V. Shevzov: Russian Orthodoxy on the Eve of Revolution

Titel
Russian Orthodoxy on the Eve of Revolution.


Autor(en)
Shevzov, Vera
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Deutsches Historisches Institut, Moskau

Während in der deutschen historischen Russlandforschung Fragen der Orthodoxie eher am Rande behandelt werden 1, hat sich die nordamerikanische Beschäftigung mit der Russisch Orthodoxen Kirche in den letzten Jahren von einem Thema für Spezialisten mit nur wenigen für die Allgemeinheit interessanten Studien zu einem sehr breiten Forschungsbereich von eindeutig zentraler Relevanz entwickelt. Deutlich ist dabei vor allem der Versuch, schematische Konzepte mit Komplexität zu konfrontieren und dualistische Modelle zugunsten von detaillierten Bildern aufzubrechen.

Genau in diesen Trend ist das Buch von Vera Shevzov einzuordnen. Die Autorin tritt mit dem Anspruch auf, die Bedeutung und das Funktionieren der Gemeinschaft der Gläubigen in der Orthodoxie darzustellen. Herausgekommen ist ein wunderbares Buch, vielfältig und detailliert, dabei ausgezeichnet strukturiert und klar, weit blickend und doch am Einzelfall interessiert und, als wäre dies noch nicht genug, auch noch hervorragend geschrieben.

Shevzov hat ihr Buch in sechs Kapitel eingeteilt. Sie beginnt mit einer Diskussion verschiedener Konzepte von Glaubensgemeinschaft, klerikaler Hierarchie und Laientum, wie sie sich im späten Zarenreich entwickelt und teilweise miteinander konkurriert haben. Die Vorstellungen von Hierarchien, Zentrum und Gemeinschaft, wie sie, mehr oder weniger explizit und theoretisch, von verschiedenen Teilen der Orthodoxie vertreten wurden, gerieten in Konflikt, so wenn der Wunsch von Dorfbewohnern nach zugänglichen Gotteshäusern mit klerikalen Liturgiekonzepten aufeinanderprallten. Die Frage danach, was und wer Orthodoxie im Kern ausmachte, konnte nicht klar beantwortet werden. Shevzov stellt diese Debatten dar, ohne der Versuchung zu erliegen, selbst ein „wahres“ Herzstück des Glaubens zu definieren.

Bereits im ersten Kapitel gelingt es der Autorin auf beeindruckende Weise, eine Institutionengeschichte mit einem umfassenden Konzept der Kirche als Gemeinschaft und der Orthodoxie als Glaubenssystem zu verknüpfen. Institutionen sind hier nicht von Inhalt getrennt, die Kirche eine ebenso politische wie spirituelle und identitätsstiftende Einheit. Im späten Zarenreich wurden verschiedene Debatten zum Verhältnis von Klerus und Laien geführt, die, so Shevzov, eine bemerkenswerte Auseinandersetzung mit dem Konzept des Zentrums und Fragen religiöser wie politischer Identität zeigen. Neben einem historischen Abriss der Entwicklung der Orthodoxie als Institution fügt dieses Kapitel auch die Kirche als elementaren und lebendigen – und keinesfalls in sich abgeschlossenen oder rückständigen – Bestandteil in die Geschichte des späten Zarenreiches ein.

Die weiteren Kapitel orientieren sich stark an den materiellen und rituellen Herzstücken der Orthodoxie: Kirchen, Kapellen, Festen, Ikonen. Diese Konzeption erweist sich als ausgesprochen erfolgreich, da an den Orten des Glaubens theologische Entwürfe, Volksglaube, hierarchische Konflikte und politische Entwicklungen ebenso wie soziale, geografische und geschlechtsbedingte Unterschiede zusammentreffen.

So wird beispielsweise die Bedeutung von Kirchen für Dorfgemeinschaften beschrieben, indem die politischen Voraussetzungen seit den Reformen Peters neben die Wünsche und Strategien der Gläubigen gestellt werden. Das Bedürfnis, einen heiligen Ort zur Begegnung mit Gott im Dorf zu haben, ließ viele Bewohner ein durchaus erstaunliches Engagement, finanzielle Opferbereitschaft sowie großen Erfindungsreichtum an den Tag legen. So wurde von den einen das Fehlen einer eigenen Kirche für die mangelnde Aufklärung und Bildung von Dorfbewohnern verantwortlich gemacht. In anderen Anträgen wurden das Erbe der „Vorväter“, die Notwendigkeit, Sterbende zu segnen und Neugeborene zu taufen, als Gründe angeführt. So erscheint die Kirche hier als Ort des Zusammentreffens nicht nur der Dorfbewohner, sondern auch verschiedener Traditionen sowie der dörflichen, der klerikalen und der staatlichen Welten.

Dieses Konzept wird weiter geführt mit dem Beispiel der Kapellen, einem weniger offiziellen und kontrollierten, deshalb offeneren Ort religiöser Praxis. Häufig entzündeten sich Konflikte mit der kirchlichen Hierarchie und staatlichen Macht, welche Kapellen nicht selten als potenziellen Herd von religiösem und gesellschaftlichem Dissens betrachteten.

In Bezug auf Feste konzentriert Shevzov sich weitgehend auf die Veränderungen auf staatlicher Ebene. Der Wunsch nach zentraler Kontrolle stand neben der Haltung, der moderne Staat solle sich in religiöse Feste nicht mehr allzu stark einmischen. Anstatt traditioneller Feste wollte man staatlich bestimmte, national gefärbte Feiertage etablieren. Es ist kaum überraschend, dass dies nur sehr begrenzt gelingen konnte und der orthodoxe Kalender insbesondere auf dem Lande auch weiterhin den Jahresablauf bestimmte. Wenn auch diese These an sich nicht unbedingt revolutionär klingt, so lohnt doch die Lektüre dieses Kapitels wegen der erhellenden Darstellung der Kommunikations- und Konfliktformen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen.

Dasselbe gilt für die beiden letzten Kapitel über Ikonen und die Marienkulte der Orthodoxie. Am Beispiel der Ikonenverehrung tritt das Element staatlicher Macht in den Hintergrund, während das persönliche Engagement einzelner Gläubiger – Adliger wie Bauern, Frauen wie Männer – für die „richtige“ Behandlung und Verehrung von Heiligenbildern detailliert und lebendig beschrieben wird. Ikonen werden hier endlich einmal nicht aus vornehmlich kunsthistorischer Perspektive betrachtet, sondern als materielle Verkörperung von Glauben und kollektiven Identitätsentwürfen.

Vera Shevzov ist keine Historikerin, sondern sieht sich in erster Linie als Religionswissenschaftlerin. Diese disziplinäre Verankerung hat dem Buch zweifelsohne sehr gut getan. Orthodoxie wird hier nicht vorrangig als Geschichte von Institutionen oder als Gegenstand und/oder Movens einer entweder modernisierenden oder restaurierenden Dynamik betrachtet. Vielmehr steht die Kirche als Gemeinschaft von Gläubigen und als System einer Weltsicht im Vordergrund. In diesem Prisma vereinigen sich politische, institutionelle, soziale und ideologische Momente, und es gelingt der Autorin, ein faszinierendes ganzheitliches, komplexes und dennoch übersichtliches Bild einer Gesellschaft zu malen, in der Fragen des alltäglichen Lebens ebenso wie der politischen Veränderung eng an die Verteidigung, Fortentwicklung oder auch Ablehnung des religiösen Lebens gekoppelt sind.

Obwohl das Buch dabei kein historisches im engen Sinne ist, also keine Entwicklung in den Mittelpunkt stellt, handelt es sich hier keineswegs, um einem typischen Einwand krittelnder HistorikerInnen zuvorzukommen, um eine statische Darstellung. Shevzov beschreibt eine religiöse Gemeinschaft, die von langfristigen Entwicklungen in ihrem Verhältnis zum Staat geprägt ist. Ob es sich um die Einstellungen zum „Aberglauben“ oder zum privaten Gebet, den persönlichen Besitz von wundertätigen Ikonen oder den Wunsch, die kirchlichen Institutionen für staatliche Kontrolle zu nutzen, handelt – stets ordnet die Autorin ihre Beschreibungen überzeugend in einen historischen Rahmen ein und zeigt die Gemeinschaft der Gläubigen in ihren verschiedenen Ausprägungen als Gegenstand wie Motor von Veränderungen.

Insgesamt ist dies ein Buch, das viele Tendenzen der neueren Orthodoxieforschung überzeugend zusammenfasst und noch mehr Forderungen dieser Disziplin erfüllt. Da es nicht nur wissenschaftlich überzeugend, sondern auch brillant geschrieben ist, dürfte es auch SpezialistInnen anderer Gebiete interessieren und sogar StudentInnen dazu bringen, sich für dieses Thema zu begeistern.

Anmerkung:
1 Zu den AutorInnen und Werken „am Rande“ zählen z.B.: Hildermeier, Manfred, Alter Glaube und neue Welt. Zur Sozialgeschichte des Raskol im 18. und 19. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 38 (1990), S. 372-398, 504-525; Kämpfer, Frank, Die Lehre vom Dritten Rom – Pivotal moment, historiographische Folklore?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 49 (2001), 430-441; sowie die Dissertation von Vulpius, Ricarda, Nationalisierung der Religion. Russifizierungspolitik und ukrainische Nationsbildung 1860-1920, Wiesbaden 2005; im weiteren: Sinne Schulze Wessel, Martin (Hg.), Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa im 19. und 20. Jahrhundert, Leipzig 2006.

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