U. Germann: Psychiatrie und Strafjustiz

Cover
Titel
Psychiatrie und Strafjustiz. Entstehung, Praxis und Ausdifferenzierung der forensischen Psychiatrie am Beispiel der deutschsprachigen Schweiz 1850-1950


Autor(en)
Germann, Urs
Erschienen
Zürich 2004: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
594 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annett Moses, Institut für Geschichte der Medizin, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Im ausgehenden 19. Jahrhundert erhielt die Präsenz von Ärzten und Psychiatern im Justizalltag eine neue Qualität, indem sich gerichtspsychiatrische Begutachtungen zu etablieren vermochten. Im Zuge dieser Entwicklung haben psychiatrische Deutungsmuster und Behandlungs- und Versorgungskonzepte an Bedeutung gewonnen. Der Historiker Urs Germann setzt sich in seiner Dissertation zum Ziel, diesen Trend einer interdisziplinären und arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung durch Strafjustiz und Psychiatrie am Beispiel der Begutachtungspraxis im Kanton Bern zu analysieren. Mittels der beiden Ebenen der Rechts- und Kriminalpolitik einerseits sowie der Justizpraxis anderseits soll herausgearbeitet werden, inwiefern Medikalisierungsstrategien Handlungsoptionen für den Umgang mit kriminellem Verhalten boten. Die Studie ordnet sich an der Schnittstelle zwischen einer sozialgeschichtlich erweiterten Psychiatriegeschichte und der historischen Kriminalitätsforschung ein. Weder die traditionelle Medizingeschichte noch die kritische Psychiatriegeschichte haben der forensisch-psychiatrischen Praxis im 19. und 20. Jahrhundert bis jetzt große Aufmerksamkeit geschenkt. 1 In der neueren Forschung zur Entstehung kriminologischer Konzepte standen eher der wissenschaftliche und der kriminalpolitische Diskurs im Mittelpunkt, so dass die vorliegende Studie durch die Integration der Justizpraxis eine Forschungslücke schließt. 2

Um der Komplexität seines Untersuchungsgegenstandes gerecht zu werden und „der Logik der arbeitsteiligen Praxis der Kriminalitätsbewältigung auf die Spur zu kommen“ (S. 36), verbindet Germann ein funktionalistisches Modell struktureller Koppelung mit medikalisierungstheoretischen Konzepten und Professionalisierungsstrategien. Psychiatrie und Strafjustiz sind durch den (Rechts-)Begriff der Zurechnungsfähigkeit strukturell miteinander gekoppelt. Hierdurch erfolgt die Transformation der jeweiligen Systemleistungen in die Sprache des anderen Systems. Die Psychiatrie erscheint als „Leistungserbringerin“ der Justiz. Jedoch sind diese „Transformationsleistungen“ Gegenstand von „Grenzdiskursen“, die zwischen Justiz und Psychiatrie ständig neu ausgehandelt werden. Der methodische Ansatz lehnt sich bewusst an Luhmanns Systemtheorie an, integriert die handelnden Personen jedoch über den der historischen Analyse zugänglichen Diskurs (S. 23). Zum zweiten greift Germann methodisch auf das Konzept der Medikalisierung zurück und definiert diese als Bestrebungen, soziale Devianz zu pathologisieren und medizinisch-psychiatrischen Bewältigungsstrategien zuzuführen. Neben der Entwicklung psychiatrischer Deutungsmuster kriminellen Verhaltens wird zudem die Entstehung neuer institutioneller Zugriffe auf Straftäter untersucht (S. 30). Drittens soll geprüft werden, inwiefern die Annahme eines Professionalisierungsprozesses bzw. der „disziplinären Ausdifferenzierung“ geeignet ist, das Kollektivhandeln der Schweizer Psychiatrie im Kontext der Medikalisierung devianten Verhaltens zu erklären (S. 32).

Die Studie gliedert sich in die drei Teile „Bürgerliches Strafrecht und Medikalisierung kriminellen Verhaltens“ (Kapitel 2-4), „Medikalisierungstendenzen am Beispiel des Kantons Bern“ (Kapitel 5-8) und „Demedikalisierungs- und Ausdifferenzierungstendenzen“ (Kapitel 9-11). Im ersten Teil liefert Germann das strafrechtliche und psychiatrische Basiswissen für die spätere Quellenanalyse. Er fragt nach dem Stellenwert von Medikalisierungspostulaten bei der Genese und Reform des bürgerlichen Schuldstrafrechts. Aus der Verankerung der Zurechnungsfähigkeitslehre im bürgerlichen Strafrecht resultierten neue medizinische Deutungsmuster, wie etwa die „monomanie instinctive“ eines Esquirol (Kapitel 2). Die Integration der kriminalanthropologischen Theorien (wie etwa Lombrosos „geborener Verbrecher“) in die Degenerationslehre der französischen Psychiatrie mündete in der zweiten Jahrhunderthälfte in das Psychopathiekonzept (Kapitel 3). Parallel erfolgten konzeptionelle Veränderungen im juristischen Diskurs, indem sich ein neues Strafparadigma an der Gefährlichkeit des Täters orientierte und die Einführung sichernder Maßnahmen propagiert wurde. Im letzten Kapitel wird die kriminalpolitische Diskussion und die Ausprägung der Strafrechtsreform in der Schweiz bis zum Jahr 1918 nachgezeichnet. Die Strafrechtsreform war das Resultat eines doppelten Lernprozesses und sollte sowohl den Rechtspartikularismus beseitigen als auch eine effizientere Kriminalitätsbekämpfung ermöglichen (S. 159). Gemessen an den radikalen Forderungen von Auguste Forel oder Eugen Bleuler mit dem Ziel einer prospektiven Kriminalitätsprophylaxe erscheint die Bilanz bescheiden. Trotzdem bedeutete das neue Maßnahmenrecht mit der Begutachtungspflicht zweifelhafter Geisteszustände eine beträchtliche Ausweitung des psychiatrischen Zugriffs auf geistesgestörte Straftäter und die definitive Anerkennung der Psychiater als Sachverständige.

Der zweite Teil der Studie rekonstruiert die Herausbildung der Praxis einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung im Kanton Bern. Die Basis der Analyse bilden Gerichtsprotokolle und Untersuchungsakten des Geschworenengerichts sowie Krankenakten der Verfahrenseinstellungen aus den Kliniken Waldau und Münsingen. In einem ersten Schritt werden die rechtlichen, institutionellen und wissenschaftlich-theoretischen Rahmenbedingungen der Begutachtungspraxis im Kanton Bern vorgestellt (Kapitel 5). Der Ausbau der kantonalen Irrenanstalten bot die Grundlage für die Ausdifferenzierung der spezialisierten Psychiatrie. Die verbesserte psychiatrische Infrastruktur umfasste neben den Unterbringungsmöglichkeiten auch die Entwicklung einer „Anstaltstechnologie“ mit der Patientenabsonderung nach Krankheitsschwere und der Ausbildung eines „therapeutischen Milieus“ mit Hausordnung, Zeitplan und gezielter Beschäftigung. Die Irrenanstalten schufen somit erstmals einen homogenen und kontinuierlich überwachten Beobachtungsraum. Die administrative Verankerung neuer Deutungsmuster an der Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit schlug sich auch im Wandel der Diagnosestatistiken nieder. Seit 1895 wurde mit den Zustandsbildern Psychopathie, Hysterie, moralischer Schwachsinn und abnormer Charakter eine neue Gruppe konstitutioneller Störungen in das Diagnoseraster integriert.

Im sechsten Kapitel werden die strafrechtlichen Gutachten zunächst quantifizierend ausgewertet. Zwischen 1885 und 1920 erstellten die Psychiater der Berner Irrenanstalten insgesamt 817 Gutachten in Straffällen, wobei ein Anstieg von wenigstens 20 (im Jahr 1900) auf deutlich über 40 Gutachten (im Jahr 1917) festzustellen ist (S. 190-195). Einer Ausweitung der „konstitutionellen Störungen“ mit Diagnosen wie „Psychopathie“, „moralischer Schwachsinn“ oder „Hysterie“ standen rückläufige Ziffern bei Psychosen aus dem manisch-depressiven Formenkreis oder der Dementia praecox gegenüber. Für die zunehmende Medikalisierung von Delinquenz nach der Jahrhundertwende waren demnach psychiatrische Deutungsmuster verantwortlich, die sich im Anschluss an die Degenerationstheorie herausgebildet hatten.

Kapitel 7 zeigt anhand der qualitativen Analyse einzelner Kriminalfälle die mit der Begutachtungspraxis verbundenen Mechanismen und psychiatrischen Deutungsmuster auf. Insgesamt werden 96 Begutachtungsfälle (48 Strafverfahren, 30 Fälle, die im Verlauf der Voruntersuchung eingestellt worden waren, 18 Präzedenzfälle) analysiert. Anlässe einer Begutachtung waren ein früherer Aufenthalt in einer Irrenanstalt, Zeugenaussagen oder auffälliges Verhalten. Die Anordnung der Begutachtung erfolgte in der Regel durch praktische Ärzte oder medizinische Laien; demnach können Medikalisierungstendenzen in der Strafrechtspflege nur bedingt als Resultat von Professionalisierungsbestrebungen des psychiatrischen Standes betrachtet werden. Ein handlungsleitendes Motiv der Justizbehörden bei der wachsenden Inanspruchnahme psychiatrischer Fachkompetenzen erscheint unter dem „Blickwinkel einer Zivilisationssemantik“ (S. 220), denn geistesgestörte Personen durften für ihre Handlungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Bedenkt man, dass die Gutachten von den Justizbehörden in Auftrag gegeben wurden, ist die forcierte Medikalisierung kriminellen Verhaltens auch Ausdruck eines „psychiatrisch sensibilisierten Justizwesens“. Die Psychiater selektierten die Untersuchungsakten gezielt nach medizinisch relevanten Informationen. Beobachtungen aus der Irrenanstalt (Gespräche und Testverfahren), organische Befunde und so genannte „Degenerationszeichen“ dienten zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit. Die Analyse einiger herausragender Fälle im Hinblick auf die zugrunde liegenden diskursiven Strukturen und narrativen Muster zeigt, dass psychiatrische Deutungsmuster gänzlich unterschiedliche medizinische und juristische Implikationen haben konnten. So schwankten die Sachverständigen öfters zwischen der Diagnose einer eigentlichen Geisteskrankheit oder der bloßen Annahme einer abnormen Konstitution. Eine „harte Krankheitsdiagnose“ bedeutete nicht zwangsläufig die Verneinung der Zurechnungsfähigkeit. Insbesondere bei Dementia praecox, die mit symptomfreien Remissionen verlaufen konnte, verwischten sich die Grenzen zwischen eindeutigen und grenzwertigen Fällen. Das Psychopathiekonzept erlaubte es, bürgerliche Untugenden, wie Streitsucht oder Gewalttätigkeit als Ausdruck einer „unzureichenden Harmonie des Seelenlebens“ zu deuten, die sich als mangelhafte Selbstbeherrschung manifestierte (S. 273).

Kapitel 8 untersucht die sichernden Maßnahmen bei „Gemeingefährlichkeit“. Durch die Verwahrung der unzurechnungsfähigen Straftäter in einer Irrenanstalt erlangten die Medikalisierungsprozesse eine institutionelle Komponente. Nahezu in jedem zweiten Begutachtungsfall wurden sichernde Maßnahmen aufgrund von Gemeingefährlichkeit beantragt (S. 327). Bei beiden Geschlechtern lassen sich bei der Verhängung sichernder Maßnahmen signifikante Prävalenzen von Diagnosen mit höherem Krankheitswert ausmachen. Mit Bezug auf die Delikte wurden Männer tendenziell häufiger bei Misshandlungen, Sittlichkeitsdelikten und Delikten gegen das Leben, Frauen öfters bei Brandstiftungen verwahrt. Anhand von vier exemplarischen Fällen wird herausgearbeitet, dass die Feststellung der Gemeingefährlichkeit eines Delinquenten das Produkt eines komplexen Zuschreibungsprozesses war, der sich neben Faktoren wie der Rückfallserwartung sowie einer konstatierten Halt- und Einsichtslosigkeit auch aus den Alltagsbeobachtungen speiste, die in der persönlichen Lebensumwelt über die betreffende Person zirkulierte (S. 340-351). Die starke Zunahme der Verhängung sichernder Maßnahmen folgte einer Bewusstseinslogik, die sich an der potenziellen Gemeingefährlichkeit orientierte.

Im letzten Teil der Studie wird die psychiatrische Praxis in der Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit untersucht. Seit dem Ersten Weltkrieg sah sich die Psychiatrie zunehmend mit der Frage konfrontiert, wie die forcierte Medikalisierung kriminellen Verhaltens institutionell zu bewältigen sei. Die Ausweitung der Begutachtungs- und Verwahrungspraxis nach der Einführung des neuen Strafgesetzbuchs (1942) bedeutete für die Schweizer Psychiatrie eine beträchtliche personelle und institutionelle Herausforderung. Die Psychiater wurden gleichsam „Opfer ihres eigenen kriminalpolitischen Erfolges“ (S. 465). Nachdem die Errichtung spezieller Verwahrungs- und Begutachtungsinstitutionen für unzurechnungsfähige Straftäter zusehends von der disziplinären Agenda verschwunden war, entwickelte sich die Strategie einer teilweisen Demedikalisierung des Maßnahmenvollzugs. „Missliebige Grenzfälle“ sollten unabhängig von ihrer Schuldfähigkeit in den regulären Strafvollzug übergehen. Wiederum anhand des Fallbeispiels Bern wird verdeutlicht, dass den Strafvollzugsbehörden große Ermessensspielräume eingeräumt wurden, sichernde Maßnahmen gegen abnorme Delinquenten mit nur geringen Heilungs- oder Besserungschancen in nicht ärztlich geleiteten Anstalten zu vollziehen. Mittels einer rudimentären psychiatrischen Versorgung des regulären Strafvollzugs sollten die dysfunktionalen Auswirkungen des ungelösten Verwahrungsproblems kompensiert werden.

Urs Germann hat eine sehr gut strukturierte und durchweg schlüssig aufgebaute Untersuchung der forensisch-psychiatrischen Praxis in der deutschsprachigen Schweiz vorgelegt. Trotz der Komplexität des Forschungsdesigns ist die Darstellung gut lesbar und sind die Schlussfolgerungen allesamt nachvollziehbar. Aufgrund des disziplinenübergreifenden Untersuchungsansatzes sollten die LeserInnen mit den strukturanalytischen und diskursiven Methoden der historischen Sozialwissenschaften gut vertraut sein, um der Argumentation in allen Facetten folgen zu können. Die bisweilen etwas trockene wissenschaftliche Terminologie wird durch die zahlreichen Zitate der direkt Beteiligten aus den Gutachten und Krankengeschichten aufgelockert. Die Kombination des kriminalpolitischen Schrifttums mit der Auswertung von Gerichtsprotokollen und Krankengeschichten als Quellen hat sich für die Frage nach den Deutungsmustern von kriminellem Verhalten als sehr ergiebig erwiesen. Es empfehlen sich weiterführende Forschungen zur forensisch-psychiatrischen Praxis im deutschsprachigen Raum, in denen die für die Schweiz gewonnen Ergebnisse für andere Länder überprüft werden sollten.

Anmerkungen:
1 Für einen Überblick zu aktuellen Forschungsfragen und Methoden in der Psychiatriegeschichte vgl.: Roelcke, Volker; Engstrom, Eric J. (Hgg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Basel 2003; vgl. auch den Beitrag von: Germann, Urs, „Entmündigung der Fachjustiz“ oder „Reserveengel der Jurisprudenz“?, ebd., S. 219-244; zur Verwahrung von geisteskranken Straftätern unter Einbeziehung von Krankengeschichten und Gerichtsprotokollen vgl. etwa für das Land Hessen: Vanja, Christina, Das „Feste Haus“ – Eine Institution zwischen Strafvollzug und Psychiatrie, in: George, Uta; Groß, Herwig; Putzke, Michael; Sahmland, Irmtraut; Vanja, Christina (Hgg.), Psychiatrie in Gießen. Facetten ihrer Geschichte zwischen Fürsorge und Ausgrenzung, Forschung und Heilung, Gießen 2003, S. 125-153; hier auch eine Diskussion des Forschungsdesiderats weiterer Archivstudien zur forensisch-psychiatrischen Praxis im Kaiserreich und in der Zwischenkriegszeit.
2 Als neuere Studien zur Geschichte der Kriminologie und der Kriminalpolitik vgl.: Müller, Christian, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871-1933, Göttingen 2004; Galassi, Silviana, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, Stuttgart 2004; Becker, Peter, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension