T. Diederich u.a. (Hg.): Historische Hilfswissenschaften

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Titel
Historische Hilfswissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung


Herausgeber
Diederich, Toni; Oepen, Joachim
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
188 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Müller, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Je stärker die Historischen Hilfswissenschaften – lange Zeit eines der Aushängeschilder deutscher Geschichtswissenschaften – an den Universitäten abgebaut werden, desto häufiger sind sie momentan Gegenstand von Publikationen: Grundlagenwerke werden nachgedruckt oder übersetzt, Bücher zur methodischen Orientierung neu vorgelegt und sogar Reihen zu diesem Thema frisch eingerichtet.1 Der hier vorzustellende Band folgt ebenfalls dieser paradoxen Konjunktur, ist aber nicht als Lehrbuch konzipiert. Er enthält die Referate eines Symposiums, das im Jahr 2004 auf Veranlassung des Historischen Archivs des Erzbistums Köln durchgeführt wurde, an dem die beiden Herausgeber lange Jahre tätig waren beziehungsweise noch sind. Impuls gebend für das Unternehmen war die grundsätzliche Sorge um die Zukunft reicher Archivbestände und ihrer kompetenten Nutzung angesichts schwindender methodischer Kenntnisse der Universitätsabsolventen im Fach Geschichte, aber auch angesichts einer Archivarsausbildung, die unter dem Anforderungsdruck des modernen Tagesgeschäfts ihr Ausbildungsprofil ebenfalls von dem des traditionellen Historiker-Archivars weg verlagert hat (S. VIIf.).

Zum Auftakt der sieben Beiträge skizziert Thomas Vogtherr (Einführende Bemerkungen, S. 1-6) die schwindende Bedeutung der Historischen Hilfswissenschaften in der universitären Lehre der Gegenwart, aber auch das Potenzial des Faches. Theo Kölzer weist auf die ungeschmälerte Bedeutung von „Diplomatik und Urkundenpublikationen“ (S. 7-34) im Gefüge der Mediävistik hin. Neben dem unbestrittenen Wert einwandfreier Editionen kann er an Hand von Beispielen aus jüngster Zeit nachweisen, dass die hilfswissenschaftliche Grundlagenarbeit sich als folgenreich, wenn nicht sogar Bahn brechend für die allgemeine historische Forschung erwiesen hat. Die von ihm selbst kürzlich vorgelegte Edition der merowingischen Königsurkunden erzwingt Neubewertungen der Geschichte des frühen Mittelalters ebenso wie Wolfgang Huschners Untersuchung der Beurkundungspraxis in ottonischer Zeit manche lieb gewonnenen Ergebnisse der Ottonen-Forschung mindestens überdenkenswert erscheinen lässt.2 Kölzer schließt mit einem optimistischen Ausblick: Zwar seien die Gewichte momentan deutlich zu Gunsten schneller und mediales Aufsehen erregender „Ergebnisse“ (S. 33) verschoben, langfristig aber werde sich die Einsicht durchsetzen, dass historische Erkenntnis ohne solide Quellenarbeit nicht möglich ist. Auf Dauer werde also den Historischen Hilfswissenschaften unabweisbar wieder mehr Bedeutung zuwachsen.

Toni Diedrich unterzieht den derzeitigen Stand der Siegelkunde (S. 35-59) einer kritischen Betrachtung und kommt zu einem ambivalentem Ergebnis: Qualitativ hochwertige Forschungsbeiträge der jüngeren Zeit kontrastieren immer noch mit erheblich verbesserungswürdigen Praktiken bei der Siegelkonservierung und -publizierung. Diedrich verweist auf die zahlreichen noch nicht beackerten Felder der Sphragistik und mahnt eine engere Zusammenarbeit mit den Kunsthistorikern an. Als „duftendes Veilchen“ (S. 62), das im großen Blumenbeet der historischen Teildisziplinen wenig auffällt, ohne das die Blütenpracht aber deutlich ärmer wäre, beschreibt Ludwig Biewer die Heraldik (S. 61-87). Er geht dabei auf den Gegenstand dieser Hilfswissenschaft, ihre Geschichte, ihre Präsenz an den Universitäten und ihre allgemeine Bedeutung ein.

Eckart Henning stellt die mannigfachen Ausprägungen der Genealogie vor, die zwischen Biologie, Geschlechtergeschichte, Demografie und der heute wieder überaus populären Ahnenforschung anzusiedeln sind. Der Beitrag bietet eine profunde Übersicht über die Möglichkeiten und Grenzen dieses Teilgebiets, wenngleich bisweilen Genealogie und Genetik allzu sehr in eins gesetzt werden. Abschließend fordert Henning, den Datenschutz dahingehend zu lockern, dass Einwohnermeldedateien und Standesamtsregister schon nach 30 Jahren zugänglich werden. Dass dies genealogische Sondierungen erleichtern würde, steht außer Frage. Ob damit auch eine deutsche Erinnerungskultur befördert würde, wie der Verfasser postuliert, ist allerdings fraglich.

Zwei weitere Beiträge weisen auf die Verbindungen der Fächer Numismatik und Geldgeschichte (Niklot Klüssendorf, S. 107-154) sowie Kunstgeschichte (Rainer Kahsnitz, S. 155-183) zu den Einzeldisziplinen der Historischen Hilfswissenschaften hin. Bei der Kunstgeschichte ergeben sich vor allem mit der Siegelkunde, für die Erforschung bildlicher Darstellungen auf Urkunden aber auch mit der Diplomatik interessante Kooperationsmöglichkeiten. Ungeachtet der immer wieder neu zu stellenden Frage, ob die Numismatik der Universität und damit den Hilfswissenschaften zuzurechnen ist oder eher in den Bereich Museum und Denkmalpflege gehört, wird in den letzten beiden Beiträgen der Sektor des interdisziplinären Arbeitens zwischen eigenständigen Fächern betreten und damit das Thema des Symposions im engeren Sinne überschritten. Angaben zur Person und wissenschaftlichem Werdegang der Autoren und Herausgeber stehen am Ende.

Der schmale Sammelband bietet gemischte Kost. Stand und Perspektiven der Historischen Hilfswissenschaften werden zwar beleuchtet, eine Gesamtbilanz kommt jedoch nicht zu Stande, weil nur eine knappe Auswahl der Fächer vorliegt, die normalerweise unter Hilfswissenschaften subsumiert werden. Sie ist durch die Quellengattungen archivischer Überlieferung geprägt, während übergreifende methodische Felder wie Paläografie oder Chronologie unerörtert bleiben. Die Herausgeber sind sich dessen bewusst und begründen dies einleuchtend mit der zeitlichen Beschränkung eines eintägigen Symposions. Angesichts der Tatsache, dass beide Herausgeber Archivare sind, vermisst man allerdings schmerzlich ein Referat, welches das in der Vorbemerkung explizit angesprochene gewandelte Verhältnis von Archivarsberuf und Historischen Hilfswissenschaften eigens thematisiert. Zudem können nicht alle Beiträge mit Kölzers kräftigem Essay zur Lage der Diplomatik und dem abwägenden Resümee Diederichs zur Siegelkunde Schritt halten. Zum Teil ersetzen ausführliche, mitunter selbstgefällige Beschreibungen die klare Formulierung von Problemen und Perspektiven.

In der Summe bietet der Band zweifellos manch anregende Lektüre, der Titel aber greift ein wenig zu hoch. Aus diesem Grunde scheint es dem Rezensenten wichtig, auf einen Punkt hinzuweisen, der allzu leicht übersehen wird: Die Vitalität der Historischen Hilfswissenschaften zeigt sich auch in diesem Sammelwerk in den Fußnoten. Hier regiert nicht etwa der Rekurs auf die Heroen vergangener Zeiten. Die mit aktueller Literatur angefüllten Anmerkungsapparate dokumentieren, wie lebhaft in den Hilfswissenschaften trotz aller Einbußen der letzten Jahre immer noch geforscht und publiziert wird. Dies gilt es gegen alle modischen Strömungen unbedingt zu erhalten, zumindest bis das von Kölzer prognostizierte Ende der Durststrecke (hoffentlich) in Sicht kommt.

Anmerkungen:
1 Ahasver von Brandts ‚Werkzeug des Historikers’ (1958) liegt, mehrfach überarbeitet, in der 16. Auflage vor (Stuttgart 2003). Für verstärkte Rezeption eines im Kern von 1911 stammenden Werkes südlich der Alpen sorgt nun: Bresslau, Harry, Manuale di diplomatica per la Germania e l’Italia, Rom 1998. Exemplarisch für neue Zugänge: Howell, Martha; Prevenier, Walter, Werkstatt des Historikers. Eine Einführung in die historischen Methoden, Köln 2004. Die Reihe ‚Hahnsche Historische Hilfswissenschaften’ startete 2004 mit zwei Bänden zu Schriftkunde und Siegelkunde. Im Januar 2006 erschien als Auftakt der ‚Oldenbourg Historische Hilfswissenschaften’: Scheibelreiter Georg, Heraldik, Wien 2006.
2 Kölzer, Theo (Hg.), Die Urkunden der Merowinger, Teil 1, Hannover 2001; Huschner, Wolfgang, Transalpine Kommunikation im Mittelalter. Diplomatische, kulturelle und politische Wechselwirkungen zwischen Italien und dem nordalpinen Reich (9.–11. Jahrhundert), Hannover 2003; vgl. dazu die Rezension in H-Soz-u-Kult unter: http:<//hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-204>.

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