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Titel
Das radikale Milieu. Kieler Novemberrevolution, Sozialwissenschaft und Linksradikalismus 1917-1922


Autor(en)
Siegfried, Detlef
Erschienen
Anzahl Seiten
192 S., 25 s/w Abb.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Heinrich Pohl, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Detlef Siegried hat als profunder Kenner des „linken“ Kieler Milieus ein kleines, dichtes Buch geschrieben, das seine vielfältigen Forschungsinteressen gezielt miteinander verbindet - und zugleich neu bündelt. Er integriert die Kenntnisse der „linken Szene“ aus Schleswig Holstein nach 1945, die er in seiner Dissertation untersucht hat, er beschäftigt sich mit einem Personenkreis, dessen Lebensweg in der Weimarer Republik er z.T. bereits in seiner Studie „Der Fliegerblick“ verfolgt hat und stellt die Ergebnisse seiner Überlegungen schließlich in Zusammenhang mit den Unruhen der 1960er-Jahre, über die er ebenfalls schon publiziert hat. Da das Buch kein wissenschaftliches „Abfallprodukt“ darstellt oder aber als ein nostalgischer Tribut an vergangene „Träume“ zu verstehen ist, muss an diesem „linken Kieler Milieu“ wohl etwas Besonderes sein.

In seiner Studie verwendet Siegfried eine sehr anspruchsvolle Kombination von verschiedenen Analysemodellen, die zwischen Biografie und Milieustudie, zwischen Kollektivbiografie und Generationenprojekt angesiedelt sind. Es gelingt ihm dabei, die jeweiligen methodischen Erkenntnisse geschickt zu kombinieren und zu einem eigenen, gut handhabbaren Analyseinstrumentarium zusammenzufügen. Mit diesem Verfahren wird er allerdings nicht alle diese „Schulen“ zufrieden stellen. Das Instrumentarium nutzt er, um – über den sehr kurzen Zeitraum von fünf Jahren hinweg – einen kleinen Kreis Kieler Intellektueller zu analysieren, die, mehr oder weniger dem Kieler Institut für Weltwirtschaft verbunden, mehr oder weniger miteinander befreundet, mehr oder weniger links von der Sozialdemokratie angesiedelt waren und einen eigenen intellektuellen, politischen und sozialen Mikrokosmos bildeten. Zu diesem Kreis gehörten Personen wie Kurt Albert Gerlach, Richard Sorge, Alfred Meusel, Rudolf Heberle und Adolf Dethmann, Persönlichkeiten, die im Laufe ihres Lebens in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen, aber auch in Wirtschaft und Politik, weit über Schleswig Holstein bekannt wurden.

Das Verdienst Siegfrieds besteht darin, am „Fallbeispiel Kiel“ dem Leser mit großer Einfühlsamkeit, subtiler Interpretationstechnik ein „linkes Milieu“ zu präsentieren, das aus der Revolutionszeit 1918/19 entstand und für kurze Zeit, trotz großer innerer Heterogenität, einen fragilen Zusammenhalt bewahrte. Es gelingt ihm zu verdeutlichen, wie und auf welchem Wege und mit welchen Mitteln, dieses Milieu über den engen Kieler Rahmen hinaus auf den linken Radikalismus und seine sozialwissenschaftlichen Analysen einwirkte. Weiterhin aber – und das scheint mir noch wichtiger zu sein – gelingt es ihm, die Mechanismen der zentrifugalen wie auch der zentripedalen Kräfte innerhalb dieser Intellektuellengruppe in einer ganz dichten, außergewöhnlich gut dokumentierten Beschreibung zu verdeutlichen.

Dazu bedarf es allerdings – neben der zeitlichen Eingrenzung – weiterer erheblicher Beschränkungen. Siegfried konzentriert sich auf einen sehr kleinen, ihm bereits gut bekannten geografischen und sozialen Raum, er engt den Personenkreis auf eine Generation und darüber hinaus auf nur ein politisches Segment der „Jungen Frontgeneration“ ein und begrenzt schließlich die Herkunft seiner kleinen Gruppe auf ein bürgerlich-intellektuelles Milieu. Auf diese Weise kann er in hohem Maße auch biografisch arbeiten und so persönliches und allgemeines, Individualität und soziale Gruppe miteinander verschmelzen.

Das Ziel seiner Studie besteht darin, eine dichte Beschreibung zu erstellen, die einen weiterführenden Beitrag zu einer politischen Sozial- und Kulturgeschichte der Weimarer Republik darstellt. Darüber hinaus möchte er das gängige Bild von Generationenkulturen präzisieren und differenzieren und – an diesem konkreten Beispiel – „den Zusammenhang zwischen praktischer Tat und wissenschaftlicher Analyse in der Institutionalisierungsphase der Sozialwissenschaften genauer“ beleuchten (S. 17). Sein drittes Ziel besteht schließlich darin, das von ihm untersuchte Milieu als Folie für die Beurteilung des deutschen Linksradikalismus in der Zeit zwischen 1967 und 1977 zu nutzen.

Alle diese hochgesteckten Ziele kann Siegfried in seiner schmalen Schrift nicht verwirklichen. Immerhin: Der Verfasser überzeugt besonders bei der Darstellung des Kieler Milieus in seiner ganzen Diffusität, zugleich aber auch in seiner gleichfalls vorhandenen Klarheit. Vor allem gelingt es ihm, das Spiel von Anziehung und Ablehnung, von Nähe und Distanz, von Gemeinsamkeit und Individualität, von Zusammengehörigkeit und Fluktuation präzise einzufangen. Deutlich erkennt man an einer solchen dichten Milieubeschreibung, wie begrenzt soziale, politische und ökonomische Kohäsionskraft ist, welche Rolle unberechenbare Individualität und der Zufall spielen können und wie unscharf prognostische Aussagen über zukünftige Entwicklungen einzelner Gruppenmitglieder sein müssen – wenn man sich die weitere Entwicklung führender Vertreter dieses Milieus genauer anschaut. Richtet man den Blick nach vorn lassen sich dennoch zwei Hauptstränge herausarbeiten: Ein relativ kleiner Teil dieses Milieus verharrte auch später in eher realitätsfernen, utopischen sozialen und politischen Vorstellungen. Ein anderer Teil hingegen veränderte seine ursprünglichen Positionen in einer längeren Auseinandersetzung mit der Praxis hin zu mehr und mehr politischem Realismus, um auf diese Weise – wenn auch in kleinen Schritten – die gegebene Realität in ihrem Sinne zu verändern.

Ebenfalls kann Siegfried einen Beitrag zur Diskussion über die Generationenkulturen in der Weimarer Republik leisten. Sehr überzeugend verortet er das „Kieler Milieu“ in einem bestimmten Sektor der jungen Frontgeneration und trägt auf diese Weise, einerseits zur Präzisierung des Generationenbegriffs, zugleich aber auch andererseits zu seiner weiteren Differenzierung bei. Sein letztes Ziel, Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen der sozialen Bewegung in der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er-Jahren und dem „Kieler Mikrokosmos“ herzustellen, bleibt allerdings fragmentarisch. Ganz zweifellos reicht das Ausgangsmaterial seiner Untersuchung nicht aus, um mehr als punktuelle Ähnlichkeiten festzustellen. Es mag sein, dass ideologische Komponenten, soziale Verhaltensweisen und persönliche Entwicklungen partiell übereinstimmten, daraus jedoch weiter Schlüsse zu ziehen, wäre mehr als fahrlässig. Das tut Siegfried allerdings auch nicht.

Als Fazit bleibt, dass ein (sehr kleines) spezielles Milieu untersucht wird, über dessen Bedeutung man verschiedener Meinung sein kann. Wichtiger als das scheint jedoch zu sein, mit welcher Methodenvielfalt diese Milieustudie vorangetrieben wird, auf welch überzeugende Weise Ökonomie, Soziales und Kultur in einem gemeinsamen Zugriff verbunden und zugleich aller Determination des Geschehens durch biografische Versatzstücke und die betonte Rolle des Zufalls ein Riegel vorgeschoben wird. Die Studie stellt ein bedenkens- und lesenswertes, vor allem auch gut geschriebenes Buch dar – dem man sich nur eine aussagekräftigere Illustration gewünscht hätte. Die Abbildungen jedenfalls verbergen in der Regel mehr als sie zeigen.

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