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Titel
Unionsbürger. Europas föderales Bürgerrecht in vergleichender Sicht


Autor(en)
Schönberger, Christoph
Reihe
Jus Publicum
Erschienen
Tübingen 2006: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
597 S.
Preis
€ 129,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Gretchenfrage nach unserer politischen Identität beantworten wir uns oft allzu einfach. Mühsam erlernen wir gerade einmal den Unterschied von Staat und Nation. Wir sagen: „Ich bin Deutscher!“, und verstehen das häufig noch nationalstaatlich. Oder wir werfen uns in die Brust und nennen uns „gute Europäer“, ohne dahinter die rechtlichen Zwänge zu ahnen. Kaum jemand wird aber die Maastricht-Kriterien erfüllen und verfassungsrechtlich korrekt (S. 147) antworten: „Ich bin Unionsbürger!“ Christoph Schönberger möchte das ändern, weil wir seit 1993 „Unionsbürger“ sind. Erst heute, mit Abstand zu Maastricht und einigen Jahren Rechtsprechungspraxis, sei eine rechtsdogmatische Analyse dieser Entwicklung „sine ira et studio“ möglich: „Eine derartige Analyse verspricht Erkenntnisse über die Europäische Union insgesamt.“ (S. 5) Schönberger möchte „Europas föderales Bürgerrecht“ verfassungsrechtlich klären, indem er den „Unionsbürger“ auf den Begriff bringt.

Dabei argumentiert er rechtsgeschichtlich vergleichend. Er klebt nicht an den Gesetzestexten, sondern erhellt die „Dogmatik“ aus einer historisch vergleichenden allgemeinen „Theorie des Bundes“ (S. 11). Schönberger liest der Verfassungsgeschichte einige allgemeine Kategorien föderaler Rechtsinstitute ab und nimmt dabei die Tradition Allgemeiner Staatslehre wieder auf. Namentlich beruft er sich auf das „Vorbild“ (S. 19f.) Heinrich Triepels. Von Triepel übernimmt er das besondere Interesse an den föderalen Strukturen des Bismarck-Reiches. Scharf distanziert er sich aber von der veralteten nationalstaatsbezogenen „Deutungsperspektive“, die heute ihrerseits voreilig durch eine „nachstaatliche Betrachtungsweise“ (S. 33) abgelöst werde. Weder Nationalstaat noch Weltstaat: Eine verfassungsgeschichtlich belehrte allgemeine „Theorie des Bundes“ soll die verfassungsrechtlichen Probleme des Unionsbürgerrechts erhellen. Das Erkenntnisinteresse geht dabei über das europäische Verfassungsrecht hinaus auf allgemeine Kategorien föderalen Bürgerrechts. Schönbergers überaus dichte, breit angelegte und begrifflich klare Untersuchung ist damit für den Historiker auch methodisch interessant: Sie lehrt den Unterschied zwischen einer strikt historisierenden, rechtsgeschichtlichen Betrachtung und einer historischen Typologie in dogmatischer, rechtspolitisch relevanter Absicht. Schönberger argumentiert nicht als Verfassungshistoriker, aber er argumentiert verfassungshistorisch und betrachtet die Geschichte erneut als „Lehrmeisterin“ (S. 97).

Die Unterscheidung zwischen einer allgemeinen Theorie und Dogmatik der Bundesangehörigkeit kommt schon in der Zweiteilung der umfassenden Untersuchung zum Ausdruck: Der erste, allgemeine Teil behandelt „Die Bundesangehörigkeit als Grundbegriff des föderalen Verfassungsrechts“; der zweite, dogmatische Teil erörtert dann „Die Unionsbürgerschaft als Bundesangehörigkeit der Europäischen Union“.

Der erste, allgemeine Teil möchte das Institut der Bundesangehörigkeit als Grundbegriff historisch-typologisch sichern. Dafür verdeutlicht er zunächst Hypotheken der überkommenen staatsbezogenen Terminologie und weist auch die „nachstaatliche“ und weltbürgerliche Deutungsperspektive zurück (S. 32ff.), für die etwa Höffe und (früher) Habermas (S. 47, vgl. S. 140ff., 157f., 165) stehen. Schönberger entwickelt seinen allgemeinen Begriff der „Bundesangehörigkeit“ im vergleichenden Längsschnitt durch die Verfassungsgeschichte der USA, der Schweiz und Deutschlands. Dabei betont er freilich, dass es „keine allgemeine föderale Entwicklungsteleologie“ (S. 57) gibt. Er verfügt über einen reichen Fundus verfassungshistorischen Wissens, schüttelt die historischen Exempla aus dem Ärmel, wobei er mit souveränem Überblick über die internationale Literatur stets aus den Quellen und erster Hand rechtswissenschaftlicher Klassiker schöpft. Insbesondere in der Staatslehre des Wilhelminismus ist er zu Hause. Laband, Triepel, Julius Hatschek und viele andere 1 sprechen zu ihm wie Zeitgenossen, weil sie mit dem Zweiten Reich analoge föderale Probleme vorfanden. Für die USA betont Schönberger, dass es erst nach dem Sezessionskrieg „zu einer massiven Unitarisierung des Angehörigkeitsrechts“ (S. 65, vgl. S. 73ff.) kam. Am Modell der Schweiz betont er die Besonderheit, „wie sehr das Schweizer Bürgerrecht bis heute auf Kantons- und Gemeindebürgerrecht aufruht“ (S. 91), was armenrechtliche „Grenzen innerföderaler Solidarität“ (S. 88) bedingte. Der deutschen Entwicklung liest er die elementare Leistung komplementärer Verbürgung der „Freizügigkeit und Armenunterstützung“ (S. 104ff.) ab. Aus der älteren juristischen Literatur entnimmt er den Schlüsselbegriff des „Indigenats“ (S. 113ff.): Es „umschreibt die Rechtsstellung, die dem Staatsangehörigen eines Gliedstaates gegenüber jedem anderen Gliedstaat des Bundes zusteht, dessen Staatsangehöriger er nicht ist“ (S. 208).

Nach dem verfassungshistorischen Durchgang zieht Schönberger systematische Konsequenzen für „Die Bundesangehörigkeit als Rechtsbegriff“ (S. 128ff.). Er sichert sie gegen Missverständnisse und erörtert zahlreiche aktuelle Fragen, wobei er um der systematischen Klarheit willen auch Wiederholungen nicht scheut. „Aufenthaltsrecht und Fürsorgepflicht“ seien die Kernelemente der Bundesangehörigkeit (S. 134ff.); Angehörigkeit sei „nicht in erster Linie durch politische Partizipation konstituiert [...], sondern durch die tiefere Schicht des Bleibensdürfens und Unterstützwerdens“ (S. 137). Energisch hält Schönberger an der weiteren Bedeutung der „Bundesangehörigkeit“ gegenüber der „Bundesbürgerschaft“ fest (S. 164ff.). Eine besondere grundrechtliche Auszeichnung der Bundesangehörigkeit hält er für entbehrlich. Systematisch entscheidend sei die „untrennbare Verknüpfung zwischen Gliedstaatsangehörigkeit und Bundesangehörigkeit“ (S. 166ff.), die ein Koordinationsverhältnis von Zuweisungen und Zuordnungen bezeichne und nicht hierarchisch gedeutet werden dürfe (S. 179ff.). Ausführlich arbeitet Schönberger die rechtlichen Konsequenzen des Indigenatsmodells durch. Solche sind etwa der Verlust des Asylrechts oder Auslieferungspflichten innerhalb des Bundes (S. 240ff.), wie es sich in der Europäischen Union auch abzeichnet. Weitere Rechtsfragen stellen sich beim Verhältnis zur Mehrstaatigkeit, die sich schon in der griechischen Antike fand (S. 257ff.) und keine Lösung des Indigenats ist. Schönberger beschließt den ersten Teil mit einer Zwischenbilanz.

Diente der erste Teil der vergleichenden theoretischen Erfassung der Bundesangehörigkeit als Grundbegriff der föderalen Dogmatik, so widmet sich der zweite den dogmatischen Konsequenzen. Schönberger geht nun mit seinem Begriff des Indigenats an die Dogmatik der Europäischen Union heran. Er konzentriert sich damit auf die europarechtliche Dogmatik. Seinen Schatz historischer Parallelen und Exempla nimmt er zwar mit. Dennoch richtet sich der zweite Teil mehr an EuroparechtlerInnen als an HistorikerInnen. Das heißt nicht, dass die Untersuchung in einen „historischen“ und einen „dogmatischen“ Teil auseinander fällt. Schönbergers Grundansatz ist es ja, der Verfassungsgeschichte historische Grundbegriffe abzulesen, die die gegenwärtige Dogmatik erhellen.

Schönberger skizziert im zweiten Teil zunächst das systematische Verhältnis von Unionsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit der Mitgliedstaaten. Er erörtert die Rechtsstellung der Unionsbürger gegenüber den anderen Mitgliedstaaten dann ausführlich von seinem Begriff des gemeinsamen Indigenats her. Hier diskutiert er zunächst das „Kernelement“ des Aufenthaltsrechts in seinen wirtschaftlichen Bedingungen und Grenzen, wie der „sozialen Fürsorge“ innerhalb der Union. Muss ein Staat die Sozialhilfekosten für bedürftige Zuwanderer aus einem anderen Gliedstaat übernehmen? Was passiert etwa bei Wanderungsbewegungen infolge höherer Sozialleistungen in einem Gliedstaat? Gibt es dann einen Lastenausgleich (S. 350ff.)? Die Regelungen solcher Probleme sind noch im Fluss und überall zeigt sich die rechtspolitische Relevanz der Studie. Schönberger bemängelt etwa die „Diskrepanz“ (S. 381, vgl. S. 374ff.) zwischen einem schnellen Erwerb eines Sozialhilfeanspruchs und relativ langen, fünfjährigen Zeitraum bis zum Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts, was zu einer schnellen Abschiebung von Sozialhilfeempfängern in ihr Heimatland führte. Ausführlich erörtert er dafür noch das Diskriminierungsverbot (S. 381ff.) und gelangt zu „Überlegungen zu einer Dogmatik abgestufter Solidarität“ (S. 418ff.) und einem „Konzept verzögerter oder zeitweise unvollständiger Integration“ (S. 425), das „Wartezeiten vor dem Bezug von Sozialleistungen“ vorschlägt.

Er schließt mit Ausführungen zu den politischen Rechten. Hier erörtert er die Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger, das historisch betrachtet nicht ungewöhnlich sei, das „Monopol des Staatsvolks auf die Vermittlung demokratischer Legitimation“ (S. 453) aber durchbricht. Zuletzt diskutiert er den Unterschied zwischen Bundesangehörigkeit und Bundesbürgerschaft am Wahlrecht zum Europäischen Parlament (S. 488ff.) als dem politischen Kern der Rechtsstellung der Unionsbürger gegenüber der Europäischen Union. Im Verweis auf die „Parallelproblematik“ der USA (S. 496ff.) macht er dabei den erheblichen Spielraum einer föderalen Ausgestaltung des Wahlrechts deutlich. Es folgen noch „Bilanz und Ausblick“, wobei Schönberger auf die Diskrepanz zwischen rechtlicher „Gleichstellung“ und politischer „Einung“ hinweist: „Überspitzt gesagt gelingt es der Union mit ihrem Bürgerrecht zwar, aus manchen Deutschen Franzosen und aus manchen Franzosen Deutsche zu machen, nicht aber aus Deutschen und Franzosen Europäer.“ (S. 521)

Insgesamt zeigt Schönberger, wie die Gliedstaaten der Europäischen Union in ihrer Souveränität bereits deutlich depotenziert sind und nicht mehr als souveräne Einzelstaaten betrachtet werden können. Er macht auch klar, wie Rechte und Pflichten als Bundesangehörige über die Staatsangehörigkeit hinausgreifen: was wir etwa vom europäischen Nachbarstaat fordern können. Er vertritt aber auch die idealisierende Auffassung, dass die Europäische Union nicht mehr und nicht weniger als ein Bund sein sollte. Das entspricht ihrer gegenwärtigen Selbstbeschreibung, wie sie dogmatisch konsequent zu entfalten ist. Ruhig, aber entschlossen widerspricht er damit aber weiter gehenden Lösungen. Vieles vermag nur der versierte Jurist zu beurteilen. Klar ist aber, dass hier eine vorzügliche umfassende Arbeit vorliegt: wichtig und aktuell in der Thematik, souverän im Stoff, sicher in der Literatur, weitumsichtig in der Anlage, pointiert in der These, grundsätzlich relevant im methodischen Ansatz der Erhellung der Dogmatik aus der analytischen Theorie. Schönberger schreibt nicht ab; er arbeitet den immensen Stoff ganz eigenständig aus und ordnet ihn konstruktiv mit analytisch entwickelten Typenbegriffen. Diese Systematisierungsleistung ist überall rechtspolitisch interessant, wobei Schönberger den rechtspolitischen Überschuss seiner Abstraktionen eher diskret behandelt. Gerade durch die Disziplin gezügelter Beobachtung und Analyse schreibt er ein politisches Buch, das dem Bund seine Grenzen weist. Was das Buch nicht in den Vordergrund stellt, sind die großen Themen um europäische Bürgerrechte, europäische Demokratie und unitarische Entwicklungen in Richtung auf Vereinigte Staaten von Europa. Auch das ist vermutlich eine politische Botschaft, die Schönberger in der historischen Parallele und Differenz nüchtern sieht. Vielleicht sollte er ergänzend eine verfassungspolitische Streitschrift nachlegen, die den methodischen Ansatz und die leitende Theorie noch offensiver in die Debatte wirft. Nach der Lektüre müssen die LeserInnen erst einmal durchatmen, damit die Generalthese vom Bundescharakter der Europäischen Union sich setzt.

Anmerkung:
1 Dazu schon die Dissertation: Schönberger, Christoph, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreiches (1871-1918), Frankfurt am Main 1997.

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