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Titel
Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der sozialen Marktwirtschaft. Biografie


Autor(en)
Mierzejewski, Alfred C.
Erschienen
München 2005: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Bührer, Technische Universität München

Ludwig Erhard landete bei der ZDF-Umfrage nach „unseren Besten“ Ende 2003 abgeschlagen auf Platz 27, während Konrad Adenauer, der ihm lange Zeit den Weg ins Kanzleramt versperrt hatte, auf den ersten Platz gewählt wurde. Folgte man der Interpretation des an der University of North Texas lehrenden amerikanischen Historikers Alfred C. Mierzejewski, müsste man die schlechte Platzierung des „Visionärs und Ausnahmepolitikers“, so der Klappentext des hier vorzustellenden Buchs, als schreiende Ungerechtigkeit empfinden. Mierzejewski preist Erhard nämlich als „einzigartig“ (S. 53) und als einen Politiker, der „die Umgestaltung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend geprägt“ habe (S. 320), am Ende seiner Karriere freilich zur „tragischen Figur“ geworden sei (S. 327), weil er es nicht verstanden habe, sich dem politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Wandel anzupassen. Umso beklagenswerter erscheint es Mierzejewski, dass es nur wenige deutsch- und noch weniger englischsprachige Bücher über diesen „ungewöhnlichen Mann“ gebe (S. 11) – und diesem Mangel möchte er mit seiner an ein breites Publikum gerichteten, im neoliberalen Geist verfassten Biografie abhelfen.

Auf neue Quellenfunde ist ein solches Unterfangen nicht unbedingt angewiesen, und in der Tat begrenzte Mierzejewski seine eigenen Forschungen auf einige ausgewählte Themen wie Erhards wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Ideenwelt, den Streit um das Kartellgesetz und die Rentenreform. Die Archive, die er dabei benutzte, lassen sich an einer Hand abzählen: Neben dem Nachlass Erhards in der gleichnamigen Stiftung wertete Mierzejewski notorisch einschlägige Bestände des Bundesarchivs aus – darunter jene des Bundesministeriums sowie der Verwaltung für Wirtschaft, des Bundeskanzleramts und der Sonderstelle Geld und Kredit – und des Archivs für christlich-demokratische Politik (Nachlässe Binder und Müller-Armack). In den National Archives stießen nur die thematisch nicht eben zentralen „Records of Allied Operational and Occupation Headquarters, World War II“ auf sein Interesse. Auch die Auswahl der Forschungsliteratur bietet keinerlei Überraschung. Insbesondere neuere, wichtige Aspekte des Erhardschen Wirkens betreffende Arbeiten wurden ignoriert, und der „hoffentlich auch für Fachleute als hilfreich“ (S. 10) angekündigte „bibliografische Kommentar“ sticht deshalb allenfalls durch zahlreiche apodiktische Urteile über Erhard-kritische Autoren hervor.

Das Buch ist im Wesentlichen chronologisch gegliedert, wobei meist politische Ereignisse als Einschnitte dienen; nur ein Kapitel – dasjenige über Erhards Ideenwelt – weicht von diesem Schema ab. Die größte Zeitspanne umfassen die „Lehrjahre eines Ökonomen 1897-1945“. Mierzejewski schildert darin zunächst die Jugendzeit Erhards, die er geprägt sieht durch die „liberalen, kleinunternehmerischen Neigungen“ des Vaters und die protestantische Erziehung durch die Mutter, die Militärzeit und die kurz vor Kriegsende nahe Ypern erlittene Verwundung. Im Herbst 1919 begann Erhard ein volkswirtschaftliches Studium an der neugegründeten Handelshochschule in Nürnberg, für das kein Abitur erforderlich war. Dem weiteren Verlauf dieses Studiums, den akademischen Lehrern Franz Oppenheimer und Wilhelm Vershofen, dem Berufseinstieg an dem von Letzterem geleiteten Forschungsinstitut, dem Scheitern der Habilitationspläne, den ersten wissenschaftlichen Wortmeldungen, dem zwischen Arrangement und Distanz schwankenden Verhältnis zum Nationalsozialismus und den gewiss hilfreicheren Kontakten zur „Reichsgruppe Industrie“ sind die restlichen Seiten gewidmet. Wird Erhard hier noch als „unabhängiger Denker“ charakterisiert (S. 50), so erscheint er im nächsten, am besten gelungenen Kapitel als ein von unterschiedlichen Erkenntnissen, Erfahrungen und Theoretikern beeinflusster, mithin keineswegs „origineller Denker“ (S. 53). Bei allem theoretischen Eklektizismus Erhards arbeitet Mierzejewski doch einige Konstanten der Wirtschaftsphilosophie seines „Helden“ heraus: Dazu zählt er insbesondere dessen unbeirrbaren Glauben an die Überlegenheit des freien Marktes und die tiefsitzende Aversion gegen „Kollektivismus“, „Dirigismus“ und „Planwirtschaft“ – Etikettierungen, mit denen auch schon Kontrahenten aus der SPD, den Gewerkschaften oder den europäischen Institutionen großzügig bedacht wurden. Erhard selbst habe die „Vision einer Gesellschaft aus vernünftigen Bürgern“ gehegt, „die keiner Interessengruppe verpflichtet sind, die ihre eigenen Entscheidungen treffen und daher in Selbstachtung, Gleichheit und Würde leben“ (S. 70).

Zur Verwirklichung dieses hehren Ideals hatte Erhard zunächst als Direktor der bizonalen Verwaltung für Wirtschaft, danach als langjähriger Bundeswirtschaftsminister und schließlich als Bundeskanzler zwischen 1948 und 1966 reichlich Gelegenheit. Mierzejewski zeichnet Erhards Karriere in unterschiedlicher Ausführlichkeit nach. Den meisten Raum – fast 70 Seiten – benötigt er für den „Durchbruch 1945-1949“, was insofern gerechtfertigt erscheint, als er diesem Zeitabschnitt die großen Leistungen und Erfolge zurechnet: Zwar habe Erhard auch später noch „einiges“ erreicht, „jedoch nichts mehr in der Größenordnung der Liberalisierung des Marktes vom Juni 1948“ (S. 141). Er wird folglich nicht müde, mit Erhard die Segnungen des freien Marktes zu preisen, der „den deutschen Bürgern zum ersten Mal wieder ihre Würde zurückgeben und es ihnen ersparen“ werde, „sich mit gesichtslosen Bürokraten in finsteren Zimmern um das zu streiten, was ihnen zustehe“ (S. 117). In der Quelle, auf die er sich dabei beruft, steht das zwar nicht exakt so, aber was soll’s – Hauptsache, Erhards zweifellos mutiger Entschluss gewinnt durch diese Formulierung noch an Dramatik.

Wie der Minister sein Konzept gegen Angriffe von innen – insbesondere von Seiten der Kartellanhänger um den Bundesverband der Deutschen Industrie – und außen – insbesondere von Seiten der auf dem Höhepunkt der Koreakrise um die wirtschaftliche Stabilität der Bundesrepublik besorgten Amerikaner – zu verteidigen versuchte, ist Gegenstand des vierten, die Jahre bis 1953 umspannenden Kapitels. Anschließend behandelt Mierzejewski den eher halbherzigen und deswegen nur teilweise erfolgreichen Einsatz Erhards zugunsten einer marktkonformen Kartell- und Sozialgesetzgebung; die Rentenreform von 1957 betrachtet er sogar als dessen „wichtigste Niederlage“ und als „das Ende der sozialen Marktwirtschaft“ (S. 240). Diese „Neuausrichtung“ der Regierungspolitik erklärt seiner Ansicht nach „wahrscheinlich“ auch „den Rückgang des Wirtschaftswachstums in der Bundesrepublik“ in den 1960er-Jahren (S. 258f.).

Seit 1957 sieht Mierzejewski Erhard jedenfalls im „schleichenden Abstieg“, obwohl der eigentliche Höhepunkt in dessen Karriere, die Kanzlerschaft, noch bevorstand. Die Konflikte mit Adenauer – etwa über die Europapolitik, das Verhältnis zu Frankreich oder die Energiepolitik – nahmen zu, der Arbeitseifer des Wirtschaftsministers hingegen sank. Die Kanzlerjahre handelt Mierzejewski gar unter der lapidaren Überschrift „Enttäuschung“ ab: ungelöste und zumindest für Erhard unlösbare Probleme überall – mit dem amerikanischen Präsidenten Johnson, mit Frankreichs Präsident de Gaulle, mit der heimischen Konjunktur, mit dem Bundeshaushalt. Da habe selbst die „edle Vision“ einer „formierten Gesellschaft“ nicht mehr geholfen, und das Land sei „in Machtkämpfen und gegenseitigen Schuldzuweisungen“ versunken (S. 303f.). Im kurzen Schlusskapitel werden die Erfolge und Niederlagen Erhards für eilige LeserInnen pointiert aufgelistet.

Ungeachtet manch verklärender Züge betreibt Mierzejewski keine Hagiografie, denn er spricht auch die Schwächen und Misserfolge des Protagonisten deutlich an. Dazu zählt er, neben den bereits erwähnten, vor allem Erhards Neigung zum „Aussitzen“ der Probleme, seine unterentwickelten organisatorischen Fähigkeiten sowie seinen Mangel an Durchsetzungskraft und Machtwillen. Gleichwohl hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Die Frage drängt sich auf, ob die zahlreichen ungenauen oder fragwürdigen Aussagen und Urteile schlichter Unkenntnis, einer gewissen Gleichgültigkeit oder der neoliberalen Elle geschuldet sind, welche Mierzejewski durchgängig an seinen Gegenstand angelegt hat. Einige Beispiele: Die Behauptung, „deutsche Unternehmenschefs erwarteten, vom Staat gelenkt und geschützt zu werden“ (S. 77), lässt sich so undifferenziert gewiss ebensowenig halten wie jene, dass „Gewerkschaftsführer“ noch in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre „über Tarifvereinbarungen den Kapitalismus von innen zu zerstören“ versucht hätten (S. 257), oder dass Erhard für „sich selbst [...] offensichtlich keinerlei Werbung“ betrieben habe (S. 55). Das gleiche gilt für eine unpräzise Feststellung wie diejenige, dass „Ende 1958“ die freie Konvertierbarkeit „der“ Währungen erreicht worden sei (S. 246), oder den unkommentiert von Erhard übernommenen Vorwurf der „übermäßigen Machtkonzentration“ an die Adresse der „Europäischen Kommission“ (S. 265).

Wer Erhard als idealistischen neoliberalen Streiter begreift, wird von Mierzejewski also nachdrücklich bestätigt; wer eine zwar kritische, mitunter sogar abfällige, aber quellengesättigte Biografie bevorzugt, sollte nach wie vor zur Arbeit von Volker Hentschel greifen1; und wer Erhard in ungewohnter Perspektive als Pionier der Globalisierung kennenlernen möchte, sei auf die Studie Reinhard Neebes verwiesen.2

Anmerkungen:
1 Hentschel, Volker, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München 1996.
2 Neebe, Reinhard, Weichenstellung für die Globalisierung. Deutsche Weltmarktpolitik, Europa und Amerika in der Ära Ludwig Erhard, Köln 2004; vgl. dazu meine Rezension: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-150.

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