H. Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit

Cover
Titel
NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR


Autor(en)
Leide, Henry
Reihe
Analysen und Dokumente der BStU
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Boldorf, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Henry Leides Darstellung der vergangenheitsbezogenen Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) stützt sich maßgeblich auf personenbezogene Akten aus den einschlägigen Beständen des BStU. Ergänzende Quellenbestände des SED-Parteiarchivs im Bundesarchiv, etwa der Zentralen Parteikommission, zieht Leide nicht hinzu. Augenscheinlich zerfällt das Buch in zwei Teile: Zum einen bettet der Autor eine sorgfältige zusammenfassende Analyse der Literatur über die Institution des Ministeriums in ihren politischen Wirkungskreis ein. Zum anderen konkretisieren 30 Fallstudien das eigentliche Hauptthema, d.h. den Umgang der Staatssicherheit mit NS-Verbrechern.

Für die SBZ-Phase ist als wichtigster Vorläufer des MfS der Zweig 5 der Kriminalpolizei anzusehen, der für die Verfolgung von NS-Tätern nach dem SMAD-Befehl Nr. 201 (1947) zuständig war. Die K 5 genannte Abteilung profilierte sich als eigenständiger Akteur neben den von sowjetischer Seite betriebenen Maßnahmen zur Entnazifizierung. Als Selbstvergewisserung diente der Verfolgungsdruck, den die Kommunisten unter dem NS-Regime selbst zu erleiden hatten. Die mit geheimdienstlichen Methoden betriebenen „Säuberungen“ fügten sich in den Kontext der Entnazifizierung ein, lassen aber bereits früh Ansätze erkennen, auch so genannte Verräter in den eigenen Reihen aufzuspüren.

Als die Entnazifizierung im März 1948 durch Auflösung der eigens dafür gebildeten Kommissionen formell abgeschlossen wurde, entstand die „paradoxe Situation“, dass Zehntausende Internierte in den Speziallagern ohne Gerichtsurteil festgehalten wurden. Erst nach Gründung der DDR sorgten 1950 die Waldheimer Prozesse mit mehr auf willkürlichen, denn auf rechtsstaatlichen Grundlagen gefällten Urteilen für einen vorläufigen juristischen Schlussstrich. Leide leuchtet die Rolle des MfS als Lieferant von Beweismaterial in diesen Gerichtsverfahren aus.

Als weiterer Aufgabenbereich für das MfS kam die Informationsbereitstellung im ideologischen Wettstreit der Systeme hinzu. Vor allem seit 1958, als die Kampagnepolitik gegen die Bundesrepublik begann, bestand ein großer Teil der MfS-Tätigkeit im Sammeln von belastendem Material. In diesem Kontext stand in den 1960er-Jahren die Aktion „Licht“, die dem Aufspüren weiterer NS-relevanter Dokumente in Archiven von Banken und Betrieben diente. Schließlich bemühte sich das Mielke-Ministerium auch erfolgreich um die Verfilmung von Akten in anderen Ostblockstaaten.

Neben der Verurteilung stand die Integration durch die NS-Zeit Belasteter. Auf Parteienebene dienten nicht nur Neugründungen wie die NDPD als Auffangbecken, sondern die Staatspartei selbst nahm eine Vielzahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder auf. Hier ergab sich ein Betätigungsfeld für die Staatssicherheit, die gemeinsam mit den Parteigremien für Kontrollen und Überprüfungen sorgte. Leide wendet den Blick auf einen speziellen Aspekt der „Integration: die frühe Werbung von inoffiziellen Mitarbeitern unter NS-Belasteten. Seine Fallbeispiele zeigen, wie sich das MfS die Erpressbarkeit der Belasteten für seine Zwecke zunutze machte. Obgleich sich eine solche Art der Kollaboration für das MfS aus den Prämissen seiner Gründung verbot, hielt es an der gezielten Anwerbung ehemaliger Spitzel und Mitläufer fest. Als offizielle Begründung verlautete die Zielsetzung, in die Kreise von Altnazis eindringen zu wollen, die für die DDR ein Gefahrenpotenzial darstellten.

Die diversen Fallstudien wenden sich in aller Ausführlichkeit den geheimdienstlichen Verwicklungen zu. Themenkomplexe wie die Westeinsätze NS-Belasteter, die Verweigerung internationaler Rechtshilfe und die ungelegenen Rückwirkungen der nach Westen gerichteten Kampagnenpolitik auf die DDR kommen zur Sprache. Letzterer Punkt führte häufig zur Arbeit für den Papierkorb, wie das Beispiel einer Gruppe Jenaer Ärzte veranschaulicht, die während des Dritten Reichs für Euthanasiefälle verantwortlich waren und dennoch in der DDR Karriere machten. Eine Notiz eines Mitarbeiters der Staatssicherheit in der Bezirksverwaltung Gera vom 22. April 1966 deckt die ambivalente Taktik des MfS auf: Bei Veröffentlichung der Ermittlungsarbeit könnte „ein unseren gesellschaftlichen Verhältnissen widersprechendes Ergebnis erreicht werden“ (S. 374). Nach der Logik, dass der ostdeutsche Staat auf Verwirklichung des Antifaschismus basierte, bedeuteten derartige Enthüllungen, insbesondere mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Krieg, einen Imageschaden für die DDR. Im ideologischen Wettstreit mit der Bundesrepublik erschien die Entlarvung von NS-Tätern, die sich im Kreis der staatstragenden DDR-Eliten etabliert hatten, somit kontraproduktiv.

Leide fasst zusammen, dass die Strafverfolgung in der DDR stark von Opportunitätserwägungen geprägt war. Aus seinem vorgestellten Sample von Fallanalysen zieht er weitreichende Schlüsse, die darin gipfeln, dass ihre Praxis sich der Selbstdarstellung nach außen unterzuordnen hatte: „[D]er Antifaschismus als tschekistische Praxis war nicht primär darauf gerichtet, Straftaten zu verfolgen, sondern den zeitgenössischen Hauptfeind, die Bundesrepublik, zu bekämpfen.“ (S. 418) Die ausgewählten Einzelfälle vermögen, diese Einschätzung zu belegen. Hieraus zieht der Autor Schlüsse auf die zugrunde liegende SED-Politik: Die DDR-Staatssicherheit habe zwar eine Fülle an Material über mutmaßliche NS-Verbrecher zusammengetragen, diese Fälle aber nur selektiv einer Strafverfolgung zugeführt. Daraus folge eine „vergangenheitspolitische Blockade“, in die sich das SED-Regime hineinmanövrierte.

Henry Leides Werk zeichnet sich häufiger durch einen aufklärerischen als durch einen analytischen Duktus aus. Hierfür sprechen Formulierungen wie „weitere dunkle Aspekte der DDR-Vergangenheitspolitik“ oder die Frage „Was bleibt von der bis heute verbreiteten These von der systematischen und weitgehenden Verfolgung von NS-Verbrechen? Nicht viel.“ (S. 414). Resümierend entwirft das Buch ein Bild des Umgangs der DDR mit dem NS-Erbe, bei dem das Interesse der Staatspartei auf Absicherung ihrer Machtposition im Mittelpunkt steht. Zum Erreichen dieses Ziels war der Missbrauch von Rechtsnormen und Gerichtsverfahren aus politischen Gründen keineswegs ausgeschlossen. „Antifaschismus“ kam lediglich ein Legitimationscharakter zu – ein Ergebnis, das z.B. die Erkenntnisse von Jürgen Danyel untermauert. Eingesetzt wurde der Begriff vor allem als Instrument, um politische Gegner zu verfolgen. Dies korrespondierte mit einer Faschismusdeutung, die die Schuldfrage externalisierte und speziell in Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik die Entlarvung westdeutscher Funktionsträger als NS-Belastete als Mittel zur Austragung des Systemkonflikts einsetzte.

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