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Titel
Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften


Autor(en)
Pilarczyk, Ulrike; Mietzner, Ulrike
Erschienen
Bad Heilbrunn 2005: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
261 S
Preis
€ 32,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Ulrich Hägele, Ludwig-Uhland-Institut, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Die Fotografie als Quelle spielte in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft lange Zeit eine nachgeordnete Rolle. Dies rührt vielleicht daher, weil während des Nationalsozialismus Bilder stark propagandistischen Zwecken unterworfen waren. Hier lassen sich durchaus Parallelen zu anderen Disziplinen feststellen, die sich nach 1945 ebenfalls zunächst von der Bilderwelt abwandten oder Fotografien allenfalls zur Illustration verwendeten. Allerdings gab es bereits um 1900 Anstrengungen, die Fotografie verstärkt für die Pädagogik nutzbar zu machen. Alfred Lichtwark etwa etablierte in seinen reformpädagogischen Bemühungen die Fotografie und die Anschauung als gewichtige Instanz für das Lernen und Lesen von Bildern und schuf so die Voraussetzungen für eine Kunst des Sehens in der schulischen und außerschulischen Erziehung.

Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner haben nun in ihrem Band "Das reflektierte Bild." ein Grundlagenwerk für die fotovisuelle Arbeit in der Erziehungswissenschaft vorgelegt. Die Autorinnen reflektieren die Bedeutung von Fotografie für die Sozialwissenschaften, widmen sich den methodologischen Grundlagen der Fotografie als Quelle, liefern ein Modell zur seriell-ikonographischen Fotoanalyse und zeigen Anwendungsbeispiele aus ihrer foto-visuellen Praxis. Das Buch ist die gekürzte Fassung einer gemeinsamen Habilitationsschrift (2001) an der Berliner Humboldt-Universität. Sie ging aus dem DFG-Projekt "Umgang mit Indoktrination: Erziehungsintentionen, -formen und -wirkungen in den deutschen 'Erziehungsstaaten'" hervor. Die Autorinnen schöpften aus einem Fundus von 10.000 Fotografien.

Pilarczyk und Mietzner konzentrieren sich auf Einzelbilder und große fotografische Bestände. Sie gehen von der Prämisse aus, "erstmals quellenkritische Standards für Fotografie systematisch" zu beschreiben, "die grundsätzlich auch für historische und sozialwissenschaftliche Untersuchungen gelten". Mit der Studie solle der "Diskurs um das Visuelle in Erziehungsverhältnissen" anhand der Fotografie als "basales Medium aller neuen Bildmedien" neu belebt werden (S. 8).

Die Autorinnen messen der Fotografie innerhalb von Bildungserfahrungen eine essentielle Rolle zu: "Die mimetischen wie performativen Bildungsprozesse verlaufen auch über fotografische Bilder. Sie werden über fotografische Bilder festgehalten, ausgedrückt und vermittelt." (S. 19) Ausgegangen wird von inneren und äußeren Bildern: Die mentalen Bilder dienten als Voraussetzung für das Lernen und würden als Vor-Bilder den Blick auf die Umwelt strukturieren; umgekehrt prägten die äußeren Bilder wiederum die inneren Bilder in einer Art wechselseitigen Abhängigkeit. Schließlich stecke in der Fotografie für jede gesellschaftliche Gruppe eine große Portion an Selbstausdruck, die vor allem für die Erziehungswissenschaft gewinnbringend analysiert werden könne.

Pädagogisches Wissen, so die Autorinnen, ist in Fotografien mehrfach enthalten – Produktionsbedingungen, Rezeption, bildliche Ebene als Codierung von Körperlichkeit und Informationen sowie soziale Praxis: "Die fotografischen Bilder beeinflussen das Wissen von der Welt und die menschlichen Vorstellungen von sich selbst: Sie prägen das Sehen, werden Teil des Ichs" (S. 26). Das Buch greift Konrad Wünsches "Ikonographie des Pädagogischen" aus den 1990-er Jahren auf, mit der dieser die Beschreibung einer pädagogischen Zeichenwelt initiierte. Gleichwohl scheinen die im vorliegenden Band aufgeführten Themen des "Aufwachsens" (Familie, Generation, Körper) doch sehr in einer anthropologischen Beziehung zu stehen. In der Erziehungswissenschaft und in der Kunstgeschichte haben Habitus und soziale Prozesse allerdings erst spät als bildwissenschaftliche Kriterien Anerkennung gefunden – die Soziologie, darunter vor allem die Arbeitsgruppe um Pierre Bourdieu spielte hier Mitte der 1960er Jahre in ihrem bahnbrechenden Werk 'Un art moyen' (Eine illegitime Kunst) die eigentliche Vorreiterrolle. Diesen Aspekt greifen die Autorinnen auf.

In ihrem Abriss zur Entwicklung der Bildwissenschaft von Aby Warburg über Erwin Panofsky zu Hans Belting und Gottfried Boehm gehen Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner der Frage nach, in welcher Weise Fotografie für die wissenschaftliche Forschung genutzt werden kann. Fotografien seien zwar nicht unbestechlich, vielfach jedoch "unberechenbar". Die Autorinnen konstatieren bei der Fotografie im Vergleich mit anderen Quellen den Momentcharakter und eine "gewisse Mehrperspektivität", "da sie weit mehr registrieren als intendiert" ist. Hierbei bestehe ein Unterschied zwischen dem fotografischen Bild (ästhetische/inhaltliche Dimension) und der Fotografie (Materialität/Massenmedium). (S. 35)

Ähnlich wie andere Formen der Visualisierung ist die Fotografie untrennbar mit der Geschichte verbunden. Historizität, so auch die Autorinnen, wird auf unterschiedlichen Ebenen wirksam: Kameratechnik, materielle Zeichen/spezielle Motivik, Geschmack des Fotografen, Rezeption. Richtigerweise bemerken Mietzner und Pilarczyk, dass sich Objektivität aus der scheinbar realgetreuen Wiedergabequalität des Mediums Fotografie nicht ableiten lässt. Der situative Charakter lasse fotografische Bilder aber zu "Trägerinnen der jeweiligen Zeit" (S. 40) werden. Verglichen mit anderen Formen der Visualisierung besitze die Fotografie eigene Codes, eine Hypothese, die vom bildhermeneutischen Modell Roland Barthes abgeleitet wird. Innerhalb doppelter Bedeutungsebenen würde Fotografie Objektivationen präsentieren und zugleich repräsentieren: "Mit jeder Fotografie wird nicht nur ein Gegenstand der eigenen Geschichte einverleibt, sondern durch die die Beobachtung begleitenden Gefühle, Ansichten und die Darstellung verändert sich das Verhältnis zum Gegenstand." (S. 43)

Methodologisch im Zentrum steht die Frage, wodurch sich Fotografien als wissenschaftliche Quellen auszeichnen und in wieweit sie sich von anderen Quellen (Texte) unterscheiden: "Vor allem sind Fotografien Quellen mit einem zwar differenzierten, jedoch eingeschränkten Quellenwert" (S. 55). Die Autorinnen stellen insbesondere den Zufälligkeitscharakter in den Vordergrund, der die Fotografie als Quelle belaste. Die üblichen ikonographischen bzw. ikonologischen Zugänge griffen bei neueren Formen der Kunst wie der Fotografie zu kurz. Sinnvoll sei ein "erneuerbarer Ikonologiebegriff, der sich nicht auf den klassischen Kunstbegriff reduzieren" (S. 64) lasse. Der eigentliche Quellenwert von Fotografie liege vor allem darin, "dass im fotografischen Medium innere und äußere Bildungsrepräsentationen belichtet sind. Das hängt zum einen mit dem Stellenwert zusammen, den Fotografien im privaten wie im öffentlichen Leben, historisch wie aktuell besitzen. Zum anderen hängt es mit der eigenen Visualität zusammen: Fotografien sind als visuelle Verknüpfung zwischen dem Außenbild der Gesellschaft und den Ausdrucksbildern von Personen aufzufassen." (S. 108)

Pilarczyk und Mietzner richten den wissenschaftlicher Wert von Fotografie an der Kontextualisierung aus. Fotografische Bilder müssten stets zeitlich, geographisch, urhebermäßig und rezeptiv zuordenbar sein – Ausgangspunkt für die Klassifikation: "externe" und "interne" Bildkriterien. Als Präferenz wählen die Autorinnen die Arbeit mit großen Bildmengen, eine "methodische Herausforderung, der man sich bei der Verwendung der Fotografien als Quelle stellen" (S. 131) müsse. Als methodologische Grundlage verwenden sie die von Erwin Panofsky und Karl Mannheim entwickelte sowie u. a. von Konrad Wünsche erweiterte ikonographisch-ikonologische Methode, die nach vier Schritten (vorikonographische, ikonographische Beschreibung, ikonographische und ikonologische Interpretation) speziell für die pädagogisch relevante Fotografie Anwendung findet. Im Vergleich mit anderen visuellen Medien aus der Kunst unterscheide die Interpretation fotografischer Bilder insbesondere "zwischen dem, was von den Fotografen über die Themenwahl und Bildgestaltung absichtsvoll ins Bild gebracht wurde, und dem, was über den überlieferten Zusammenhang nachträglich, aber ebenso absichtsvoll als gemeinter Bildsinn ausgegeben wird." (S. 141) Namentlich in der vierten Stufe der ikonologischen Interpretation offenbare sich "der den herrschenden Erziehungsverhältnissen zugrunde liegende kulturelle Habitus, d. h. Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster, die z. T. so tief verinnerlicht sind, dass sie sich zwar äußern (sprachlich, bildlich, musikalisch), doch einer sprachlichen Reflexion zumeist nur schwer zugänglich sind." (S. 142) Ziel serieller Fotoanalysen sei "das Aufspüren von kontinuierlichen bzw. diskontinuierlichen Entwicklungen, Auffälligkeiten und Differenzen" sowie "Typisierungen und ihre Interpretation" (S. 142). Als Beispiele werden Klassenfotos, Bilder von Fotowettbewerben, Foto-Illustrationen ganzer Jahrgänge einer pädagogischen Zeitschrift und fotografische Nachlasse aufgeführt. Idealerweise sollte der Bestand zwischen 300 und 500 Bilder umfassen. Ab 1.000 Fotografien sei die Verwendung einer Bilddatenbank hilfreich.

Das Vorgehen beinhaltet den diachronen Vergleich: indem verschiedene Bildthemen und Motive aus unterschiedlichen Zeiten miteinander verglichen werden. Der synchrone Vergleich setzt etwa zeitgleich entstandene Bilder thematisch miteinander in Beziehung. Der kontrastierende Vergleich stellt Bilder aus unterschiedlichen Bereichen der öffentlichen und privaten Fotografie gegenüber. Im Weiteren werden die erhobenen Hypothesen einer Geltungsprüfung unterzogen: "Das wichtigste Instrument zur Sicherung der gewonnenen Thesen und vorläufigen Ergebnisse" sei eine "Überprüfung an erweiterten Bildbeständen, größeren Bildmengen und vor allem Fotografien anderer Provenienz". (S. 149) Zudem heranzuziehen sei: nachträgliche Kontexterhebung zur Sicherung unterschiedlicher Perspektiven in der Bildwahrnehmung, Bildinterviews und weitere Bild- und Textquellen. Eine der hervorstechenden Leistungen der seriell-ikonographischen Methode, so die Autorinnen, beträfen die Phänomene der Fotografie, "ihre Konventionalität und die Verwendung von Klischees." (S. 159)

Im letzten Abschnitt des Buches werden anhand von vier Fallbeispielen die theoretisch erarbeiteten Grundlagen konkretisiert. Am Beispiel "Zum gestischen Repertoire und körperlichen Habitus von Lehrerinnen und Lehrern" präsentieren die Autorinnen eine ikonographische Reihe aus der Bildenden Kunst bis hin zu Fotografien aus Klassenzimmern der DDR und BRD. Hier erscheint das ikonographische Vorgehen der Autorinnen doch sehr eingeschränkt und aufs Thema zentriert. Ein Blick auf weitere Bereiche, in denen etwa die körperliche Habitusformen von zeigenden Gesten ausgeprägt sind (Fotografie von Politikern), wären sinnvoll gewesen und hätten Schlüsse auf eine über das Schulische hinausgehende pädagogische Einflussnahme zugelassen.

Das in der Bildwissenschaft etwa von Hans Belting eingeforderte interdisziplinäre Vorgehen befolgen Pilarczyk und Mietzner in ihrer bildanalytischen Praxis leider nur ansatzweise. Ebenso auffallend ist eine mit unter mehr illustrativ denn analytisch-beschreibende Verwendung der Abbildungsbeispiele ("Schülerrollen und Leitbilder"). Man gewinnt an manchen Stellen den Eindruck, dass die Bildquellen nicht ganz im Zentrum der Untersuchung stehen, sondern eher defensiv benutzt werden. In diesem Zusammenhang bleiben die Autorinnen gewissermaßen hinter ihren in den theoretischen Kapiteln aufgestellten ikonographischen Vorgaben zurück. Fraglich erscheint überdies, dass die theoretischen und historischen Grundlagen, die immerhin zwei Drittel des Buches füllen, nicht mit geeigneten Abbildungen versehen sind – für ein wissenschaftliches Lehrbuch, das die Fotografie als Bildquelle ins Zentrum rücken will – ein echtes Manko. Ebenso Schwierigkeiten mit sich bringt die Fixierung auf die Kontextualisierung von Fotografie in Bezug auf ihren Quellenwert. Überspitzt ausgedrückt bedeutet dies: Sämtliche Bilder, bei denen außer der Bildinformation keine weiteren Informationen in Erfahrung gebracht werden können, sind wissenschaftlich wertlos – ein Umstand, der doch gerade die Visuelle Kulturwissenschaft vor große Herausforderungen stellt.

Das Buch bietet für die Erziehungswissenschaft und darüber hinaus eine ausgezeichnete und überzeugend dargelegte Einführung in die ikonographische Arbeit mit Fotografien. Allerdings beschränkt es sich zu sehr auf Modelle aus der Kunstgeschichte, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht die Fotografie, sondern das Bild als Kunstwerk allgemein in ikonographisch-ikonologischer Hinsicht thematisieren. Denn auch die Kunstgeschichte hat die Fotografie als wissenschaftliche Primärquelle und Gegenstand der Forschung erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts erkannt – bei nicht wenigen Protagonisten des Faches spielt sie bis heute eine nachgeordnete Rolle. Keine konkrete Berücksichtigung finden frühe und spätere, wegweisende fotowissenschaftliche Methoden aus der Volkskunde (Haberlandt, Heierli, Maas), der Anthropologie und Ethnologie (Boas, Malinowski, Bateson, M. Mead, Wex) oder der Geographie (Brunhes). Unerwähnt bleiben die Praktiken des Vermittelns von Bildern in der pädagogischen Didaktik, zumal die Autorinnen in ihrem theoretischen Teil davon ausgehen, dass das Bilderwissen gelernt wird: Gerade Jean Brunhes hat in Frankreich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Fotografie als forschungsleitende Quelle erkannt und auch im Schulunterricht unentbehrlich werden lassen; die Volkskundlerin und Pädagogin Ellen Maas entwickelte bereits in den 1960er und 1970er Jahren ein seriell-ikonographisches Verfahren (Emphothek), anhand dessen sich Bildmerkmale wie Habitus, Gegenstände, Ausdrucksformen vertikal- und horizontalstratigraphisch ableiten lassen.

Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner demonstrieren eindrucksvoll, dass der bildwissenschaftlichen Methodik in den Erziehungswissenschaften eine essentielle Funktion zukommt, die in Zukunft verstärkt zu berücksichtigen sein wird. Der vorliegende Band liefert hierfür die ideale Grundlage. Der Erziehungswissenschaft seien noch viele solcher fundierter bildwissenschaftlichen Analysen ans Herz gelegt!

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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