Cover
Titel
Men of Blood. Violence Manliness and Criminal Justice in Victorian England


Autor(en)
Wiener, Martin Joel
Erschienen
Anzahl Seiten
XVI, 296 S.
Preis
$70.00
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Alexandra Oberländer, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Geschichte der Gewalt ist fast ausnahmslos eine Männergeschichte. Die Täter sind mehrheitlich männlich, die Opfer der Gewalt nur allzu oft weiblich. Gerade weil diese Sätze in ihrer Allgemeinheit fast überhistorische Geltung haben, stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang von Gewalt und Vorstellungen über Männlichkeit. Martin J. Wiener versucht in seiner Geschichte männlicher Gewalt gegen Frauen im viktorianischen England auf diese Frage einige Antworten zu liefern. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so der Autor, habe eine Neubewertung männlicher Gewalt stattgefunden. Diese Neubewertung habe dazu geführt, dass nicht nur Gewalt in der Öffentlichkeit, sondern auch Gewalt in den eigenen vier Wänden zunehmend geahndet und bestraft wurde. Prügelnde und mordende Ehemänner galten nicht mehr als akzeptabel. Im Viktorianismus wurde die aggressive und gewalttätige Männlichkeit vom Ideal einer beschützenden und behütenden Männlichkeit abgelöst, so Wieners These.

Wiener ordnet sich selbst in die kulturgeschichtliche Tradition ein. In seinem Buch möchte er die Verflechtungen von Diskursen und Repräsentationen auf der einen und der sozialen Praxis auf der anderen Seite am Beispiel der männlichen Gewalt darstellen (S. XI). Das bleibt der einzige geschichtsphilosophische Hinweis Wieners. Dies ist einerseits erfrischend, da daher seine Einleitung ohne die obligatorische methodisch-theoretische Einordnung auskommt. Gleichwohl stellt sich am Ende der Lektüre eine gewisse Enttäuschung ein. Wiener schreibt zwar eine gelungene sozialgeschichtlich inspirierte Kriminalitätsgeschichte, die Ankündigung die Kulturgeschichte mit einer Geschichte der Kriminalität zu verbinden, bleibt aber über weite Strecke unerfüllt. Der in jüngster Zeit in der Geschichtswissenschaft viel diskutierte Gewaltbegriff wird vom Autor relativ konservativ benutzt – im Zentrum steht die körperliche Gewalt. 1 Dieser begrifflichen Einschränkung ist es zu verdanken, dass seine Geschichte der männlichen Gewalt eine Erfolgsstory ist. Das viktorianische Zeitalter, so Wiener, habe die „zivilisatorische Offensive“ eingeleitet. Männergewalt gegen Frauen wurde zunehmend geächtet und geahndet.

Diese Verdrängung der körperlichen Gewalt beschreibt Martin J. Wiener an so unterschiedlichen Themen wie Duell, Gattinnenmord und sexueller Gewalt. Der von Feministinnen vorgetragenen Kritik am Viktorianismus will Wiener keineswegs zustimmen.2 Die Ideale des Viktorianismus hätten durchaus Vorteile für Frauen gebracht, die sich, wie er betont, auch im Straf- und Rechtswesen gezeigt hätten. Brutale Familienväter konnten sich nicht mehr darauf verlassen, dass man ihnen vor Gericht das Recht auf Züchtigung der Ehefrau zugestand. Die Rechtssprechung zu sexueller Gewalt erfuhr ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts signifikante Veränderungen, die häufiger als früher zu Verurteilungen der Täter führten. Die viktorianischen Werte von Häuslichkeit und Prüderie haben nicht nur massiv auf die Rollenvorstellungen der Frauen gewirkt, sondern auch deutliche Spuren in den männlichen Rollenbildern hinterlassen, so eines der Hauptargumente des Autoren gegen die feministische Geschichtsschreibung.

Im ersten Kapitel zeigt der Autor zunächst am englischen Recht wie sich die Ächtung von Gewalt im Laufe des 19. Jahrhunderts durchsetzte. Von besonderem Interesse in diesem Kapitel sind die Beobachtungen zur Wechselwirkung von Gewalt in den Kolonien und Gewalt im Vereinigten Königreich. Gewalttätigkeit wurde im imperialen Großbritannien zunehmend zu einer Eigenschaft der zu kolonisierenden Völker stilisiert und als barbarisch und unenglisch gebrandmarkt. Zivilisierte Völker würden sich durch die Abwesenheit von Gewalt auszeichnen. Die Zivilisiertheit der englischen Nation sollte sich unter anderem am Umgang mit Frauen zeigen, der Schutz der Frau wurde zum klassischen Bestandteil der kolonialen Rhetorik.

Doch zu einem „gewaltfreieren“ Umgang mit den Frauen im heimischen England war es im 19. Jahrhundert noch ein weiter Weg. Vor allem in den Londoner Arbeiterghettos und den Industriestädten im Norden war Gewalt ein weit verbreitetes Phänomen. Dass es nicht nur in den Kolonien, sondern auch an der heimischen Front eine zivilisatorische Mission zu meistern gab, daran hatten vor allem die englischen Eliten keinen Zweifel. Die Schauplätze dieser zivilisatorischen Mission waren in erster Linie Gerichtsprozesse. Durch strengere Strafen und weniger Nachsicht, so Wiener, propagierte das englische Rechtswesen die neuen, zivilisierteren Standards für männliches Verhalten. Wie sich dieser Prozess vollzogen habe und auf welche Hindernisse er stieß, macht den Hauptteil des Buches aus.

Aus einem mehrere tausend Fälle umfassenden Pool von Gerichtsakten, der fast das komplette 19. Jahrhundert abdeckt, beschreibt der Verfasser die Veränderungen und Widerstände im Prozess der Neubewertung erwünschter männlicher Eigenschaften. Dabei konzentriert er sich in zwei Kapiteln auf Gerichtsprozesse gegen Männer, die ihre Ehefrauen umbrachten. Konnte der Angeklagte zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Regel noch mit Milde rechnen, so wurden vor allem die Richter und Staatsanwälte im Verlaufe des 19. Jahrhunderts immer weniger nachsichtig und verurteilten die Täter häufig nicht mehr wegen Totschlags, sondern wegen Mordes. Ganz anders die Geschworenen, die in der Regel mehr Verständnis für den Angeklagten aufbrachten und lange Zeit am Recht des Ehemannes auf Züchtigung seiner Frau festhielten. Lediglich Angeklagten aus besser gestellten sozialen Gruppen gestanden die Geschworenen dieses Recht auf Züchtigung schon früher nicht mehr zu. Im Unterschied zu den Unterschichten wurde Brutalität in diesen gesellschaftlichen Schichten nicht toleriert. Auf die unterschiedlichen Männlichkeitsvorstellungen, die je nach sozialer Gruppe variierten, weist Wiener immer wieder hin, worin eine der Stärken seines Buches liegt.

Wiener legt den Prozesses von sich verändernden Männlichkeitsvorstellungen und deren Durchsetzung in der englischen Gesellschaft überzeugend dar. Seine Darstellung der Agenten dieser Wandlung ist allerdings weniger überzeugend. Nach Wiener waren es Männer aus der Elite, die die Männer aus der Unterschicht zu einem neuen Selbstverständnis führen wollten. Frauen als Agenten dieses Prozesses, z.B. in Form der Frauenbewegung, tauchen bei ihm nicht auf. Und auch die Frage, welche Rolle die Queen – wenn nicht als Person, so doch immerhin als Symbol – gespielt haben mag, stellt sich der Verfasser nicht. Welche Vorstellungen Frauen aus den unterschiedlichsten sozialen Gruppen über Männlichkeit hatten und wie diese wiederum auf den von ihm beschriebenen Prozess wirkten, wird von Wiener leider an keiner Stelle berücksichtigt.

Auch über den Zusammenhang kolonialer Politik und sich verändernder Männlichkeitsvorstellungen im Inneren der englischen Nation hätten man gerne mehr erfahren. Weitergehende Beobachtungen zur Verknüpfung des imperialen Diskurses mit Vorstellungen nicht nur über Männlichkeit, sondern auch darüber, was man sich unter „englishness“ vorstellte, wären wünschenswert gewesen.

Die beeindruckende Materialfülle von mehreren tausend Prozessakten hat in manchen Kapiteln negative Folgen. Wiener verliert sich häufig im ausführlichen Nacherzählen seiner Fälle. Dies schlägt umso negativer zu Buche als die meisten Kapitel keine Zwischenüberschriften haben, die eine Orientierung im empirischen Material erleichtern würden. Was die Handhabung dieses Buches ebenfalls erschwert, ist das Fehlen einer Bibliografie.

Auch wenn die Frage nach dem Zusammenhang von Männlichkeit und Gewalt durch Martin J. Wiener nicht abschließend beantwortet werden konnte: für die an diesem Thema interessierten StudentInnen und WissenschaftlerInnen bietet das Buch neben reichhaltigem Material Beobachtungen und Thesen, an denen weitergedacht werden sollte.

Anmerkungen:
1 Heitmeyer, Wilhelm, Soeffner, Hans-Georg (Hgg.), Gewalt: Entwicklungen, Strukturen, Analyseprobleme. Frankfurt am Main 2004; Sieferle, Rolf-Peter, Breuninger, Helga (Hgg.), Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung von Gewalt in der Geschichte, Franfurt 1998.
2 Vgl. D’Cruze, Shani, Crimes of Outrage. Sex, Violence and Victorian Working Women. London 1998.

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