F. Schmaltz: Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus

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Titel
Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus. Zur Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Instituten, Militär und Industrie


Autor(en)
Schmaltz, Florian
Reihe
Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus 11
Erschienen
Göttingen 2005: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
676 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Reichherzer, SFB 437 "Kriegserfahrungen", Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg experimentierten Wissenschaftler und Militärs in vielen Staaten mit Reiz- und Kampfstoffen. Nachdem einige dieser Giftgase bereits in kleinerem Rahmen, jedoch ohne jeglichen militärischen Erfolg eingesetzt worden waren, kam es am 22. April 1915 bei Ypern zum ersten großflächigen Einsatz von Giftgas. Maßgeblich daran beteiligt war der Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie, Fritz Haber. In der Feuertaufe der deutschen „Gaswaffe“, der ersten Massenvernichtungswaffe, deutet sich der Zusammenhang zwischen der Kampfstoff-Forschung und den Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) an, dem Florian Schmaltz in seiner Bremer Dissertation für die Zeit des Nationalsozialismus nachgeht. Die Arbeit entstand im Rahmen des Forschungsprogramms der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur „Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus“.

Gegenstand der Studie ist die Forschung über Chemiewaffen und entsprechende Abwehrmittel während der NS-Zeit. Anhand der Einbindung der Kaiser-Wilhelm-Institute (KWI) in die nationalsozialistische Kampfstoff-Forschung möchte Schmaltz die vielseitigen Kooperationsverhältnisse zwischen Wissenschaft, Militär, Industrie und den Institutionen des NS-Staates aufzeigen. Hierzu betrachtet er die sechs Institute der KWG, die sich mit unterschiedlichem Engagement der Erforschung von Kampfstoffen widmeten.

Blickt man auf das Gesamtbild der Kampfstoff-Forschung, das Schmaltz zeichnet, fällt besonders die dezentrale, vom Heereswaffenamt koordinierte, multidisziplinäre Organisation auf, die sich während der Weimarer Republik aus Gründen der Geheimhaltung und dem Unterlaufen des Versailler Vertrages ergab und auch im Nationalsozialismus weiter bestand. Dem Militär bot sich so die Möglichkeit, ein enges Netzwerk von Experten zu spinnen, die sich bereitwillig für die Rüstungsforschung mobilisieren ließen. Dabei griffen die Militärs auf bereits bestehende Strukturen zurück, und es gelang ihnen rasch, die Forschung auf Bedürfnisse der Armee hin auszurichten. Die Forschungsergebnisse der so genannten Grundlagenforschung konnten somit ausgesprochen effektiv in militärische Anwendungskontexte transformiert werden.

In seiner Arbeit nimmt Schmaltz zunächst auf einer ersten Ebene die Bestandsaufnahme sämtlicher Forschungsprojekte an Instituten der KWG vor, die im Zusammenhang mit der Erforschung chemischer Waffen standen oder Abwehrmaßnahmen betrafen. Die Einbindung der KWG-Institute in die Kampfstoff-Forschung variierte hierbei: Den Instituten, die mit zeitlich begrenzten Auftragsarbeiten betraut waren, standen die Einrichtungen gegenüber, die fest institutionalisierte Kampfstoffabteilungen aufwiesen. Zur ersten Gruppe gehörten erstens das „KWI für Arbeitsphysiologie“, das Dauertragetests mit Gasmasken durchführte, zweitens das „KWI für Lederforschung“, das Imprägnierungsmöglichkeiten von Leder gegen den Kampfstoff „Lost“ und Dekontaminationsverfahren erkundete. Drittens ermittelte das „KWI für Strömungsforschung“ ein nomografisches Rechenmodell zur Prognose der Ausbreitung von Giftgaswolken und Nebel auf See, viertens testete das „KWI für Hirnforschung“ mittels radiaktiver Isotopen die Wirkungsweise von Gasmaskenfiltern durch einen Neutronengenerator, den die Auergesellschaft bereitstellte. Zur Gruppe der Institute mit eigenständigen Kampfstoffabteilungen gehörten das „KWI für physikalische Chemie und Elektrochemie“ sowie das „KWI für Medizinische Forschung“. Das erstere war neben der Aerosolforschung, die der Entwicklung von Detektoren und Filterstoffen diente, auch in die Entwicklungs-, Anwendungs- und Produktionsfragen des hochexplosiven so genannten „N-Stoffes“ involviert. Ausgehend von Therapie- und Abwehrmöglichkeiten von Giftgasen durch Vitamine entwickelte das „KWI für Medizinische Forschung“ die heute noch zu den gefährlichsten Massenvernichtungswaffen gehörenden Nervenkampfstoffe „Soman“, „Sarin“ und „Tabun“. Mit diesen Kampfstoffen und ihrer großtechnischen Produktion stellten die Wissenschaftler der KWG dem nationalsozialistischen Regime Waffen zur Verfügung, die ihnen einen großen rüstungstechnologischen Vorsprung vor alliierten Projekten auf diesem Gebiet sicherten, aber aufgrund strategischer Erwägungen hinsichtlich der mangelhaften Abwehrmöglichkeit von denkbaren Vergeltungsmaßnahmen nicht zum Einsatz kamen.

Auf einer zweiten Ebene analysiert Schmaltz die Kooperationsverhältnisse der Wissenschaftler nach Außen in ihrer Entwicklungsdynamik und mit Blick auf ihre personellen und strukturellen Verflechtungen. Mit der Beschreibung der einzelnen Projekte verdeutlicht er die engen Verbindungen der Kampfstoff-Forschung zwischen der KWG und dem Militär in Form des Heereswaffenamtes, der Militärärztlichen Akademie, Forschungsfördereinrichtungen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Reichsforschungsrat, der „Vierjahresplanbehörde“, dem administrativen Apparat des NS-Staates sowie der chemischen Industrie – vor allem der I.G. Farben und der Auergesellschaft. Trotz teilweise unterschiedlicher Interessen der beteiligten Akteure war die Kooperationsbereitschaft unter ihnen ausgesprochen hoch, was nach Schmaltz vornehmlich auf die Integrations- und Vernetzungskompetenzen einzelner Institutsleiter zurückging. Sie unterhielten gute Beziehungen zur Industrie und zum Militär, aber auch zum Regierungs- und Verwaltungsapparat sowie zu SS-Institutionen. Schmaltz thematisiert darüber hinaus Verknüpfungen zum Lager- und Vernichtungssystem des Nationalsozialismus, indem er nachweist, dass KZ-Häftlinge in Baumaßnahmen eingebunden waren und Menschenversuche an ihnen durchgeführt wurden, bei denen die Möglichkeit eines grausamen Todes von den Wissenschaftlern willentlich in Kauf genommen wurde.

Die Forschungsprojekte der KWI beschreibt Schmaltz ebenso ausführlich wie für den chemischen Laien verständlich. Auf der Basis umfangreicher archivalischer Quellen rekonstruiert er detailliert Inhalte, Verlauf, Finanzierung und Vernetzungen der Forschungen. Auch die beteiligten Personen werden einbezogen; an Beispielen wie den Wissenschaftsorganisatoren Richard Kuhn und Rudolf Mentzel lassen sich Verflechtungen und Ämterkumulation im Bereich der NS-Wissenschaftsorganisation einmal mehr nachdrücklich aufzeigen.

Schmalz argumentiert zudem, dass die Vertreibungs- und Verdrängungspolitik jüdischer Wissenschaftler durch das nationalsozialistische Regime als „strukturelle Voraussetzung“ (S. 598ff.) für die Umleitung von Instituts-Ressourcen in die Erforschung von Kampfstoffen anzusehen ist. Dies muss wohl insofern relativiert oder als unglücklich formuliert angesehen werden, als die Verdrängung jüdischer Wissenschaftler auf keinerlei wissenschaftspolitischer Intention beruhte, sondern allein der Rassepolitik der Nationalsozialisten geschuldet war. In ihrer Auswirkung, also den frei werdenden Stellen, bot dieses Vorgehen allerdings die Möglichkeit, Umstrukturierungen vorzunehmen. Funktional betrachtet wiesen sie jedoch keine tieferen rassistischen oder antisemitischen Implikationen auf.

Mit seiner Dissertation widmet sich Schmalz einem bislang vernachlässigten Feld der Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Seine Arbeit schärft das Bild der Wissenschaften im Nationalsozialismus, deren genuine Wissenschaftsfeindlichkeit von der neueren Forschung relativiert wurde. Stattdessen wird heute die immense Nachfrage des NS-Herrschaftsapparates nach wissenschaftlichen Kenntnissen betont, die durchaus genügend Spielräume für ein modernes, anwendungsorientiertes Wissenschaftssystem zuließ. Schmaltz gelingt der Nachweis, dass sich bezogen auf die Kampstoff-Forschung das polykratische Herrschafts- und Forschungsförderungssystem des Dritten Reiches nicht hemmend, sondern ausgesprochen funktional und effektiv auswirkte. Seine Analyse bestätigt zudem die wissenschaftsgeschichtlichen Kontinuitäten über die vermeintlichen Zäsuren von 1933 und 1945 hinweg.

Der 600-seitige Umfang der Dissertation von Schmaltz ist vor allem der ausführlichen Beschreibung der Forschungsprojekte und ihrer Mitarbeiter geschuldet. Die gleichen Ergebnisse wären sicher auch aus einer gestrafften und pointierten Argumentation ersichtlich geworden. Eine abschließende Einschätzung der Studie fällt deshalb ambivalent aus. Wegen der detaillierten Beschreibung der einzelnen Forschungen bleiben wichtige Analyseebenen und der Einbettung in einen größeren wissenschaftshistorischen Rahmen zu stark außen vor. Schmaltz verschenkt hier leider Potential, das in seinen beachtlichen Ergebnissen angelegt ist. Andererseits bietet die sorgfältige und genaue Darstellung der Forschungsprozesse in den Kaiser-Wilhelm-Instituten eine ebenso anregende wie unumgängliche Ausgangsbasis für weitere Forschungen. Wer sich über die Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus informieren will, findet hier eine ausgezeichnete Grundlage mit Handbuchqualitäten, deren Lektüre, je nach Erkenntnisinteressen und Forschungsschwerpunkten der Leser/innen, durchaus selektiv erfolgen kann.

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