Titel
Gertrud Scholtz-Klink. Die Reichsfrauenführerin. Politische Handlungsräume und Identitätsprobleme der Frauen im Nationalsozialismus am Beispiel der Führerin aller deutschen Frauen


Autor(en)
Livi, Massimiliano
Erschienen
Münster 2005: LIT Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Winter, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Universität Hannover

Karin Priester, die das zu besprechende Buch an der Universität Münster als Promotionsschrift betreute, bescheinigt ihm im Vorwort, dass es „auf lange Zeit […] ‚das’ Standardwerk zu Scholtz-Klink sein wird“ (S. 18). Erstaunlicherweise wurde hier erstmals eine umfangreiche politische Biografie der einflussreichsten, nichtsdestotrotz heute abseits der HistorikerInnenzunft so gut wie unbekannten nationalsozialistischen Funktionärin vorgelegt. Livis Dissertation ist im Kontext des wachsenden Interesses an den biografischen, sozialgeschichtlichen und ideologiegeschichtlichen Erklärungspotentialen der Geschlechterforschung zur Geschichte der völkischen Bewegung und des Nationalsozialismus zu sehen.

Auf der Basis personenbezogener Akten von NS-Behörden und Entnazifizierungsunterlagen wird im ersten Teil des Buches Gertrud Scholtz-Klinks steile Karriere rekonstruiert. Nach ihrem Parteieintritt im Jahr 1930 führte sie die schon 1934 erfolgte Ernennung zur „Reichsfrauenführerin“ in die obersten Instanzen der NS-Frauenarbeit. Seit diesem Zeitpunkt vereinigte sie in ihrer Person die Leitung der Nationalsozialistischen Frauenschaft (NSF), des Deutschen Frauenwerkes, des Frauenarbeitsdienstes, des Frauenamtes der DAF, des DRK-Reichsfrauenbundes sowie weiterer Organisationen. Sie befand sich damit faktisch (wenn auch nicht offiziell) auf Reichsleiterebene und war nur noch Hitler und Heß rechenschaftspflichtig. Von ihrem Amtssitz in einer arisierten Villa im Berliner Tiergarten aus steuerte Scholtz-Klink die gesamte Frauenarbeit des Reiches. Dabei erwies sie sich als ebenso pragmatisch wie vor allem an der eigenen Machtentfaltung interessiert. Der Bund deutscher Mädchen als Teil der Hitlerjugend war die einzige bedeutende Organisation für Frauen oder Mädchen, die ihrem Einfluss dauerhaft entzogen blieb.

Aus Scholtz-Klinks zahlreichen Reden und Aufsätzen versucht Livi im Folgenden ihre weltanschaulichen Positionen heraus zu destillieren. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass sie eine gemäßigte und vermittelnde Position zwischen den konkurrierenden Entwürfen zu einer völkischen Geschlechterordnung – mittlerweile meist unter dem Stichwort „Männerbund versus Familie“ behandelt1 – einzunehmen versuchte. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin an der Spitze der NSF, Lydia Gottschewski, die nicht zuletzt wegen ihrer harschen Kritik an männerbündischen Tendenzen und der Abwertung von Familie und Ehe im völkischen Staat abgesetzt wurde, verband Scholtz-Klink eine weltanschauliche und persönliche Freundschaft mit dem Reichsleiter Alfred Rosenberg, dessen Buch „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ vor allem Männerbündlern als Referenzliteratur diente. Der Grundkonsens der „Gleichwertig- aber nicht Gleichartigkeit“ und der wechselseitigen Ergänzung von Mann und Frau legitimierte allerdings auch z.B. in der NSF-Zeitschrift „NS-Frauenwarte“ die Ausweitung der Handlungsräume von Frauen in staatlichen Bereichen, z.B. der Judikative, da die weibliche Perspektive für ein „volksverwurzeltes Recht“ unverzichtbar sei.

Im dritten Teil seines Buches stellt Livi Scholtz-Klinks Leben nach ihrer Entmachtung durch den Sieg der Alliierten dar und interessiert sich insbesondere für den zurückhaltenden Umgang der Justizbehörden mit ihr. Schon Ende der 1940er-Jahre wirkte sich dabei das Wahrnehmungsmuster aus, ihr als Frau keine besondere Verantwortung für das Funktionieren des Nationalsozialismus zuzuweisen. Nach einer anderthalbjährigen Internierung durch die französische Militärregierung wurde sie 1950 in einem Spruchkammerverfahren zu lediglich zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, der Haftantritt jedoch verschoben und Scholtz-Klink in der Folgezeit so gut wie vergessen. 1978 veröffentlicht sie ihre von jedem Schuldbewusstsein freien Memoiren im rechtsextremen Grabert-Verlag. Sie starb 1999 unbehelligt als Hausfrau.

Über den Charakter als faktenreiche Biografie hinaus allerdings enttäuscht das Buch Livis. Anders als etwa Ulrich Herberts Biografie über den RSHA-Funktionär Werner Best2, in dem die Beschreibung der handlungsleitenden weltanschaulichen Haltung breiten Raum einnimmt, reduziert Livi die Politik im völkischen Staat auf instrumentelle Herrschaftsstrategien. Seine Darstellung der propagandistischen Funktion der nationalsozialistischen Geschlechterordnungsentwürfe hängt an zwei Angelpunkten: Manipulation und Identität. Ähnlich wie schon Franz Neumann in seinem Buch „Behemoth“3 interpretiert Livi Propaganda lediglich als ein Einfangen der Bevölkerung mit Hilfe von Ideologie. Diese Manipulation habe an die „Suche der Frauen nach einer neuen und zeitgemäßen Definition ihrer Identität“ (S. 71) angeknüpft und ihr dafür ‚von oben’ eine Schablone zur Verfügung gestellt. Gelungen sei dies allerdings nur teilweise, da Scholtz-Klinks pragmatischer Umgang mit ideologischen Kontroversen verhinderte, „daß eine vollständige Umsetzung ihrer mäßig überzeugenden Vorstellung von Frau/Mann/Nationalsozialismus stattfinden konnte“ (S. 235). Scholtz-Klinks Ansprachen interpretiert Livi somit als gezielte Manipulationsversuche, die über das „Ansprechen emotionaler Faktoren wie Tradition und Nationalbewusstsein“ (S. 89) bzw. über die Nutzung „einer emotionalen Ebene, um das mütterliche Gefühl der Frauen zu berühren“ (S. 138) diese dazu verführten, in der Volksgemeinschaft ihre Identität und ihr Heil zu suchen.4 Die Herkunft und Wirksamkeit dieser „emotionalen Faktoren“, an denen die NS-Propaganda ansetzen konnte, scheinen Livi nicht weiter erklärungsbedürftig. Der psychische Gewinn, den die völkische Sinnstiftung mit sich brachte, bleibt außerhalb seines Blicks und diese damit den deutschen Frauen aus strategischen Gründen – und nicht einmal erfolgreich – lediglich aufgepfropft.5

Zudem bleibt die Beschreibung des völkischen Denkkosmos oberflächlich, obwohl Livi ihm etliche Seiten widmet. Er nimmt die neuere Forschung zur normativen völkischen Geschlechterordnung und ihrer Geschichte nur ausschnittsweise zur Kenntnis. Johanna Gehmacher, Susanne Omran und Eva-Maria Ziege etwa tauchen in seiner Literaturliste nicht auf. Die Bedingtheit von Geschlechterentwürfen, Volk und Antisemitismus behandelt er nicht systematisch. Letzterer taucht als Analysekategorie nur sehr marginal auf, und dort wird Scholtz-Klink dann ein „Antijudaismus religiös-kultureller Art“ unterstellt (S. 194). Als führende Nationalsozialistin wäre sie beleidigt gewesen.

Scholtz-Klink wird den LeserInnen von Livi letztlich als kalte Karrierefrau vorgestellt, die zwar treu zum Führer stand, aber politisch uninteressant ist. „Effizienz und Funktionalität hatten für Scholtz-Klink absolute Priorität. Seit ihrer Ernennung zur Reichsfrauenführerin widmete sie ihr ganzes Privatleben dieser Rolle. Sie ging sogar so weit, sich 1937 von Günther Scholz scheiden zu lassen“ (S. 81). Ihre Mitarbeiterinnen in den Suizid treibend und ihre Familie vernachlässigend, so Livi, sei es ihr über Intrigen und ein Beziehungsnetz zu einflussreichen Männern gelungen, ganz nach oben zu kommen, wo sie dann „vor allem organisatorische Details ihrer Arbeit“ bevorzugt habe (ebd.). Auch wenn Scholtz-Klink in der Tat nicht zu den exponierten völkischen Theoretikerinnen zählte, nimmt Livi ihre Motivation und die Eigendynamiken der von ihr vertretenen Weltanschauung nicht ernst genug. Er fällt damit hinter Trends der Forschung zu den NS-FunktionärInnen zurück, die Ulrich Herbert schon Mitte der 1990er-Jahre wie folgt beschrieb: „Eine sozial- und mentalitätsgeschichtlich informierte Geschichtsschreibung […] mußte sich der Frage nach der Bedeutung von Ideologien und politisch-weltanschaulichen Großkonzepten, insbesondere für das Handeln von Funktionseliten in modernen Diktaturen, neu und in verstärktem Maße stellen, schon angesichts der evidenten, offenbar wieder wachsenden und allein durch den Rekurs auf Interessen und soziale Konflikte nicht erklärbaren Bedeutung fundamentalistischer Konzepte in der Gegenwart.“6

„Auf lange Zeit“ wird das besprochene Buch Livis aufgrund dieser blinden Flecke daher wohl nicht „das“ Standardwerk zu Scholtz-Klink bleiben, auch wenn es als Pionierarbeit zweifellos seine Bedeutung hat.

Anmerkungen:
1 Vgl. z.B.: Ziege, Eva-Maria, Mythische Kohärenz, Konstanz 2002, S. 146; Reulecke, Jürgen, Männerbund versus Familie. Bürgerliche Jugendbewegung und Familie in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Ders., „Ich möchte einer werden so wie die…“ Männerbünde im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001, S. 69-88.
2 Herbert, Ulrich, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989, Bonn 1996.
3 Neumann, Franz, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Köln 1977 (Englische Originalausgabe 1942).
4 Der Mitschnitt einer Ansprache Scholtz-Klinks ist unter
<http://www.dhm.de/lemo/objekte/sound/scholtz-klink/index.html> zu hören.
5 Zur Kritik an einer solchen Verharmlosung der ökonomisch und militärisch dysfunktionalen antisemitischen Initiative vgl.: Herbert, Ulrich, Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der „Weltanschauung“ im Nationalsozialismus, in: Diner, Dan (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt am Main 1987, S. 198-236.
6 Herbert (wie Anm. 2), S. 20.

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