichtigte Bezug zu den externen, insbesondere sozialen Bedingungen kulturhistorischen Kenntnisbedarfs etwas auf der Strecke; wie derartige Impulse von den Kulturhistorikern aufgenommen und als wissenschaftliche Deutungsangebote zurückgegeben werden, lässt Burke weitgehend unklar.

Schließlich erstaunt die lediglich beiläufige Erwähnung desjenigen Objektbereichs kulturhistorischer Forschung, der für eine professionelle Bilanz doch besonders attraktiv sein müsste – also des Wissens, der Wissenschaft und der Universität. Von den weitreichenden Implikationen des konstruktivistischen Ansatzes für die Vorstellung wissenschaftlicher Wahrheit oder der Existenz einer wissenschaftlich eruierbaren ‚einen‘ Wahrheit abgesehen: Die Kulturhistorie am Ende auf sich selbst anzuwenden, etwa den Kontext des auf S. 13 geäußerten Bedauerns darüber zu erläutern, dass zahlreiche Arbeiten unter anderem zur Frühen Neuzeit unberücksichtigt bleiben mussten, „darunter auch viele, die von Freunden [...] stammen“, hätte dem Band einen zusätzlichen, kritischen Mehrwert verschaffen können.

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