Titel
Wege zur Urkunde - Wege der Urkunde - Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters


Herausgeber
Hruza, Karel; Herold, Paul
Reihe
Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters 24
Erschienen
Anzahl Seiten
305 S., Abb.
Preis
€ 64,49
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Stieldorf, Historisches Seminar Universität Bonn

Die Historischen Hilfswissenschaften stehen wissenschaftspolitisch weiter unter Druck, wie jüngst der Beschluss, den einzigen verbliebenen rein hilfswissenschaftlichen Lehrstuhl in München herunterzustufen, in eine befristete W2-Stelle umzuwandeln und teilweise umzuwidmen, zeigte. Dennoch ist das Interesse an ihnen ungebrochen, wie eine Reihe von Einführungen und Tagungsbänden jüngeren Datums belegen. Zu diesen zählt auch der vorliegende Sammelband, der die Referate einer im November 2001 in Wien veranstalteten Tagung sowie drei zusätzliche Beiträge zusammenfasst. Ziel war es, angeregt durch die Forschungen zur pragmatischen Schriftlichkeit, die unterschiedlichen Dimensionen von Urkunden und Briefen an Beispielfällen aufzuzeigen, indem auch ihre Entstehungsgeschichte und ihre Nachwirkungen in den Blick genommen werden. Dies bestimmt den ersten Teil des Bandes mit insgesamt neun Beiträgen, während die drei Beiträge des zweiten Teils der Wissenschaftsgeschichte gewidmet sind.

Anton Scharer weist in seinem Beitrag „Die Stimme des Herrschers. Zum Problem der Selbstaussage in Urkunden“ (S. 13-21) auf die Möglichkeit hin, bei genauer Lektüre von Herrscherdiplomen jenseits aller Fragen um die Urkundenproduktion Hinweise auf die persönliche Einflussnahme des Herrschers selbst auf den Urkundentext zu finden. Zentrales Beispiel ist das anlässlich der Weihe des Marienstiftes in Compiègne ausgefertigte Diplom Karls des Kahlen Nr. 425 vom 5. Mai 877. Darin gibt Karl nicht nur seine Orientierung an seinem Großvater und in diesem Zusammenhang auch die Vorbildrolle Aachens zu erkennen, es wird deutlich, dass er seine 869 und 876 vergeblich unternommenen Versuche, sich des Reiches seines verstorbenen Neffen Lothars II. zu bemächtigen, mitnichten aufgegeben hatte.

Anne-Kathrin Köhler „Die Konstruktion einer Herkunft. Der hl. Suitbert als erster Bischof von Verden“ (S. 23-39) widmet sich am Beispiel der auf den Namen Karls des Großen gefälschten Gründungsurkunde für das Bistum Verden der Funktion von Spuria im Umfeld ihrer Entstehung. Sie weist nach, wie Bischof Hermann von Verden (1148/49-1167) aufgrund der Förderung der Bistümer Oldenburg und Mecklenburg durch Erzbischof Hartwig von Hamburg-Bremen unter Druck geraten, in Anlehnung an die ebenfalls gefälschte Karlsurkunde für Bremen ein Spurium fertigen ließ, das nicht nur die Grenzen des Bistums Verden festlegte. Vielmehr konstruierte er darin eine seinem Bistum bislang fehlende Gründungslegende, die mit dem bereits 613 verstorbenen Angelsachsen Suitbert einen Schüler Willibrords in den Mittelpunkt stellte, der als Parallele zu dem ersten Bremer Bischof Willehad gewählt wurde.

Im Mittelpunkt von Christoph Eggers Beitrag „Littera patens. Littera clausa, cedula interclusa. Beobachtungen zu Formen urkundlicher Mitteilungen im 12. und 13. Jahrhundert“ (S. 41-64) stehen päpstliche litterae clausae aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Für die geschlossene Versendung gibt es keine festgelegten Gründe, man wird sie jedenfalls nicht allein mit einem hohen Rang des Empfängers begründen können. Ausschlaggebend konnte etwa der Wunsch nach Geheimhaltung oder Diskretion sein, oder auch der Einschluss weiterer Dokumente bzw. Gegenstände in den Brief. Verfahrensrechtlich begründen können wird man die Versendung von Mandaten als litterae clausae, die der interessierten Partei zur Aushändigung an den eigentlichen Adressaten mitgegeben wurden, der dann erst durch die Öffnung des Briefes zum Handeln verpflichtet wurde. Ganz unterschiedliche kommunikative Situationen konnten also zur verschlossenen Versendung eines päpstlichen Schreibens führen.

Martin Wihoda bietet in „Der dornige Weg zur ‚Goldenen Bulle’ von 1212 für Markgraf Vladislav Heinrich von Mähren“ (S. 65-79) eine interessante Erklärung für die Bestätigung des merkwürdigen Mocran et Mocran in der Urkunde Friedrichs II. vom 26. September 1212 für den mährischen Markgrafen. Wie bereits Bretholz sieht er darin eine Verschreibung von Moraviam et Moraviam. Diese Doppelung erklärt er durch einen Ausgleich zwischen dem böhmischen Herzog Přemysl Otakar I., der bislang die nordöstlichen Teile Mährens um Olmütz innehatte, und seinem Bruder Vladislav Heinrich, der diese nun erhielt. Zustande kam diese Vereinbarung vor dem Hintergrund des Thronstreites, der seine Rückwirkungen auch auf die innerböhmischen Machtverhältnisse hatte.

Jurai Šedivý zeichnet „Die Anfänge der Beurkundung im mittelalterlichen Pressburg (Bratislava)“ (S. 81-115) nach und kann zeigen, wie im zweiten Drittel des 13. Jahrhundert auch Belange der Pressburger Einwohner durch den Gespan (Graf) beurkundet wurden, bevor sie sich seit dem letzten Drittel zunehmend an das bereits zuvor als Aussteller hervorgetretene Kollegiatstift wandten. Noch in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts dominierten Urkunden des Kapitels und auch die ersten städtischen Urkunden wurden noch in dessen Umfeld ausgestellt, bevor seit der Mitte des 14. Jahrhunderts genuin städtische Urkunden nachgewiesen werden können. Seitdem ist die Ablösung der städtischen Urkundenproduktion von der des Kapitels zu beobachten, das gleichwohl noch im 15. Jahrhundert als Anlaufstelle auch für die Bürger diente, die sich städtische Urkunden durch das Kapitel transsumieren ließen.

Karel Hruzas Beitrag „Anno domini 1385 do burden die iuden ... gevangen. Die vorweggenommene Wirkung skandalöser Urkunden König Wenzels (IV.)“ (S. 117-164) zeigt, wie die Entstehung zweier Urkunden König Wenzels vom 12. Juli 1385 eingebunden war in seine Verhandlungen mit den Städten des Reiches. Diese sollten ihm 40.000 Gulden zur Begleichung seiner Schulden gegenüber Markgraf Jost von Mähren zahlen und dafür für drei Jahre allein Einkünfte aus den Juden ziehen können – was auf eine umfangreiche Enteignung hinauslief. Die Ausstellung der Urkunden war bereits in einer Vereinbarung zwischen den Städten und den königlichen Räten vereinbart und ihr Text durch die Inserierung der deutschsprachigen Konzepte festgelegt worden.

Peter Brun „Vom Sinn und Unsinn königlicher Privilegien. Der Aargau um 1415“ (S. 169-179) zeigt am Beispiel von Urkunden König Sigismunds für aargauische Kleinstädte aus den Jahren 1415 und 1417 die Funktion von (Herrscher-)Urkunden als Symbole auf, die, ohne konkrete Rechtsverhältnisse zum Inhalt zu haben, zum einen die Herrschaft des Königs nach der Verdrängung des habsburgischen Herzogs Friedrich IV. von Österreich, zum anderen aber das Bestreben der Städte als „Reichsstädte“ eine von den immer dominanter werdenden Eidgenossen unabhängige Stellung zu erlangen, dokumentieren.

Sonja Dünnebeil widmet sich mit ihrer Frage „Wo befand sich der Herzog von Burgund? Zur Präsenz Karls des Kühnen bei der Ausstellung seiner Urkunden und Briefe“(S. 181-203) einem Grundproblem der Diplomatik, nämlich der Einflussnahme des Ausstellers auf die in seinem Namen gefertigten Dokumente. Für das Burgund des 15. Jahrhunderts zeigt sich freilich, dass bereits neben den verschiedenen Einrichtungen des Hofes eine regional gegliederte Verwaltung bestand, die berechtigt war, herzogliche Urkunden ausstellen zu lassen. Im Regelfall geben aber nicht die Urkunden Auskunft über die Instanz, sondern Registervermerke oder man kann sie über die namentlich genannten Sekretäre rückschließen.

Harm von Seggerns Beitrag „Zur Publikation von Münzordnungen im 15. Jahrhundert“ (S. 206-223) zeigt die Verquickung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit am Beispiel der Veröffentlichung einer für die Niederlande geltenden Münzordnung Karls des Kühnen vom 13. Oktober 1467 auf, die die Einführung einer neuen Goldmünze anstrebte. Diese wurde an den Rat von Holland gesandt, der jeweils zwei bis fünf Gerichtsboten je eine Kopie übergab, die insgesamt 30 Städten bekannt zu machen waren. Die Städte wiederum verzichteten aus Kostengründen oft auf die Anfertigung einer eigenen Kopie bzw. von Auszügen. In halbjährlichen Abständen wurde dieser Vorgang bis 1469 viermal wiederholt; Auswirkungen hatte die Verordnung aber nur für den Zahlungsverkehr mit dem Landesherrn, die Kaufleute in den Städten arbeiteten weiterhin mit fremden Münzen, im allgemeinen Zahlungsverkehr blieben die üblichen Kleinmünzen verbreitet.

Paul Herold skizziert in „Wege der Forschung. Über den Begriff und das Wesen der mittelalterlichen Privaturkunde unter besonderer Berücksichtigung der österreichischen Forschung“ die verschiedenen Versuche, die nicht durch Herrscher und Päpste ausgestellten Urkunden zu klassifizieren, von Mabillon bis heute nach (S. 225-256). Der um 1880 verfestigte Begriff der Privaturkunde ist ein Hilfsbegriff, der zwar inhaltlich kaum befriedigen kann, der aber als Verabredungsbegriff weiterhin Bestand haben wird und dessen Gegenstand gerade auch im Spätmittelalter noch große Chancen der Erforschung bietet.

Die beiden den Band beschließenden Beiträge befassen sich mit der Geschichte der Regesta Imperii im 19. Jahrhundert. Christine Ottner skizziert in ihrem Beitrag „Joseph Chmel und Johann Friedrich Böhmer. Die Anfänge der Regesta Imperii im Spannungsfeld von Freundschaft und Wissenschaft“ (S. 257-291) auf der Grundlage der Korrespondenz zwischen Chmel und Böhmer Aspekte der Frühgeschichte des Unternehmens, während sich Jan Paul Niederkorn „Julius von Ficker und die Fortführung der Regesta Imperii vom Tod Johann Friedrich Böhmers (1863) bis zu ihrer Übernahme durch die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien (1906)“ (S. 293-302) widmet und dabei auch die Probleme nicht außer Acht lässt, denen Böhmers „Erbe“ bei aller Produktivität begegnen musste.

Der Band bietet neben diesen interessanten forschungsgeschichtlichen Beiträgen einen guten Einblick in die Forschungen zur pragmatischen Schriftlichkeit mit anregenden Zugängen zu urkundlichen Texten, die in Ergänzung zu den etablierten Methoden weitere Einsichten in das mittelalterliche Urkundenwesen und seine Verortung in weiteren kulturgeschichtlichen Zusammenhängen ermöglichen.

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