Echternkamp, Jörg (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd.9/2: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939-1945. Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung. Stuttgart 2005 : Deutsche Verlags-Anstalt, ISBN 3421065284 XIII, 1112 Seiten € 49,80

Echternkamp, Jörg (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd.9/1: Die Deutsche Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. Politisierung, Vernichtung, Überleben. Stuttgart 2004 : Deutsche Verlags-Anstalt, ISBN 3421062366 XIV, 993 Seiten € 49,80

Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Dietmar Süß, Institut für Zeitgeschichte, Muenchen

Die Militärgeschichte hat in den letzten Jahren einen erstaunlichen Wandel vollzogen. Kulturgeschichtlich rundum erneuert, hat das Fach den grauen Staub operationsgeschichtlicher Planspiele weitgehend abgeschüttelt und ist zum Ort leidenschaftlicher Debatten geworden. Kaum etwas zeigt dies eindrucksvoller als die beiden neuen Bände des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) aus der Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“, in deren Zentrum die deutsche Kriegsgesellschaft steht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des Zweiten Weltkrieges – darum geht es den mehrheitlich jüngeren Autorinnen und Autoren, die aus den unterschiedlichsten Perspektiven das „Verhältnis von Gesellschaft und Nationalsozialismus im Krieg“ vermessen. Solche Großprojekte sind redaktionelle Herkulesunternehmen, mit vielen Fallstricken, Enttäuschungen, langen Laufzeiten und nicht wenigen Abstrichen, die Herausgeber und Bearbeiter machen müssen. Jedenfalls deutet der lange Abstand zu den letzten Bänden der Reihe darauf hin, dass manche Unwägbarkeiten den Entstehungsprozess begleitet haben.
Eine „Geschichte der Gesellschaft im Kriege“: das war bereits das Ziel, das Manfred Messerschmidt am Beginn der Reihe formuliert hatte. Und genau so dehnbar wie der in verschiedenen Varianten gebrauchte Gesellschaftsbegriff war dann schließlich auch dessen Umsetzung. Obwohl der Krieg neben dem Rassismus zu den konstitutiven Elementen der nationalsozialistischen Diktatur zählte, fehlte es lange Zeit an konzeptionellen Überlegungen, den Stellenwert des Krieges als Teil der zunehmend radikalisierten Gesellschaftspolitik nach innen wie außen zu begreifen. Vielfach blieben der Krieg und seine Rückwirkung auf die „Heimatfront“ eine interpretatorische Leerstelle. „Kriegsgesellschaft“ – das konnte alles (und nichts) sein, eine gern benutze Vokabel mit modischem Klang, aber doch ohne systematisierte Erklärungskraft. Jörg Echternkamp, der Herausgeber beider Bände, hat sein Konzept von „Kriegsgesellschaft“ in einer luziden und in jeder Hinsicht vorbildlichen Einleitung formuliert: Im Zentrum steht der „Krieg als Gesellschaftszustand“ (Jan Philipp Reemtsma), der Übergang vom Frieden zum Krieg und die Wirkungen, die der Krieg für Herrschaftspraxis, soziale Beziehungen, Lebensentwürfe und Gewalterfahrungen besaß. Der Begriff der „Kriegsgesellschaft“ beschreibt dabei sowohl eine analytische Kategorie als auch jene „gedachte Ordnung“ (Max Weber), die Gesellschaften von sich selbst entwarfen, die Teil der Sinndeutungen und Erfahrungen der Zeitgenossen waren. Drei Leitfragen sollen die Bände strukturieren:

Das Modell des „Totalen Krieges“ dient - erstens - als heuristisches Instrument mit dessen Hilfe eine historische Langzeitperspektive eröffnet werden soll, um so die Elemente der Dynamik und Radikalität des Krieges mit Blick auf den Ersten Weltkrieg besser einordnen zu können. Der Begriff ermöglicht es, die Formen der Veränderung zu untersuchen: die Totalisierung der Kriegführung, die Extensivierung der Kriegsziele, der Kriegsmethoden und der totalen Mobilisierung aller Ressourcen. Damit steht - zweitens - eng verbunden der Versuch, dort, wo es möglich ist, diachron den Ersten mit dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen. Das Ziel dabei: Kontinuitäten von Denk- und Verhaltensmustern sowie die Wirkungsgeschichte des Krieges offen zu legen und gleichzeitig den Erfahrungshorizont der Nachkriegszeiten als wichtiges Erklärungsmuster in die Analyse zu integrieren.
Schließlich - drittens - die Entgrenzung und Vergesellschaftung von Gewalt. Dabei soll es vor allem um unterschiedliche Formen der Gewalterfahrung gehen: um die Erfahrung als Betroffene und aktiv Beteiligte, bei Bombardierungen, Evakuierungen, Flucht und Vertreibung, im Partisanenkrieg oder als Soldat im Osten. Dabei soll Gewalt, wie Echternkamp deutlich macht, nicht nur als Ausdruck wachsender Möglichkeiten, sondern auch als Teil der Bereitschaft verstanden werden, die Chancen zur Gewaltausübung zu nutzen.

Das ist ein genauso ehrgeiziges wie spannendes Programm, das bisher in der Forschung seines gleichen suchte und schon alleine deshalb größte Beachtung verdient. Wie aber nun ein solches Projekt umsetzen?
Band 9/1, der unter der Überschrift, „Politisierung, Vernichtung, Überleben“ steht, nähert sich diesem Ansatz aus zwei Richtungen: erstens mit drei umfangreichen Darstellungen über die die „Uniformierte Gesellschaft“, wobei Jürgen Förster überzeugend die „Geistige Kriegführung in Deutschland“ zwischen 1919 und 1945, Christoph Rass akribisch genau das Sozialprofil von Kampfverbänden des deutsche Heeres und Winfried Heinemann den militärischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus untersucht; ein zweiter Teil mit insgesamt vier Einzelstudien steht unter der Überschrift „Herrschen, Vernichten, Überleben“ und beschäftigt sich mit der Beziehungsgeschichte von Kriegsgesellschaft und Konzentrationslagern (Karola Fings), der Entstehung des Holocaust (Tobias Jersak), der Geschichte des Luftkrieges (Ralf Blank) sowie der Rolle der NSDAP im Krieg (Armin Nolzen). Im Kern geht es um das Spannungsverhältnis von „innerer“ und „äußerer“ Front und die Bedeutung der aggressiven Expansionspolitik für Stabilität, Integrationsfähigkeit und Funktionsweise des „Dritten Reiches“. Die Heimatfront, das machen alle Beiträge anschaulich, war lange nicht so „zivil“, wie sie inzwischen gerne manche neuere Fernsehdokumentationen zur Geschichte des Bombenkrieges darstellen: Mit zunehmender Kriegsdauer zeigte sich, wie Ralf Blank eindringlich darstellt, gerade in den vom Luftkrieg massiv betroffenen Städten, wie eng verflochten nationalsozialistische Fürsorge und Vernichtung waren. Denn die sozialutilitaristischen Prämissen des Regimes radikalisierten sich nicht zu letzt unter der Last der Bombenangriffe immer weiter: Zuerst traf es die Juden, dann kamen im großen Stil Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge und Kriegsgefangene hinzu, die unter Einsatz ihres Lebens nicht nur die Trümmer und Bombenblindgänger beseitigen mussten, sondern auch gezwungen waren, die deutsche Rüstungsproduktion am Laufen zu halten. Und dann gerieten die Alten, Kranken und Schwachen in das Räderwerk der Vernichtung, galten sie doch als Belastung des nationalsozialistischen „Volkskörpers“.

Die Geschichte der deutschen Kriegsgesellschaft war eine Geschichte von wachsendem Terror und innerem Vernichtungswillen, der immer weitere Bevölkerungskreise erfasste. Die NSDAP spielte für die Mobilisierung und lang währende Loyalität der Bevölkerung eine zentrale Rolle, wie der methodisch und empirisch besonders gelungene Beitrag von Armin Nolzen deutlich macht. Kurz vor Kriegsende erreichte die Mitgliederentwicklung mit knapp neun Millionen Mitgliedern ihren Höhepunkt. Die NSDAP bot vielen die Chance zum persönlichen Aufstieg, zur Teilhabe an politischer Macht - im kleinen wie großen. Während des Krieges dehnte die Partei ihren Herrschaftsbereich immer weiter aus und wurde dabei zum „Motor“ der rassistischen Überwachung und der „totalen Kriegführung“ an der Heimatfront, die in immer stärkeren Maße Aufgaben der traditionellen Verwaltung übernahm. Nolzen zeigt diesen Prozess „volksgemeinschaftlicher“ Integration, der auf der Basis antijüdischer Ausgrenzung basierte, äußerst anschaulich.

Im Vergleich dazu und zu den anderen Beiträgen des ersten Bandes fallen die Ausführungen von Tobias Jersak über die Geschichte des Holocaust deutlich ab. Zentrale Elemente wie beispielsweise der Komplex der „Arisierungen“ oder die Radikalisierung der Mordpolitik seit dem Polenfeldzug fehlen. Und während Jersak den inzwischen häufig dargestellten Entscheidungsprozess zum Judenmord ausführlich behandelt, bleibt eines der wichtigsten Themen der jüngeren Forschung, der gesamte Komplex der „Täterforschung“ und damit ein wichtiger Aspekt der in der Einleitung formulierten Frage nach der Vergesellschaftung von Gewalt, fast völlig unberücksichtigt. Seine Bemerkungen über die Wirkungskraft von nationalsozialistischer „Logik“ und „Norm“ bleiben überdies unklar und haben kaum etwas mit der von ihm avanciert vorgetragenen „neuen Kulturgeschichte“ zu tun – insgesamt ein weitgehend misslungener Versuch, der auch deshalb schwer wiegt, weil er eines der zentralen Themen des Bandes behandelt.

„Wahrnehmungen und Sinnstiftungen“ bilden einen der beiden Schwerpunkte des zweiten Bandes. Sven Oliver Müller untersucht präzise die Deutungs- und Bindekraft des Nationalismus im NS-Staat, die Wirkungskraft von Rassismus, Führerkult, „Volksgemeinschaft“ und Antisemitismus, während sich gleich drei Beiträge (Birthe Kundrus, Jeffrey Herff und Aristotle Kallis) mit der Geschichte der Propaganda beschäftigen, was zu nicht wenigen Überschneidungen führt. Bedauerlich ist dabei, dass insbesondere die Ausführungen von Kallis kaum eine der Anregungen der jüngeren Medien- oder Kommunikationsgeschichte zur Kenntnis genommen haben. Georg-Wagner Kyora untersucht die „Menschenführung“ in Rüstungsunternehmen und damit einen wichtigen Teilaspekt der NS-Sozialpolitik, in dem er primär am Beispiel der Bunawerke mit Gewinn nicht nur nach der Selbstdeutung des Managements, sondern auch nach der betrieblichen Praxis, den Formen der Lohn- und Arbeitspolitik und dem Zusammenhang von Arbeitskräftepolitik und Massenmord fragt. Das Verhältnis von „Arbeit und Zwang“ steht auch im Zentrum des zweiten Teils, der die Überschrift „Fremde im Alltag“ trägt. Mark Spoerer, Ela Hornung, Ernst Langthaler, Sabine Schweitzer und Oliver Rathkolb schildern detailliert Planung, Dimensionen und Praxis des Zwangsarbeitereinsatzes - und das nicht nur für die Industrie, sondern auch für den lange vernachlässigten Bereich der Landwirtschaft. Abgerundet wird der Band mit Beiträgen über die „Kriegsgefangenenpolitik des Deutschen Reiches“ (Rüdiger Overmanns), die deutsche Besatzungspolitik in der Sowjetunion (Bernhard Chiari) sowie einer Zusammenfassung von Hans Ulrich Thamer, die vor allem auf den rasanten Wandel des sozialen Bewußtsein und den Bedeutungsverlust traditioneller milieuspezifischer Bindungen im und durch den Krieg betont.

Ein Gesamturteil fällt angesichts der schieren Masse an Beiträgen nicht ganz leicht. Die Aufsätze bereiten fast durchweg neues empirisches Material auf, sie bilden übersichtliche, zumeist klug strukturierte, bisweilen auch handbuchartige Darstellungen zu wichtigen Konfliktfeldern der „Volksgemeinschaft im Krieg“ und unterstreichen eindrucksvoll die Ambivalenz von Inklusion und Exklusion, von Verdrängung, Vernichtung und Partizipation der deutschen Gesellschaft im Kriege. Gleichwohl fallen doch auch Defizite auf, die selbst die Einleitung des Herausgebers nicht zu kompensieren vermag. Eine Geschichte der deutschen Kriegsgesellschaft ohne einen Beitrag zu den Kirchen und zum Komplex von Religion als zentralem gesellschaftlichen Kommunikationsmedium muss lückenhaft bleiben; dies wiegt deshalb schwer, weil eine der Leitfragen nach den gesellschaftlichen Kräften, die weite Teile der Bevölkerung bis zum Schluss am Regime festhalten und den irrwitzigen Kampf weiter führen ließ, so einer wichtigen Antwortmöglichkeit beraubt wird. Gut wäre es deshalb gewesen, wenn zumindest andere Autoren diesen Teil einer Sozial- und Kulturgeschichte des Krieges mit aufgenommen hätten. Ebenfalls vermisst man eine eigenständige geschlechtergeschichtliche Dimension und das weite Feld der Sozial- und Konsumpolitik als Teile eines zunehmend radikalisierten, völkisch-nationalen Sozialutilitarismus. Gerade auf diesem Feld hätte der Zusammenhang von „innerer“ und „äußerer“ Front besonders nachdrücklich gezeigt werden können, weil er deutlich macht, wie eng verwoben, Raub, Mord und Ausbeutung mit der Kostenerstattung nach Luftangriffen, der Lebensmittelversorgung oder den versprochenen Rentenzahlungen waren. Nicht, dass diese Dimension des NS-Staat in den Bänden völlig verloren ginge – Karola Fings behandelt sie beispielsweise in einigen Passagen über das Verhältnis von Konzentrationslagern und deutscher Gesellschaft sehr genau – und doch hätte ein etwas schärferer Blick auf die institutionelle „Ordnung“, die Selbstorganisationsfähigkeit und das polykratische Stabilisierungspotential des Regimes genauso wenig geschadet wie auf dessen kommunikative Struktur, Formen von formellen wie informellen Öffentlichkeiten in der Diktatur und die Prozesse gesellschaftlicher Selbstbeobachtung.
Über die Gewichtung der Beiträge kann man aus guten Gründen unterschiedlicher Meinung sein, aber im Verhältnis ist es doch nicht ganz befriedigend, dass es gleich drei Beiträge über die Propaganda gibt und lediglich einen, der sich dem Judenmord widmet. Alles in allem jedoch – und darüber sollen auch kritische Bemerkungen nicht hinwegtäuschen – sind die beiden MGFA Bände ein ebenso gewichtiger wie wegweisender Forschungsbeitrag, an dem sich künftig zu orientieren hat, wer sich mit der Gesellschaftsgeschichte des NS-Staates beschäftigen will. Man kann nur hoffen, dass der noch kommende 10. Band ein ähnlich hohes Niveau erreicht. Dass sich das nach wie vor lohnt, dass der Nationalsozialismus nicht, wie mancher inzwischen raunt, „ausgeforscht“ ist, auch das hat dieses Pionierprojekt unterstrichen. Nein, grau ist diese „Militärgeschichte in der Erweiterung“ ganz und gar nicht; manchmal vielleicht widersprüchlich, aber selten langweilig. Eine Bilanz also, die sich in jeder Hinsicht sehen lassen kann.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd.9/2: Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939-1945
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