R. Speirs u.a. (Hgg.): Germany's Two Unifications

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Titel
Germany's Two Unifications. Anticipations, Experiences, Responses


Herausgeber
Speirs, Ronald; Breuilly, John
Reihe
New Perspectives in German Studies
Erschienen
Basingstoke 2005: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
XIV, 340 S.
Preis
£55.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Müller, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Der vorliegende Tagungsband thematisiert die beiden deutschen Nationalstaatsbildungen von 1866/71 und 1989/90. Europäische und nordamerikanische HistorikerInnen, PolitologInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen versuchen, durch eine diachrone Vergleichsperspektive Ähnlichkeiten und Unterschiede in den beiden Vereinigungsprozessen zu skizzieren. Als Vergleichsparameter dient den Beiträgern die Staatsbildung, die als rasche Souveränitätsreduktion von vielen auf einen einzigen Träger definiert wird und in beiden Fällen national legitimiert wurde (S. 2). John Breuilly und Ronald Speirs betonen die Veränderungen von Erwartungshaltungen und Reaktionen der politischen und sozialen Eliten gegenüber dem Nationalstaat als Norm (S. 6ff., S. 19ff.). Die durch die Staatsbildung ausgelösten Neuverhandlungen von Loyalitäten und Identitäten der Bevölkerungen bilden den Schwerpunkt der Beiträge. In den 1860er-Jahren diente die nationale Legitimation als Motor für die deutsche Staatsbildung, wenngleich mit unterschiedlichen Zielvorstellungen über die Verfassung sowie über die Bedeutung Preußens und Österreichs. 1989/90 wurde dagegen das alltägliche und lange als gegeben akzeptierte Faktum der deutschen Zweistaatlichkeit erst spät durch die als „natürlich“ proklamierte Norm eines Nationalstaates abgelöst.

Johannes Paulmann substituiert in seinem Beitrag den Nationalstaatsbegriff durch das von Charles S. Maier geprägte Konzept der „Territorialität“, das den Aufstieg moderner Staatlichkeit als Resultat nationaler und ethnischer Identitätsbildungen zwischen 1850 und 1970 beschreibt.1 Die sozialen Eliten hätten in diesem Zeitraum versucht, die in eindeutig begrenzten „Territorien“ entstandenen Identitäts- und Entscheidungsräume zu dominieren (S. 28). Paulmann argumentiert, dass die beiden Nationalstaatsbildungen zwei verschiedenen historischen Epochen angehörten. Der erste deutsche Nationalstaat von 1871 sei nicht verspätet entstanden, sondern habe dem Trend einer territorialen Konsolidierung der Staatenwelt entsprochen. Innenpolitische Zentralisierung und klare äußere Grenzen hätten das System der ausgleichenden, dezentralen und schwächeren Macht- und Grenzzonen in Europa abgelöst.2 Die Auswirkungen einer Auflösung der Territorialität seit den 1960er-Jahren lassen Paulmann dagegen zu dem Schluss kommen, die zweite Vereinigung sei ein anachronistisches Ereignis gewesen. Welche spezifischen Erkenntnisgewinne das Territorialitäts-Konzept gegenüber einem reflektierten Gebrauch des Konzepts „Nationalstaat“ bringt, vermögen die LeserInnen aber nicht zu erkennen.

Laurence McFalls geht in einem anregenden diachronen Vergleich auf die defizitäre demokratische Legitimität von Vereinigungsprozessen ein – am Beispiel der zweiten deutschen Vereinigung und der europäischen Integration. Er fragt rhetorisch, ob es einer demokratischen Legitimität für eine Staatsgründung überhaupt bedürfe. Die in den 1860er-Jahren etablierte staatliche Ordnung in Italien und Deutschland sei erst durch dauerhafte Unterstützung durch die Mehrheit der Bewohner gewährleistet worden (S. 49f., 56). Max Webers Idealtypus legaler und zweckrationaler Herrschaft weise auf einen dynamischen Legitimierungsprozess des Staates hin, der vom beständig zu erringenden Grundkonsens der Staatsbürger abhänge.

Die vergleichenden kultur- und literaturgeschichtlichen Beiträge fokussieren stärker die Reaktionen auf die Nationalstaatsgründungen. Stephen Brockmann stellt die bürgerliche fundamentale Kritik am Kaiserreich von rechts der Kulturkritik der 1990er-Jahre gegenüber. Beide ähnelten sich darin, dass sie eine idealistische Sichtweise in den beiden Vereinigungen vermissten. Der Vorliebe für das Außergewöhnliche und die Herausbildung eines positiven Sonderwegs nach 1870 stellt Brockmann die Hoffnung auf deutsche „Normalität“ nach 1990 gegenüber. Die historische Einordnung des Nationalstaats habe sich ebenfalls unterschieden: Kulturkritik in den 1870er-Jahren diente der Perspektivenfindung für die Zukunft gegen einen als unmoralisch angesehenen Staat. Nietzsche und Lagarde waren fasziniert vom Ungewöhnlichen und Individuellen, wohingegen Kritiker in den 1990er-Jahren versuchten, im Zuge der Vereinigung die westliche Normalität der deutschen Nation gegenüber historisch definierten Sonderwegen zu propagieren. Rolf Parr zeichnet deutsche Nationalitätskonzepte und ihren Niederschlag in Symbolik und Literatur nach. Der Vergleich stößt aber dort an seine Grenzen, wo die Suche nach einer kollektiven symbolischen Darstellung des „Normalen“ seit 1990 noch nicht abgeschlossen ist.

In den Beiträgen zur ersten Vereinigung ist die Vielseitigkeit der Perspektiven auf die Reichsgründung bemerkenswert. Die Nationalstaatsgründung war eng mit regionalen, politischen und konfessionellen Traditionen verbunden, die 1866/71 nicht zum Tragen kamen und in der preußisch-nationalliberalen Geschichtsdeutung nach der Reichsgründung marginalisiert wurden.3 Die von Abigail Green hervorgehobene Funktion der Regionen und Einzelstaaten als Vermittlungsinstanzen zwischen der lokalen und nationalen Politikebene und als Infrastrukturarsenal (S. 133f.) wird ergänzt um die Reaktionen der in den Einzelstaaten verhafteten pro- und anti-preußischen Politiker. Breuilly geht auf die Veränderungen im deutschen Nationalismus ein, die nach 1866 oberflächlich in der Haltung zu Preußen kulminierten, sich aber auf die Aufrechterhaltung anderer Wertesysteme wie Liberalismus, politische Demokratie oder Katholizismus bezogen (S. 110).

Erwin Fink zeigt anhand der Bayerischen Patriotenpartei, wie ein integratives, gegen Preußen ausgerichtetes Instrumentarium des bayerischen „Nationalgefühls“, das wesentlich durch Katholizismus und Dynastie geprägt war, für die Anforderungen des politischen Massenmarktes nutzbar gemacht werden konnte.4 Die Bedeutung der religiösen Gemeinschaften als Träger unterschiedlicher Mentalitäten und Erwartungshaltungen für den Nationalstaat betont auch Helmut Walser Smith, der zum einen den Unterschied zwischen bürgerlicher Säkularität und agrarisch-ländlicher Religiosität aufzeigt, darüber hinaus aber den Wandel um 1870 in der Definition des Nationalstaats als protestantisch-nationaler Gemeinschaft festmacht. Katholiken oder Juden konnten sich nur in Außenseiterpositionen als Deutsche fühlen, sich jedoch nicht als integrative Bestandteile der protestantischen Nation wahrnehmen. James Retallack stellt anhand der Wahrnehmung der englischen Gesandten in Dresden fest, wie ein anfängliches Unverständnis des „Why can’t the Germans be more like the English“ sich zu einem tieferen Verständnis für die lokalen und regionalen Ausprägungen der Nationsbildung wandelte.

Die Beiträge von Speirs, Elystan Griffiths und John Osborne ergänzen das Bild um das Kritikpotenzial der Literatur, die Diskrepanzen zwischen den Idealen der Reichsgründung und den sozialen Realitäten aufzeigte. Die moralische Überhöhung des Krieges von 1870 wich rasch einer Kritik der sozialen Fragmentierung und der Missstände in den unteren Schichten. Griffiths zeigt dies an Werken von Heyse, Spielhagen und Freytag, während Osborne Fontanes subtile Kritik an der überhöhten gesellschaftlichen Stellung des Militärs herausarbeitet.

Welche Rolle spielte hingegen der Patriotismus 1989/90? Mary Fulbrook zeigt deutlich, dass er im Verlauf des Vereinigungsprozesses instrumentalisiert wurde, nicht aber als Erwartungshaltung die Vereinigung herbeiführte oder bestimmte. Anders als in den 1860er-Jahren diente er nicht als treibende, sondern nur als legitimierende Kraft (S. 258). Dies war weiterhin in den 1945 begonnenen Prozess der ideellen und politischen Westbindung integriert; die Werte von Demokratie und Parlamentarismus wurden mit dem Nationalgedanken vereinigt. Dies arbeitet Cory Ross am Beispiel der westdeutschen Historiker heraus. Michael Butler betont anhand der Texte von Grass, Walser und Wolf die Bedeutung der Einheit von 1990 als Möglichkeit zur Gedächtniserneuerung an die deutsche Geschichte. Karoline von Oppen zeigt anhand einiger Zeitschriften auf, dass das Problem der Nation nach 1990 nicht mehr nur einem bestimmten intellektuellen Raum angehörte. Das „Kursbuch“ dient ihr als Beispiel, dass die Nation hier nicht wie in anderen Journalen im Politischen oder „Hochkulturellen“, sondern in vielfältigen lebensweltlichen Zusammenhängen verhandelt wurde.

Breuilly bemerkt zusammenfassend, dass das Paradigma des Fortschritts, mit dem der Nationalismus seit 1848 antrat und das in der ersten deutschen Nationalstaatsgründung vermeintlich ans Ziel gelangt war, nach 1945 nicht mehr bestimmend gewesen sei. Durch den Zivilisationsbruch der NS-Herrschaft und des Holocaust habe sich das Konzept eines deutschen Nationalstaats als einer fortschrittlichen Kraft diskreditiert. Die zweite deutsche Vereinigung vollzog sich ohne diese Erwartungshaltung. Die Reichsgründung von 1871 spielte 1990 nur als Zerrbild einer grundlegenden Weichenstellung für den negativen deutschen Sonderweg, nicht aber als Vorbild für eine erneute Zusammenführung deutscher Territorien eine Rolle.

Dem Band gelingt es, die gewohnten Epochengrenzen mit einer wichtigen übergreifenden Fragestellung zu durchbrechen. Die stärkere Untersuchung der ersten Nationalstaatsgründung spiegelt dabei den Forschungsstand wider. Die Betonung alternativer Erwartungshaltungen und Reaktionen in regionaler Breite ist die besondere Stärke der Untersuchungen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Maier, Charles S., Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: American Historical Review 105 (2000), S. 807-831.
2 Vgl. Schroeder, Paul W., The Lost Intermediaries. The Impact of 1870 on the European System, in: International Historical Review 6 (1984), S. 1-27.
3 Vgl. Langewiesche, Dieter, Was heißt ‚Erfindung der Nation’? Nationalgeschichte als Artefakt – oder Geschichtsdeutung als Machtkampf, in: Historische Zeitschrift 227 (2003), S. 593-617, hier S. 610ff., S. 615f.
4 Zur Konstruktion des bayerischen „Nationalgefühls“ vgl. Hanisch, Manfred, Für Fürst und Vaterland. Legitimitätsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit, München 1991.

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