Cover
Titel
Großbritannien seit 1945.


Autor(en)
Mergel, Thomas
Reihe
Europäische Zeitgeschichte
Erschienen
Göttingen 2005: UTB
Anzahl Seiten
229 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elfie Rembold, SI Projects GmbH

Ein weitreichendes Ereignis in Westeuropa nach 1945 war die politische Entscheidung zur Integration. Wie die Entwicklungen in den einzelnen europäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg verlaufen sind, wie sich ein Europa in seinen Unterschieden und Gemeinsamkeiten herausbildete, soll den Studierenden anhand von Textbooks der neu herausgegebenen Buchreihe „Europäische Zeitgeschichte“ vermittelt werden. Als Mitherausgeber der Reihe hat Thomas Mergel mit Großbritannien begonnen und damit zugleich Maßstäbe für die folgenden Bände gesetzt. Herausgekommen ist ein Buch, das auf begrenztem Raum die wesentlichen Felder der britischen Nachkriegsgeschichte abhandelt und durch eine kulturhistorische und relationale Betrachtungsweise neues Licht auf ein nicht unbekanntes Forschungsfeld wirft.1

Der Band ist in zehn Kapitel untergliedert und mit einer ausführlichen Einleitung und einer synthetisierenden Zusammenfassung versehen. Der Autor fasst die britische Nachkriegsentwicklung in den Begriffen des „consensus“ und „decline“ und bewegt sich damit im Mainstream der Britannienforschung.2 Durch seinen kulturhistorischen Ansatz gelangen neben der politischen Verfasstheit und der wirtschaftlichen Organisation, deren Darstellung sich nicht in Strukturen und Zahlen erschöpft, auch die Alltagswelten in das Blickfeld der Leser/innen. Die durchschnittlich jeweils zwanzig Seiten umfassenden zehn Kapitel, deren Reihenfolge sich chronologisch ergibt, behandeln in konziser Form die Felder Politik, Ökonomie, Wohlfahrtsstaat, Empire, Außenpolitik, Inneres/Soziales, Lebensstil, Monarchie, Devolution und Thatcherismus.

Im ersten Kapitel bietet Mergel einen systematischen Überblick über die bekanntlich ungeschriebene Verfassung, den Aufbau und die Funktionsweise des Parlaments sowie das Selbstverständnis von Tories und Labour innerhalb des Zweiparteiensystems. Übersichtlich referiert Mergel über den Sonderweg, den Großbritannien seit dem 18. Jahrhundert als einstiger Pionier der Industrialisierung beschritten hatte und der nach dem Zweiten Weltkrieg in der Einordnung als zweitklassige, in mancherlei Hinsicht gar als drittklassige Macht endete. In der Nachkriegszeit setzten britische Politiker auf Sozial- statt Freihandelspolitik, mit der Folge, dass für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates ganze Industriezweige verstaatlicht wurden. Hierin sieht Mergel den Kern der „englischen Krankheit“, weil nicht zuletzt durch die Macht der Gewerkschaften Investitionen gebremst wurden und die Produktivität sank. Diese Politik blieb lange Konsens und wurde nur von einer kleinen intellektuellen Minderheit kritisiert.3 Mergels vergleichender Blick zeigt, dass das so genannte „Beveridge-System“, auf dem der Wohlfahrtsstaat ruhte, eine Vorbildfunktion für die Einführung der Alterssicherung in der Bundesrepublik übernahm. An dieser Stelle hätte ein genauerer Blick zurück auf die Anfänge des britischen Wohlfahrtsstaates im frühen 20. Jahrhundert gezeigt, dass der Transfer ein wechselseitiger war, da auch die Briten unter ihrem damaligen Schatzkanzler Lloyd George vom Bismarckschen Sozialsystem lernten.

Im Weiteren folgt der Autor der in der Forschung verbreiteten These, dass mit dem Aufbau des Wohlfahrtsstaates der Untergang des Empires einherging (S. 93). Die vergleichsweise glimpflich ablaufende Dekolonialisierung mochte der britischen Eigenart geschuldet gewesen sein, einerseits Einsicht in die Notwendigkeit zu beweisen und andererseits einen sukzessiven Wandel anzustreben. Der schnelle Rückzug und die Transformation des Empires in den Commonwealth verhinderten größere politisch-gesellschaftliche Eruptionen. Außenpolitisch bewahrte sich Großbritannien in der ‚special relationship’ zu den USA einen Rest ehemaliger Weltmachtfunktion. Gleichzeitig bestimmte diese aber auch sein ambivalentes Verhältnis zur europäischen Integration. Den inneren Wandel typologisiert Mergel mentalitätsgeschichtlich: von der „Klasse“ bis in die 1970er-Jahre hinein, zum „customer“ während der Thatcher-Ära und schließlich zum „citizen“ seit Blair. Eine überkommene Größe des alten Empires bleibt die Immigration. Der Autor verzeichnet im liberalen Großbritannien ähnliche Probleme wie in anderen westeuropäischen Ländern, von Rassenunruhen bis zu rassistischen, nationalistischen Gegenreaktionen. Hier darf man auf den angekündigten Band zu Frankreich neugierig sein, um wirkliche Vergleiche anstellen zu können.

Sein zweifellos stärkstes Kapitel widmet Mergel den „Wandlungen des Lebensstils“. Hier beschreitet er Neuland und es gelingt ihm, ein lebendiges Bild der britischen Popkultur zu zeichnen. Überzeugend vertritt er die These von der dominanten Rolle der Medien in der schnellen Veränderung der Lebensstile seit den späten 1950er-Jahren (S. 133). Diesen kulturellen Wandel diskutiert er anhand der Kategorien Familien, Generationen, Gender und Konsum. Es entsprach dem Lebensgefühl der Nachkriegsgeneration, sich mittels Musik, Mode und Drogen auszudrücken; Radio und Schallplatten trugen dieses weit über die Grenzen des Inselreiches hinaus. Dass sich diese Aufbruchstimmung in Großbritannien eher in kulturellen Extravaganzen und kulturellem Protest niederschlug statt in politischer Revolte wie bei den 1968ern auf dem Kontinent, verweist auf eine britische Eigenart – ein traditionell liberales politisches System und die frühe Durchsetzung der Konsumgesellschaft. Kritisch bleibt anzumerken, dass in diesen ansonsten brillanten Kapitel der Erklärungsfaktor „Religion“ völlig fehlt, was aber daran liegen mag, dass die Aufarbeitung dieser Thematik gerade erst beginnt.4 Man kann diesen Wandel zur „permissive society“ auch als einen Befreiungsschlag einer säkularen Generation begreifen, die religiösem Eifer und Bigotterie lautstark den Gehorsam aufkündigte.

In den drei letzten Kapiteln behandelt Mergel die Monarchie, den Regionalismus (Devolution) und den Thatcherismus. Das Königshaus rückt in seiner repräsentativen und performativen Funktion sowie in seiner Wechselbeziehung zu den Medien ins Blickfeld. Bereits George V. (1910-1936) war ein Monarch, der Großbritannien im Empire und der Außenpolitik aktiv repräsentierte5, aber in besonderem Maße sind es die audiovisuellen Übertragungen öffentlich inszenierter Feierlichkeiten seit den 1950er-Jahren, welche die affektive Funktion der Monarchie und damit ihre Daseinsberechtigung untermauerten. Andererseits profitiert die Medienindustrie von der Vermarktung der königlichen Familie. Der weitgehende Konsens über die Monarchie hält auch den britischen Mehrvölkerstaat zusammen, der jedoch seit Antritt der Labourregierung 1997 zunehmend Macht an die ihn konstituierenden Regionen abgibt. Mergel irrt, wenn er den Devolutionsprozess im Modell des deutschen Bundesstaat enden sieht (S. 172). Devolution ist ein „top-down“-Prozess und deshalb keineswegs mit dem deutschen Föderalismusmodell gleichzusetzen. „Federalism“ meint zwar regionale Selbstverwaltung, aber immer nur relativ zur absoluten „Sovereignty of Parliament“.6 Zentrale politische und ökonomische Steuerungsmechanismen bleiben in Westminster konzentriert. Vorbild für „devolution“ ist somit eher die spanische Regionalverwaltung als der deutsche Bundesstaat.

Entsprechend der politischen Bedeutung Margarete Thatchers beschäftigt sich Mergel ausführlich mit dem Thatcherismus. Er sieht ihren Aufstieg in den Bedingungen der krisenhaften 1970er-Jahre und beschreibt sie als Tochter eines Gemischtwarenhändlers, die sich der freien Initiative des Individuums ebenso verpflichtet sah wie rigorosen moralischen Standards. Sie kündigte den politischen und gesellschaftlichen Konsens auf und verfolgte stattdessen das Ideal einer ‚property owning democracy’. Dennoch: die Macht der Politik endet bei der Kultur – so könnte man Mergels Credo beschreiben, wenn er die Fortentwicklung zur „permissive society“ implizit als die säkulare Struktur des 20. Jahrhunderts begreift, an der auch die „Eiserne Lady“ an ihre Grenzen stieß. In der weitgehenden Fortsetzung ihrer Politik durch Tony Blair, scheint sich ein neuer Konsens zu etablieren, der wieder zur britischen Tradition der Staatsferne zurückkehrt.

Die Rezensentin hat dieses Buch mit Gewinn gelesen, auch wenn es mit einigen leidigen Makeln behaftet ist. Leider glauben auch renommierte Verlage inzwischen offenbar, sich ein Lektorat sparen zu können, was sich im vorliegenden Fall in gehäuften sprachlichen Fehlern niederschlägt. Gelegentlich bringt die sehr komprimierte Darstellung Ungenauigkeiten mit sich und zum Teil auch Fehleinschätzungen (Stichwort „Federalism“), die jedoch den Gesamtwert des Buches nicht schmälern. Insgesamt hat Thomas Mergel ein lehrreiches und gut lesbares Buch vorgelegt. Es ist als Reader für Studierende hervorragend geeignet, da es Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Kapitel liefert, Ausschnitte aus Quellentexten einbaut und übersichtliche Tabellen eingefügt hat. Vorbildhaft für weitere Bücher dieser Art ist auch das den einzelnen Kapiteln zugeordnete und vor allem weitgehend kommentierte Literaturverzeichnis sowie das Personen- und Sachregister am Schluss. Man darf auf die folgenden Erscheinungen dieser Reihe gespannt sein.

1 Vgl. Sturm, Roland, Großbritannien. Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Opladen 1991.
2 Die Konsensthese ist zwar nicht unumstritten, stellt aber bislang immer noch das überzeugendste Interpretationsmuster dar: Jones, Harriet; Kandiah, Michael (Hg.), The Myth of Consensus. New Views on British History 1945-1964, Basingstoke 1996; Altmann, Gerhard, Abschied vom Empire. Die innere Dekolonisation Großbritanniens 1945-1985, Göttingen 2005, S. 13-16.
3 Muller, Christopher, The Institute of Economic Affairs. Undermining the Post-war Consensus, in: Contemporary British History 10,1 (1996), S. 88-110.
4 Sheridan, Gilley; Sheils, W.J. (Hgg.), A History of Religion in Britain. Practice and Belief from Pre-Roman Times to the Present, Oxford 1994; siehe auch den Tagungsbericht „Protestantismus und soziale Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren“ auf <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=936>, sowie Barbara Stambolis Rezension zu Hölscher, Lucian, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland, München 2005, unter: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-049>.
5 Paulmann, Johannes, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000.
6 Mitchell, James, Territorial Politics and Change in Britain, in: Catterall, Peter; Kaiser, Wolfram; Walton-Jordan, Ulrike (Hgg.), Reforming the Constitution. Debates in Twentieth Century Britain, London 2000, S. 225-254.

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