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Titel
Military Identities. The Regimental System, the British Army, and the British People c. 1870-2000


Autor(en)
French, David
Erschienen
Anzahl Seiten
404 Seiten
Preis
€ 70,80
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Wencke Meteling, SFB 437 Kriegserfahrungen, Universität Tübingen

Der britische Militärhistoriker David French vom University College London hat eine fulminante Untersuchung über das britische Regimentssystem von 1870 bis zur Gegenwart vorgelegt. French pflichtet John Keegan bei, das Regimentssystem sei „the most significant of British military institutions, the principle vehicle of the nation’s military culture“ 1 (S. 1). Die elementare Bedeutung des Regimentssystems für die britische Militärgeschichte ist weithin unbestritten. Während aber seine Befürworter vehement dessen angeblichen Wert für die Moral der Truppe unterstreichen, kritisieren seine Gegner die vermeintlich mangelnde Professionalität der Offiziere, ihren „parochial mindset“ (S. 3), die Technologieresistenz und die problematische Beförderungspraxis innerhalb der Regimenter. Den emotionsgeladenen und mythenumwobenen Argumenten beider Lager geht French nun als kritischer Analyst auf den Grund. Er ordnet sich jener Schule britischer Militärhistoriker zu, die systematisch die Funktionen der Regimenter bzw. ihrer Ideologie untersuchen 2. In elf thematischen Kapiteln untersucht er Natur, Bedeutung und Einfluss der Regimentskulturen sowie die Mittel ihrer Tradierung über einen Zeitraum von rund 130 Jahren britischer Geschichte.

Den Ausgangspunkt der Studie bildet die Neumodellierung des Regimentssystems durch die Cardwell-Childers-Reformen der Jahre 1870 bis 1881, benannt nach den Secretaries of State for War Edward Cardwell und Hugh Childers. „One of their objectives was to create regimental communities rooted in existing civilian communities“ (S. 6). Den Schlüssel zur Verbesserung des Ansehens der Armee und einer stärkeren Rekrutierung aus den ‘respectable’ middle classes sahen sie in zwei Reformprinzipien, die dem britischen Regimentssystem in den folgenden Dekaden sein charakteristisches Gepräge verliehen: „linking“ und „localization“. Fortan setzte sich ein Infanterieregiment aus zwei „linked bataillons“ zusammen mit einem ständigen Depot und einem lokalen Rekrutierungsbezirk in einer city oder einem county. Jedem county oder city regiment waren auxiliary forces zugeordnet (Miliz und Freiwillige), die eine Brückenfunktion zur örtlichen zivilen Gesellschaft erfüllen sollten. „After 1881 the civilian population came to perceive ‘their’ local regiment as part of the wider community“ (S. 5). Trotzdem blieb das Image der Armee ambivalent: „The soldier as an imperial icon may have been held in high public regard, but the army as an employer most certainly was not“ (S. 258). Letzteres äußerte sich auch darin, dass die angestrebten Rekrutierungsziele nur in wenigen Fällen erreicht wurden. So wies der Rekrutierungstrend bei Infanterieregimentern bereits vor der Jahrhundertwende weg von der lokalen hin zur regionalen, seit dem Ersten Weltkrieg gar zur nationalen Rekrutierung.

Um so erfolgreicher verstanden es Linienregimenter, ihre Rekruten zu „men under discipline“ zu erziehen (S. 62). Über die formale Disziplin hinaus bemühten sich die militärischen Autoritäten darum, den Soldaten einen „regimental esprit de corps“ angedeihen zu lassen, der von ihnen unbedingte Loyalität notfalls bis in den Tod hinein forderte. French führt die Entstehung von Regimentsideologien stark auf die reformerischen Absichten von Cardwell und Childers zurück, wohingegen David Weston darin lediglich ein „unintended by-product“ sieht 3. Symbole, Rituale, Zeremonien, Regimentsvereine, -zeitungen und -geschichten machten aus den Regimentern „imagined communities“ (S. 79). Die Erfindung beinahe metaphysischer „regimental identities“ war eine „reinvention of tradition“. Von homogenen Regimentsgemeinschaften konnte jedoch keine Rede sein, blieben die sozialen und mentalen Gräben zwischen den Linienregimentern und den auxiliary forces doch meistens bestehen. Ihre Beziehungen erinnerten mehr an „distant cousins rather than blood brothers“ (S. 231). Außerdem fruchtete die Regimentsideologie bei den lang dienenden Unteroffizieren und Offizieren besser als bei den einfachen Soldaten.

Im Kasernenalltag waren alle Regimentsmitglieder Teil eines hierarchischen, streng reglementierten und von der zivilen Umwelt abgegrenzten Mikrokosmos, der durch Disziplin und esprit de corps so zusammengeschweißt wurde, dass ein politisches Aufbegehren der Soldaten gegen die Privilegien der Offiziere ausblieb. Um gegen Trunkenheit und Prostitution vorzubeugen, warteten die Regimenter mit einem eigenen Freizeitprogramm für Offiziere und Soldaten auf. Hierin ähnelten sie den britischen Clubs, zumal Sport in ihnen eine prominente Rolle spielte. Im Krieg klafften das metaphysische Konzept des Regiments und die gelebte Frontkameradschaft der Soldaten weit auseinander. Für sie zählte weniger das Abstraktum Regiment als vielmehr der konkrete Zusammenhalt ihrer unmittelbaren Bezugsgruppe. Entscheidend für die Kampfmoral der Truppe war die militärische und menschliche Qualität ihrer Führer. Deren Professionalismus stieß allerdings häufig an die Grenzen ihres Regimentshorizontes. Eine der Hauptunzulänglichkeiten des Regimentssystems sieht French in der strikten Aufgabentrennung zwischen Offizieren als Führern und Unteroffizieren als Aufsehern. Deren Talent sei durch die Beschränkung auf bloße Aufsichtsfunktionen verspielt worden. Dass das Regimentssystem aufgrund seiner „backwardness“ oder einer kleinlichen Konkurrenz zwischen den Regimentern die Anwendung moderner Technologien oder die Kooperation der Waffengattungen im Krieg verhindert habe, lässt sich nach French nicht bestätigen.

Die große Zeit des britischen Regimentssysstems war 1945 beendet, so French im letzten Kapitel über das „post-modern regimental system“ der Jahre 1945 bis 1970. Der Untergang der ’großen Erzählung‘ des Imperialismus sowie einschneidende Strukturreformen rüttelten an den Grundfesten des Systems. Zahlreiche Regimenter wurden zusammengelegt oder aufgelöst, die allgemeine Wehrpflicht wurde aufgehoben und das „divisional system“ eingeführt. Mehr als je zuvor wurde das Leben in der Armee „civilianized“, um den gewandelten Bedürfnissen der Rekruten gerecht zu werden. Hatten schon Cardwell und Childers kein kohärentes Regimentssystem geschaffen, so verstärkten sich dessen innere Widersprüche nach 1945 beträchtlich. Dass es den Wandel der Zeit und die wechselnden Aufgaben der Armee dennoch überlebte, zeugt von seiner enormen Anpassungsfähigkeit. Nach dem Anthropologen William Haviland, auf dessen Kulturbegriff French sich stützt, müssen Kulturen bzw. Institutionen sechs Erfordernisse erfüllen, um fortleben zu können: Selbstreproduktion, Integration von Neulingen, Aufrechterhaltung der Binnenordnung und der Ordnung zu anderen Gesellschaften und Subkulturen, Motivation der Mitglieder, Beschaffung und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen sowie Anpassung an eine veränderte Umwelt. Anhand dieser sechs Punkte systematisiert French die Hauptergebnisse der Untersuchung und beendet sie mit einem Ausblick auf die gegenwärtige Debatte um die Zukunft des britischen Regimentssystems.

Die Studie besticht nicht nur durch die beeindruckende Menge an gedruckten und unveröffentlichten Quellen privater und offizieller Natur aus zahlreichen Archiven, Bibliotheken, Museen und Internetportalen, sondern durch das analytische und erzählerische Geschick David Frenchs. Jedem Kapitel ist eine kleine Einleitung vorangestellt, in der Fragestellung und Gliederung präsentiert werden, daraufhin werden für jeden Gliederungspunkt Forschungsthesen genannt. Aus der Quelleninterpretation heraus entwickelt French erst die Pro-, dann die Contraargumente, um anschließend ein eigenes Urteil zu fällen, ehe er am Ende des Kapitels die Ergebnisse zusammenfasst und gedanklich zum nächsten Kapitel überleitet – eine rigide geistige Disziplin. Der kulturhistorische, funktionalistische Zugriff erlaubt es French, die Geschichte der britischen Regimentskulturen mit der Geschichte der Armee und der britischen Gesellschaft zu verflechten, wie es der Titel verspricht. Dies ist besonders für die Hochphase des Regimentssystems im späten Viktorianischen Zeitalter und im Zeitalter der Weltkriege gelungen. Das Buch gewährt wichtige Einblicke in das Kasernenleben im Mutterland und in den Kolonien in Indien und Afrika sowie in die Erfahrungsgeschichte der britischen Kolonialkriege und des Ersten und Zweiten Weltkrieges.

Für die ‘kontinentale’ Militärgeschichte besteht in der Erforschung von Regimentern noch großer Nachholbedarf gegenüber der britischen Historiographie. Erst recht mangelt es an vergleichenden Arbeiten zu Entstehung, Ausformung und Funktionen von Regimentskulturen in verschiedenen Gesellschaften. Spielten Regimentsideologien im „continental system“ mit allgemeiner Wehrpflicht und Divisionsstruktur eine geringere Rolle als im britischen Regimentssystem? Welche Wechselwirkungen bestanden zwischen Regimentsideologien und den Werten der zivilen Gesellschaft in unterschiedlichen Zeitaltern und politischen Systemen? Historiker auf dem Kontinent haben zwar mit einer sehr viel spärlicheren Überlieferung zu kämpfen als ihre britischen Kollegen, aber sie sollten sich davon nicht abhalten lassen. Frenchs Studie liefert wertvolle Impulse.

1 Keegan, John, Regimental Ideology, in: Geoffrey Best/Andrew Wheatcroft (Hgg.), War, Economy and the Military Mind, London 1976, S. 3-18, hier S. 16.

2 Neben French sind David Weston, John Keegan, Eric Lummis, Patrick Mileham und Timothy Bowman zu nennen.

3 Weston, David, The Army: Mother, Sister and Mistress: the British Regiment, in: Martin Edmonds (Hg.), The Defence Equation. British Military Systems. Policy, Planning and Performance, London u.a. 1986, S. 139-155, hier S. 142.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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