P. M. Dabrowski: Commemorations and the Shaping of Modern Poland

Cover
Titel
Commemorations and the Shaping of Modern Poland.


Autor(en)
Dabrowski, Patrice M.
Erschienen
Anzahl Seiten
313 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Krzoska, Freie Universität Berlin

Die Welle der Arbeiten zur Gedächtniskultur, der Symbolik von Erinnerungsorten und der Bedeutung von Meistererzählungen hat längst auch Ostmitteleuropa erreicht. Dies ist nicht weiter verwunderlich, besaßen doch die nationalen Historiografien Polens, Böhmens oder Ungarns seit jeher eine starke Tendenz zur Konstruktion und Betonung von Traditionen, sei es, um die geschichtliche Bedeutung der eigenen Nation und deren Leistungen herauszustellen, sei es, um allerorts darauf hinzuweisen, wie viele Opfer man im Laufe der Geschichte für eine bestimmte (europäische, christliche etc.) Sache gebracht hat. Im polnischen Fall war es im Bezug auf das 19. Jahrhundert vor allem der Mythos der nationalen Aufstände (1830/31, 1846, 1848, 1863/1864) bzw. des mit der Waffe in der Hand um die Wiederherstellung der eigenen Staatlichkeit kämpfenden Patrioten, der durch unzählige Publikationen, Visualisierungen etc. eine breite Öffentlichkeit erreichte. Diejenigen Nationsbildner, die im Gefolge der Moderne das Modell des bewaffneten Widerstandes für eher unergiebig und schädlich hielten, stellten diesem ihr Konzept der „organischen Arbeit“, der schrittweisen Selbstmodernisierung der polnischen Gesellschaft durch unermüdliche Betätigung „an den Grundlagen“ entgegen, die durch Nachahmung der Strukturen vor allem Preußens erfolgen sollte.

Die Autorin des vorliegenden Bandes, Fellow am Watson Institute for International Studies der Brown University, Providence (USA), versucht diese beiden Modelle auf dem Weg zur Bildung einer modernen polnischen Nation um ein drittes zu ergänzen. Zu diesem Zweck untersucht sie die nationalen Feierlichkeiten im geteilten Polen zwischen den Jahren 1879 und 1914. Sie interpretiert diese dabei als Fortsetzung der „aktionistischen“ Politik des „Aufstandslagers“ mit neuen, modernen politischen Mitteln. Die Untersuchung ist in drei Teile gegliedert. Der erste Teil befasst sich mit der frühen Periode vom Ende der 1870er-Jahre bis 1883. Hierbei untersucht Dabrowski als erstes großes Ereignis das fünfzigjährige Berufsjubiläum des damals in der sächsischen Emigration lebenden Schriftstellers Józef Ignacy Kraszewski im Jahre 1879 sowie die Feierlichkeiten zum 200. Jahrestags des Entsatzes von Wien und seines „Helden“ Jan III. Sobieski im Jahre 1883. Der zweite Teil ist den 1890er-Jahren, insbesondere den Mickiewicz-Jubiläen sowie den hundertsten Jahrestagen der Maiverfassung und des Ko?ciuszko-Aufstandes gewidmet. Der dritte Teil konzentriert sich auf die Feiern zur Schlacht von Tannenberg/Grunwald im Jahre 1910 sowie die kein Einzelereignis darstellenden auflebenden Erinnerungen an die militärischen Traditionen Polens von vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Dabrowski hat die besondere Gabe, ihre Quellen so sprechen zu lassen, dass daraus ein äußerst lebhaft geschriebenes Buch entsteht. Gerade die Schilderung des Ablaufes der jeweiligen Feierlichkeiten ist ganz ausgezeichnet und vermittelt einen sehr schönen Eindruck des Geschehens, so dass man mitunter das Gefühl hat, selbst dabei gewesen zu sein. Diese Quellennähe hat freilich auch ihre Tücken. Sie macht es schwer, sich von den jeweiligen Intentionen der Verfasser der Quellen zu befreien und so kann auch die Verfasserin. ihren zweifellos vorhandenen methodischen Ansatz, der im Wesentlichen auf dem bekannten Konzept der Traditionserfindung aufbaut, nicht immer durchhalten. Im Grunde genommen teilt sie nämlich die Auffassung der Nationaldemokraten vom Ende des 19. Jahrhunderts, „einflussreiche Konservative“ hätten aufgrund von materiellen oder gesellschaftlichen Vorteilen die nationale Sache in allen drei Teilungsgebieten verraten (S. 12). Es ist für sie offenbar kein Widerspruch, ständig von „den Polen“ zu sprechen und gleichzeitig zuzugeben, dass vermutlich die meisten Bewohner der alten Rzeczpospolita sich damals überhaupt nicht als solche bezeichnet hätten. Dabrowska erkennt die Verengung des polnischen Nationsbegriffs durch Ausgrenzung nicht polnischsprachiger Gruppen, lässt sich aber zeitweise von der Begeisterung für die nationalen Manifestationen anstecken, ohne die Interessenlagen der „nation-builder“ entsprechend herauszuarbeiten. Während sie beim hohen Klerus und der Beamtenschaft – die sie als „altmodisch“ bezeichnet (S. 220) – die Motivationen zutreffend analysiert, gelingt ihr dies bei den „modernen“ Nationalisten und den Vorkämpfern der Bauernbewegung nicht. Es finden sich immer wieder Verallgemeinerungen, die einer tiefer gehenden Interpretation nicht standhalten („Silesians also linked themselves to the Polish past. Never part of the Polish Commonwealth, the common folk of that region advertised ist past association with Polish history with the inscription ‚The Silesian Folk of the ancient Polish province of the Piasts’“ (S. 96, anlässlich der Mickiewicz-Feierlichkeiten 1890); „The Teutonic Knights were defeated by a united force comprised of Poles, Lithuanians, and other inhabitants of East and Central Europe“ (S. 161, zur Schlacht bei Tannenberg 1410), es ließen sich beliebig viele weitere Beispiele anführen). Die Ukrainer sind für sie in der klassischen nationalpolnischen Wahrnehmung nur dann interessant, wenn sie potenzielle (freilich untergeordnete) Verbündete gegen dritte darstellen, ansonsten kommen sie als eigenständige Nationalbewegung kaum vor.

Einige kleinere inhaltliche Fehler kommen noch hinzu. Bei der Datierung der „Krönung Mariens“ zur Königin Polens vertut sie sich um ein Jahrhundert (S. 62), der norwegische Literaturnobelpreisträger Bjørnstjerne (nicht Bjørstjerne) Bjørnson firmiert als Däne (S. 165). Zutreffend dagegen ist ihre Bewertung, dass die nationalen Feierlichkeiten immer größere Bevölkerungskreise erreichten und das Konzept der „organischen Arbeit“ allmählich seine gesellschaftliche Bedeutung verlor. Es wäre allerdings ein Fehler, von einer polnischen Massenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu sprechen. Der Verlauf des Ersten Weltkriegs zeugte doch eher von einer weitgehenden – freiwilligen oder erzwungenen – Loyalität gegenüber allen Teilungsmächten. Hervorzuheben ist, dass die detaillierte Nachzeichnung der Geschichte der galizischen Landesausstellung in Lemberg 1894, der heftigen Debatten um ein Mickiewicz-Denkmal in Krakau oder die Beisetzung des Nationaldichters auf dem Wawel etc. vor allem für den des Polnischen nicht mächtigen Leser eine Fülle interessanter Informationen liefern. Die Bedeutung von Schriftstellern und Malern und ihrer Werke für die aufkommende Nationalbewegung wird einmal mehr korrekt herausgestellt, insbesondere die Jan Matejkos.

In der Zusammenfassung findet Dabrowska wieder zu ihren eigentlichen Ausgangsfragestellungen zurück und entwirft ein sechsteiliges Modell für nationale Feiern in Polen. Demnach boten diese erstens ein nützliches Forum für grenzüberschreitende Kommunikation und Kontaktpflege, verbesserten zweitens den Zusammenhalt der Gesellschaft auf vertikaler Ebene, indem sie klassenübergreifend waren, förderten drittens die „Verbindung in der Zeit“, d.h. sie stellten ein Gemeinschaftsgefühl her, dass die gesamte bekannte polnische Geschichte umfasste, sie schärften viertens das symbolische Vokabular der Nation, prägten fünftens nationale Führerfiguren und machten diese präsenter und sie trugen schließlich sechstens dazu bei, das internationale Renommee der Polen zu steigern und Werbung in eigener Sache weltweit zu machen.

Insgesamt gesehen liegt zwar ein wichtiger Beitrag zur polnischen Geschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor, der einige Anregungen für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema Gedenken und Gedächtnis liefert, der Autorin ist es jedoch in der Darstellung zu wenig gelungen, sich von den Quellen und einem nationalpolnischen Weltbild zu lösen, das an die populären Geschichtsdarstellungen eines Norman Davies erinnert. Dazu mag beigetragen haben, dass deutschsprachige Quellen und Literatur praktisch gar nicht herangezogen wurden. Die richtigen Fragen an das Thema wurden zweifellos gestellt, an der praktischen Umsetzung ist Dabrowski jedoch zum Teil gescheitert.

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