Th. Nadau: Itinéraires Marchands du Gout Moderne

Titel
Itinéraires Marchands du Gout Moderne. Produits Alimentaires et Modernisation Rurale en France et en Allemagne (1870-1940)


Autor(en)
Nadau, Thierry
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jakob Vogel, Frankreich-Zentrum, Technische Universität Berlin

Der Sammelband mit den Schriften Thierry Nadaus über die „Handelsrevolution“ des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die ländliche Modernisierung in Frankreich und Deutschland ist ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Buch. Denn die hier veröffentlichten Texte entspringen der Arbeit eines 1994 im Alter von 33 Jahren verstorbenen französischen Historikers, der außer einigen veröffentlichten Aufsätzen und Vortragsmanuskripten lediglich Teile und Skizzen seiner unvollendet gebliebene Dissertation hinterlassen hat. Es ist daher nur dem außergewöhnlichen Einsatz einer Reihe von Freunden und Kollegen zu verdanken, dass diese Schriften nun auch einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden.

Die beiden Herausgeberinnen Marie-Emmanuelle Chessel und Sandrine Kott haben hier eine immense Arbeit geleistet, um aus den mitunter nur rudimentär vorhandenen Abschnitten des Werkes lesbare Texte entstehen zu lassen. In ihren einleitenden Ausführungen wie auch in der Würdigung durch seinen ehemaligen Doktorvater entsteht über die inhaltliche Seite des Bandes hinaus das Porträt eines viel zu früh verstorbenen, brillanten Historikers, der durch seine wissenschaftliche Kreativität ebenso wie durch seine menschlichen Qualitäten eine wirklich außergewöhnliche Persönlichkeit darstellte. Wer Nadau wie der Rezensent auf einem von ihm initiierten und 1990 zusammen mit Sandrine Kott am MPI und der Mission historique in Göttingen organisierten Doktorandenworkshop zur vergleichenden deutsch-französischen Geschichte oder bei anderen Gelegenheiten kennen lernte, konnte von seinem sprudelnden Geist, seinem nimmermüden Interesse an der deutschen Geschichte, aber auch von seiner Wärme und Offenheit nur beeindruckt sein.

Doch die Veröffentlichung seiner unvollendet gebliebenen Arbeiten ist nicht nur das Zeichen einer tiefen Freundschaft und Zuneigung, welche Herausgeberinnen und Kollegen/innen noch immer mit Nadau verbinden. Denn auch aus wissenschaftlicher Perspektive bieten die versammelten Texte vielfältige weiterführende Fragen und ungewöhnliche Einblicke, die dem Buch weit über seinen dokumentarischen Wert hinaus Gewicht verleihen und ihn auch heute noch für die allgemeine historische Forschung interessant macht.

Als außerordentlich innovativ und weiterführend erweist sich nämlich der integrative Ansatz, mit dem Nadau die Geschichte der Modernisierung der Landwirtschaft und der Agrartechnologie mit den Entwicklungen im Handel und beim Konsum der Lebensmittel verbindet. Auf diese Weise vermeidet der Autor manche Einseitigkeiten, wie sie sowohl in der älteren wirtschaftshistorischen Agrarforschung als auch spiegelbildlich in der neueren Konsumgeschichte auftreten. Denn die einzelnen Bereiche werden von ihm nicht im Sinne eines Primats etwa des Konsums über die Produktion oder einer umgekehrten Kausalbeziehung betrachtet, sondern stets in ihrem Wechselspiel und ihren vielfältigen Verknüpfungen wahrgenommen. Die Entwicklung etwa von Schlachthäusern und -techniken, der Wandel der Hygienevorstellungen und -normen bilden auf diese Weise einen integralen Bestandteil der Agrargeschichte ebenso wie die Entstehung der modernen Handelsmarken in ihren Rückwirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion Berücksichtigung finden.

Der französisch-deutsche Vergleich nimmt in der Argumentation Nadaus dabei eine zentrale Rolle ein, erlaubt er es ihm doch, die Verengungen der nationalgeschichtlichen Perspektive hinter sich zu lassen und genauer nach übergreifenden Entwicklungen und nationalen wie auch regionalen und lokalen Besonderheiten zu fragen. Die durch internationale Kongresse und Kontakte vorangetriebene, weitgehend parallele Entwicklung der rechtlichen Hygienevorschriften in beiden Ländern konterkariert er auf diese Weise mit dem divergierenden Einfluss, der sich unter anderem durch die starke Stellung der Städte im deutschen Kontext für den Wandel der Schlachtpraktiken und die Entstehung moderner Schlachthöfe ergaben.

Das Beispiel unterstreicht, dass der Vergleich vom Autor nie als Selbstzweck verstanden wird. Vielmehr berücksichtigt er – und dies lange vor der aktuellen Diskussion über die „transnationale Geschichte“ und die Ansätze der „histoire croisée“ – immer wieder auch jene übergreifenden Beziehungen und Zirkulationen, in welche selbst die lokal praktizierte und um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch in erster Linie regional ausgerichtete Landwirtschaft eingebunden waren. An dieser Stelle zeigt sich die produktive methodische Integration der Ansätze der deutschen Alltagsgeschichte, für deren Rezeption in Frankreich unter anderem ein Aufsatz Nadaus in Pierre Bourdieus „Actes de la Recherche“ aus dem Jahr 1990 einen entscheidenden Anteil besaß.

Nadaus herausgehobenes Interesse für die breitere kulturelle Entwicklungen in der deutschen und französischen Gesellschaft eröffnet insofern nicht nur wichtige Neuansätze gegenüber einer klassischerweise eher national ausgerichteten Agrargeschichte 1, sondern bietet auch komplementäre Perspektiven gegenüber den eher selteneren vergleichenden Arbeiten, wie der wegweisenden Studie von Rita Aldenhoff-Hübingers über die Agrarpolitik in Deutschland und Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg oder der Studie von Nathalie Jas über die Agrarwissenschaften in beiden Ländern.2

Aber auch in einem anderem Themenfeld demonstriert der Band, dass die von dem Agrarhistoriker Martin Bruegel in seinem instruktiven Nachwort gewählte Einschätzung als „Pionierstudien“ für die Forschungen Thierry Nadaus mehr berechtigt ist: die Frage der Elektrifizierung der Landwirtschaft. Die hochtrabenden Pläne von Ingenieuren und Stromunternehmen zu ihrer Umsetzung, aber auch das teilweise absurd-komische Züge annehmende Scheitern stehen in drei Texten im Vordergrund. Die von dem Autor hier aufgezeigten Perspektiven etwa auf die zentrale Rolle, die Tankwarte und Mechaniker in der dörflichen Gesellschaft als Gegenspieler der Elektrifizierung spielten, erweisen die feine Beobachtungsgabe Nadaus und seine Kreativität bei der Entwicklung neuer Fragestellungen und Untersuchungsfelder, die erst seit kurzem Eingang in eine erneuerte Technikgeschichte finden.3 In diesem Sinne handelt es sich bei dem durch eine umfangreiche Bibliografie abgerundeten Band nicht nur um ein ungewöhnliches, sondern auch um ein für die französische wie deutsche Geschichtswissenschaft außerordentlich wichtiges Buch.

Anmerkungen:
1 Für eine innovative Integration des komparativen Ansatzes in die nationale Agrargeschichte siehe u.a.: Bauerkämper, Arnd, The Industrialization of Agriculture and its Consequences for the Natural Environment: An Inter-German Comparative Perspective, in: Historical Social Research 29,3 (2004), S. 124-149.
2 Aldenhoff-Hübinger, Rita, Agrarpolitik und Protektionismus. Deutschland und Frankreich im Vergleich 1879-1914 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 155), Göttingen 2002; Jas, Nathalie, Au carrefour de la chimie et de l’agriculture. Les sciences agronomiques en France et en Allemagne, 1840-1914, Paris 2001; siehe auch mit einem stärkeren Akzent auf der Vor- und Frühgeschichte der ländlichen Industrialisierung: Prass, Reiner; Schlumbohm, Jürgen; Béaur, Gérard; Duhamelle, Christophe (Hgg.), Ländliche Gesellschaften in Deutschland und Frankreich, 18.-19. Jahrhundert, Göttingen 2003.
3 Vgl. u.a. Hessler, Martina, „Mrs. Modern Woman“. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Haushaltstechnisierung, Frankfurt am Main 2001.

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