Cover
Titel
In the House of the Hangman. The Agonies of German Defeat, 1943-1949


Autor(en)
Olick, Jeffrey K.
Erschienen
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
$ 29.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Oliver Müller, European University Institute, Florenz

Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft sich ihrer Geschichte erinnert, offenbart ihre Ordnungsvorstellungen und Selbstentwürfe. Der Kampf um die „richtige“ Erinnerung wird dabei zum Indikator für die Werte, Selbstbilder und Normen einer Gesellschaft. Die Debatten um das historische Erbe des Nationalsozialismus und die Frage nach der individuellen und kollektiven Schuld und Verantwortung der Deutschen müssen daher nicht allein als Auseinandersetzungen um Sachfragen, sondern primär als eine Form von Geschichts- und Erinnerungspolitik bewertet werden. Mehr noch: Für Besiegte und Sieger stellte sich am Ende des Zweiten Weltkrieges das Problem, wie die deutsche Geschichte grundlegend neu zu bewerten, mit Hilfe welcher politischen und kulturellen Kategorien der Nationalsozialismus zu erklären und wie eine alternative Zukunft in Deutschland zu gestalten war.

Das ist das Thema des vorliegenden Buches des amerikanischen Soziologen Jeffrey K. Olick. Sein Ziel ist es, den Blick auf die prozesshafte und widerstreitende Herausbildung kollektiver Erinnerungen zu lenken. Gegen die verbreitete Annahme, die unmittelbare Nachkriegszeit sei vom Verschweigen des Nationalsozialismus geprägt gewesen, untersucht Olick angloamerikanische und deutsche Debatten über Fragen nach der deutschen Schuld, Strategien der Entnazifizierung und politischen Rekonstruktion zwischen 1943 und 1949. Mit guten Gründen richtet Olick seinen Blick über die militärisch-politische Zäsur von 1945 hinaus und zeigt zudem geschickt die dialogische Qualität alliierter und deutscher Diskurse. Die Pläne alliierter Politiker und Intellektueller, ein neues geläutertes deutsches Staatswesen zu schaffen, trafen auf den oftmals erbitterten Widerstand der deutschen Führungseliten. Mit-Schuld suchte man durch tatsächliches oder vermeintliches Mit-Leid aufzurechnen. Die Debatten deutscher Schriftsteller, Philosophen und Historiker kennzeichnete ein erhebliches Maß an politischer Verdrängung, die öffentliche Leugnung einer „Kollektivschuld“ und der Glaube an den Fortbestand einzigartiger historischer Bedingungen in Deutschland. Immer wieder sprach man den Alliierten – bevorzugt mit dem Verweis auf den Bombenkrieg – das Recht ab, die Deutschen moralisch zu verurteilen. Entnazifizierung und Umerziehung scheiterten so nicht allein wegen der Inkompetenz der Sieger, sondern auch wegen der Unwilligkeit der Besiegten.

Olick beginnt seine Darstellung mit der lebendigen Schilderung der amerikanischen Erziehungs- und Vergeltungsdiskurse ab 1943. Nicht nur die politischen Entscheidungsträger, sondern auch Wissenschaftler und Intellektuelle diskutierten eingehend die Ursachen des Nationalsozialismus und zumal die Aussichten, die deutsche Gesellschaft in Zukunft nachhaltig zu verändern. Dabei zeigt Olick nicht nur, wie diese Diskurse zu offiziellem Regierungshandeln führten, sondern nimmt gleichsam en passant eine politische Ehrenrettung für Finanzminister Henry Morgenthau vor, dessen Deutschlandpläne keinesfalls von Rache geprägt gewesen seien. Mehr in Form summarischer Handbuchartikel streift Olick die Debatten über alliierte Besatzungspolitik, die Nürnberger Prozesse und die politische Entnazifizierung, bevor er sich im Detail den deutschen Reaktionen und Gegenreaktionen widmet. Olick rekonstruiert die Entstehung, die Verbreitung und die Abwehr der „Schuldfrage“ (Karl Jaspers) im westdeutschen intellektuellen Milieu. Auch kritische Geister und erklärte Gegner des NS-Regimes bestritten energisch eine deutsche Kollektivschuld und verwiesen bei allem eigenen moralischen Verschulden gebetsmühlenartig auf das Leid der Deutschen zwischen 1933 und 1945. Dabei unterschied man bezeichnenderweise in der Regel weder in Deutschland noch bei den Alliierten zwischen verschiedenen Opfergruppen; eine besondere Verantwortung beispielsweise den Juden gegenüber empfanden nur wenige. Überzeugend wird veranschaulicht, welche spezifisch deutschen Wahrnehmungsmuster und nationalistischen Axiome es waren, die die Deutung der Vergangenheit etwa innerhalb der protestantischen und katholischen Kirche prägten. Zudem kann Olick zeigen, wie aufsteigende politische Führungsfiguren wie Kurt Schumacher und vor allem Konrad Adenauer gezielt deutsche Schuld in deutsches Leiden zu konvertieren suchten, um aus diesem Ertrag politisches Kapital zu schlagen.

Ungeachtet vieler Vorzüge der Studie fällt der empirische Ertrag insgesamt recht bescheiden aus. Wie Olick mehrfach selbst einräumt (vgl. S. 93), beschreitet er im Wesentlichen ausgetretene historische Pfade. Ihm kommt es vornehmlich auf die phänomenologische Untersuchung, auf Kontinuität und Wandel des historischen Erinnerns an. Oftmals redundant werden insbesondere die deutschen Intellektuellendiskurse über die Probleme von Kollektivschuld und Entnazifizierung, von äußerer und „innerer“ Emigration paraphrasiert. Dies führt zum wenig überraschenden Ergebnis, dass in Deutschland auch nach 1945 idealistische Denktraditionen fortbestanden. Selbst dem/r geneigten Leser/in vermag Olick nichts wirklich Neues in den Polemiken Martin Heideggers und Ernst Jüngers gegen die Kollektivschuldthese und die politische Verantwortung der Deutschen zu präsentieren. Besonders nachteilig wirkt sich die Konzentration Olicks auf die „Höhenkammliteratur“ seines Untersuchungszeitraums aus. Statt der Studie eine breite öffentliche Quellenbasis zu Grunde zu legen und etwa eine Analyse der Presselandschaft, der Parlamentsdebatten und der Veröffentlichungen der politischen Lager vorzunehmen, untersucht er das politische Denken der „großen Männer“: So folgen beispielsweise den deutschen Meisterdenkern Karl Jaspers, Carl Schmitt und Martin Heidegger die Brüder Mann, Erich Kästner und Gottfried Benn und diesen wiederum die bedeutenden Historiker Gerhard Ritter, Hans Rothfels und Friedrich Meinecke. Und auch dort, wo Olick sein Augenmerk auf Kirchen und Parteien richtet, geraten wieder nur die üblichen Verdächtigen ins Blickfeld – etwa Karl Barth und Kardinal Josef Frings, oder eben Adenauer und Schumacher. Der Gaube an die diskursive Macht „großer Männer“ – und mit Ausnahme Hannah Arendts handelt es sich hier ausschließlich um Männer – ist gleichermaßen methodisch wie empirisch problematisch, da dieser Ansatz letztlich auf einer kühnen Wirkungsannahme hinsichtlich der Intellektuellendebatten beruht. Die Frage, ob die Elitendiskurse die Breitendiskurse in der Bevölkerung prägten oder reflektierten, bleibt ebenso unbeantwortet wie diejenige nach der öffentlichen und sozialen Reichweite der untersuchten Debatten. Zudem überrascht, dass sich Olick beinahe ausschließlich westalliierten und westdeutschen Programmen und Diskursen widmet. Bertolt Brecht etwa dürfte als politischer Denker mindestens ebenso aufschlussreich gewesen sein wie Thomas Mann.

Bilanziert man die Grenzen und die Vorzüge des Buches, steht der allzu deskriptiven Rekonstruktion bekannter historischer Phänomene und Diskurse die Leistung einer beachtlichen Synthese der politischen und kulturellen Traditionen in Deutschland aus der gewinnbringenden doppelten Perspektive westalliierter und westdeutscher Wahrnehmungen gegenüber. In seiner methodisch innovativen Studie verdeutlicht Olick, dass die kollektive Erinnerung nur als ein multikausales, stets im Wandel befindliches, immer offenes und auch in Deutschland letztlich veränderbares Phänomen begriffen werden muss. Er demonstriert überzeugend, wie die Vergangenheit spezifische Formen der Erinnerung erzeugte und wie Erinnerung gleichzeitig die Vergangenheit neu kreierte.