M. Rauhut u.a. (Hgg.): Bye bye, Lübben City

Cover
Titel
Bye, Bye, Lübben City. Bluesfreaks, Tramps und Hippies in der DDR


Herausgeber
Rauhut, Michael; Kochan, Thomas
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heiner Stahl, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

In der DDR tobte das Leben. An Wochenenden glühten die Parkettböden der Kulturhäuser und Tanzhallen. Auf’m Saal, wenn die Band den behördlich geregelten Anteil Ostsongs abgespielt hatte, konnten die Fußsohlen filterlos gegen den Staat rauchen – wie die extra herbe Tabaksmischung aus Karo-Zigarettenpäckchen. Rehbraune Wildleder-Kletterschuhe und grüne Armeeparkas mit Seitentaschen waren nicht nur praktische Kleidungsstücke fürs Überleben im realsozialistischen Dschungel, sondern gleichsam die sichtbaren Kommunikationsmittel der Teil- und Vollzeitaussteiger aus der realexistierenden Langeweile steriler Jugendverbandsmonotonie.

Zwischen Mülsen St. Niclas, Lüttewitz, Medewitz, Leipzig-Gaschwitz, Ruhland und Doberlug-Kirchhain pilgerten die Blueser („Kunden“) und Blueserinnen („Käthen“) hinter ihren Lieblingsbands her. Die Langhaarigen waren Partypeople, Reisende in den Zeichensystemen ihrer Bezugsgruppen. Und die Reisen an die Orte, an denen „etwas abging“, waren jeweils Beginn und Ende der wohldosierten Grenzüberschreitung. Es waren für sich genommen Treffpunkte, die temporäre Gemeinschaften begründeten.

„Gib Gas, liebe Woche. Bye, Bye Lübben City“ ist die Aufbruchsfanfare in ein Wochenende auf Achse. Die Refrainzeile entstammt einem Song der Band „Monokel“ und liefert Michael Rauhut und Thomas Kochan den Titel für ihre umfangreiche Aufsatzsammlung über die Bluefreaks, Tramps und Hippies in der DDR. Sie haben ein großartiges Bilderbuch herausgebracht, eine eindrucksvolle Sammlung gelebter, gehörter und öffentlich zur Schau gestellter Zeitgeschichte. „Bye Bye Lübben City“ ist ein Überblick über die Szene, ihre Treffs, ihre Bands und ihre „Hipster“.

Die Herausgeber lassen Geschichten und Geschichtchen erzählen. Auf diesem Weg kartografieren sie die Erinnerungsorte jugendlicher Sound-Generationen in der DDR zwischen Rennsteig, Vogtland, Ostseestrand und Schwarzmeerküste. Generationen im Plural, da die Zwanzigjähren 1975 genauso wie 1985 nach Wasungen zum Karneval strömten, sich auf dem Weimarer Zwiebelmarkt trafen oder ins „U Flekǔ“ zu „den Tschechen“ fuhren.

Der musikalische Sound des Alltags hatte sich allerdings verändert. Punk rumpelte in Drei-Akkord-Salven aus den Kassettenabspielgeräten und den Veranstaltungsräumen der Jungen Gemeinden. Die Grenzen zwischen den Subszenen konnten fließend sein, wie ein Bild von punkigen Bluesern auf der Mühlhausener Kirmes in Michael Suckows Aufsatz zeigt. Diese Durchlässigkeit der Szenen endete in der Alltagspraxis zeitlich wohl weit früher als bei den musikalischen Karrieren. Schließlich zählten Rockmusiker zu einer zahlenmäßig überschaubaren Kleinfamilie, die hochgradig vernetzt war und die einen steten auswanderungsbedingten Bedarf an Nachwuchskräften hatte.

Allerdings, um zur Kritik zu kommen, sind die Kapitelüberschriften „Ausscheren“, „Aufbrechen“, „Ankommen“, „Abfeiern“, „Auftanken“, „Aufatmen“ nur bedingt in der Lage, die unterschiedlichen Beiträge zu vereinen. Wären die Beiträge entlang konkreter Objekte, Orte und (Un-)Ordnungsvorstellungen oder bezogen auf Zeichen-, Kleidungs- und Musikcodes, Repression und Renitenz angeordnet, ergäbe sich ein schlüssigeres Bild als bei der letztendlich gefundenen Lösung. Das Interview mit dem bundesrepublikanischen Konzertveranstalter Fritz Rau über die von ihm veranstalteten Bluesfestivals in den frühen 1960er-Jahren kann wie eine Konzession an dessen „Wichtigkeit“ gelesen werden und ragt nur lose in das Kapitel „Auftanken“ hinein.

Die Darstellung von Bruchlinien innerhalb der Szene bleibt ebenfalls nachgeordnet. Lediglich Antje Pfeffer schreibt über den Blues der wilden Mathilden auf zehn kurzen Seiten. Weiterführende Überlegungen zum strukturellen „Machismo“ der Szene fehlen leider meist; werden sie überhaupt angesprochen, dann enden sie in Musikergeschichten aus dem wilden Leben nach den Konzerten in biedermeierlichen Hotelzimmern mit Blümchentapeten.

Die Aufsatzsammlung ist in einer Zeitschleife gefangen. Nach 1990 gab es scheinbar keinen „DDR-Blues“ mehr, dessen Anhänger hatten sich in die gesamtdeutsche Glitzerhoffnungswelt verflüchtigt. Lediglich Götz Hintzes Zusammenstellung der Bands und Musiker hilft über dieses Zeitloch ein wenig hinweg. Einige Schlaglichter auf den Transformationsprozess der Szene in den frühen 1990er-Jahren wären sehr reizvoll gewesen. Nicht nur weil die porträtierten Bands immer noch tourten, sondern weil sie mit unterschiedlichen Strategien auf das Wegbrechen der kulturellen Infrastruktur reagiert haben und dabei jeweils auf tragfähige Netzwerke aus DDR-Zeiten aufbauen konnten.

Dies müsste zur Frage führen, wie sich die veränderten Systemkoordinaten nach 1989/90 auf die subkulturellen Praxen der „Kunden“ und auf die „Bands“ auswirkten. Der Prozess der „Politisierung“ und „Entpolitisierung“ der „Blueser“-Szene hätte angedeutet werden können. Es scheint, als ob die subkulturelle Prägung durch das teilangepasste DDR-Nischendasein anschlussfähig an eine apolitische Außenseiter-Pose im wiedervereinigten Gesamtdeutschland ist, in dem höchstens der „Rock ’n’ Roll“ als Haltung noch Geltung hat. Allerdings ist die Musik schon längst verklungen, die Band hat die Verstärker abgebaut und das Saallicht brennt bereits seit Stunden.

Dennoch: Michael Rauhut und Thomas Kochan haben ein wichtiges Buch herausgegeben. Wichtig für jeden, der sich mit der Archäologie und Alltäglichkeit von Jugendkulturen beschäftigt.

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