L. Hagestedt (Hg.): Ernst Jünger. Politik - Mythos - Kunst

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Titel
Politik - Mythos - Kunst.


Autor(en)
Jünger, Ernst
Herausgeber
Hagestedt, Lutz
Erschienen
Berlin 2004: de Gruyter
Anzahl Seiten
XV, 524 S., 17 s/w Abb.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Forstner, Erzbischöfliches Ordinariat München

Ernst Jünger (1895-1998) ist bereits aufgrund seiner Nähe zu den jeweiligen politischen Phänomenen der von ihm durchlebten vier Epochen deutscher Geschichte und deren Reflexion in seinem schriftstellerischen Schaffen einer der bedeutendsten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts. Er hat unzweifelhaft Konjunktur.1 Erschien er vielen bereits zu Lebzeiten nicht nur ob seines biblischen Alters als ein Faszinosum, so wurde er zugleich wie wenige Schriftsteller einerseits von einer Schar von Verehrern umlagert, andererseits von Gegnern heftig bekämpft. Die breite materialgestützte Forschung und die damit verbundene Editionstätigkeit setzte vor allem nach seinem Tod ein, nachdem auch sein umfangreicher Nachlass im Deutschen Literaturarchiv Marbach der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. In den letzten Jahren sind eine Reihe seiner umfangreichen Briefwechsel mit Figuren unterschiedlicher Bedeutung (Rudolf Schlichter, Gerhard Nebel, Carl Schmitt und zuletzt Friedrich Hielscher) in sorgfältig kommentierten Ausgaben erschienen. Auch die „Politische Publizistik“ wurde neu herausgegeben, die in die zu Lebzeiten erschienene 18-bändige – und nach dem Tod um 4 Supplementbände ergänzte – Ausgabe „Sämtlicher Werke“ nicht aufgenommen wurde. Ein „Freundeskreis“ veranstaltet seit 1999 jährliche wissenschaftliche Symposien, eine jüngst erschienene Bibliografie verzeichnet den Großteil der seit 1928 erschienenen und ohne dieses Hilfsmittel unüberschaubar gewordenen Sekundärliteratur.2 Für den Historiker findet sich bei Jünger und auch in der noch zu schreibenden Geschichte der Jünger-Rezeption, wertvolles Material zur facettenreichen Geistes- und Mentalitätsgeschichte deutscher Eliten zwischen Weimarer und Bonner Republik.

Der hier zu besprechende Sammelband ist Ertrag eines vom Herausgeber, dem Marburger Literaturwissenschaftler Lutz Hagestedt, initiierten und von der DFG geförderten Ernst-Jünger-Symposiums, welches im Jahr 2002 auf Schloss Rauischholzhausen stattfand. Er versammelt, neben einem kurzen Vorwort Hagestedts, insgesamt 28 überwiegend von Literaturwissenschaftlern verfasste Beiträge, die ein breites thematisches Spektrum abdecken. Während ein kleinerer Teil der AutorInnen zu den in der Jünger-Forschung bereits bekannteren Namen zählt (etwa Sven Olaf Bergötz, Ulrich Fröschle, Steffen Martus, Harro Segeberg), handelt es sich beim größeren Teil um jüngere (Nachwuchs-)Wissenschaftler, die in diesem Zusammenhang erstmals ihre Jünger-Studien vorlegen.

Die Stärke des Bandes liegt vor allem im fast ausnahmslos hohen wissenschaftlichen Niveau der hier versammelten Beiträge, die im Hinblick auf ihre Methode und Fragestellung vielfach innovativ sind und überwiegend neue und bislang unbeschrittene Zugänge zu Werk und Leben Ernst Jüngers eröffnen. Seine Schwäche ist das Fehlen jeglicher konzeptionellen Klammer. Dies wird schon daraus ersichtlich, dass die einzelnen Beiträge nicht etwa nach Themenkomplexen, sondern alphabetisch nach den Namen ihrer Verfasser geordnet sind. So lässt sich der Untertitel des Bandes „Politik – Mythos – Kunst“ lediglich als Anklang an zentrale Leitmotive in Jüngers Schaffen verstehen, nicht als Beschreibung eines übergreifenden gemeinsamen, zielorientierten Forschungsinteresses des Herausgebers oder der AutorInnen. Folglich wäre Gottfried Benns Wort über Ernst Jünger, „Wir sind von außen oft verbunden, wir sind von innen meist getrennt“ 3 ein weitaus passender Titel für den vorliegenden Band gewesen, in dem Spezialstudie neben Spezialstudie steht.

Was findet der Leser hier? Zunächst vor allem Neues und Bemerkenswertes (aus der Fülle der Beiträge können nur einige herausgegriffen werden, wobei dies keine Wertung implizieren soll):

Höchst neuartig und originell ist der Ansatz von Harald Weilnböck (Berlin) in seinem Beitrag „Borderline. Literarische Interaktion und Gewalt am Beispiel von Ernst Jüngers Kriegsschriften“ (S. 431-444). Weilnböck untersucht ausgehend von Interaktions- und Narrationsmodellen der neueren Psycho- und Beziehungsanalyse, besonders der (Gegen-)Übertragungsanalyse und der Psychotraumatologie die Text-Leser-Beziehung in Jüngers Kriegsschriften der 1920er-Jahre. Mit dem von ihm entwickelten Modell der borderlinen literarischen Interaktion gelangt er zu dem Ergebnis, dass die untersuchten Texte Jüngers „von borderlinen Phänomenen und Interaktionsmodi geprägt sind“ und macht ein „Potential der borderlinen Aggressions- und Abwehrübertragung auf den Leser“ (S. 442) aus. Inwieweit sich ein solcher Ansatz freilich befruchtend auf die Literaturwissenschaft auszuwirken vermag, bleibt noch abzuwarten.

Einen Blick auf Ernst Jüngers Lebenskunst wirft Ulrich Baron (Hamburg) in seinem Beitrag „Ordnung der Dinge nach ihrem unsichtbaren Rang“ (S. 35-45), der einmal mehr das Fehlen einer verlässlichen lebensgeschichtlichen Gesamtdarstellung Jüngers schmerzlich deutlich macht.4 Baron zeigt, in welchem Maße Jüngers oft extreme Positionen und Haltungen zugleich auf eigentümliche Weise ihren lebensweltlichen Gegenpart in einer beschaulichen Existenz fanden, in welcher der banale Alltag und die damit verbundenen Sorgen und Nöte von dienstbaren Geistern oder selbstlosen Ehefrauen fern gehalten wurden. Jünger, die Ikone der „geistig-moralischen Wende“ der 1980er-Jahre, ein ‚Faulenzer’ und ‚Müßiggänger’, der eine „vita contemplativa“ pflegte? Vermutlich macht gerade auch das im Werk immer wieder vermittelte Motiv der selbstgenügsamen, scheinbar gelungenen Existenz, der Rückzug in „die kleinen Welten, die entomologischen Mikrokosmen, die Gärten, die Bibliotheken und das Archiv“ (S. 43), während draußen die Katastrophen über das Jahrhundert hereinbrechen, einen Teil der Faszination aus, die Jünger immer wieder ausgestrahlt hat.

Eine Reihe von Beiträgen widmet sich vergleichenden Studien: Michael Ansel (München) „Der verfemte und der unbehelligte Solitär“ (S. 1-23) vergleicht Jüngers literarische Karriere mit derjenigen Gottfried Benns vor dem Hintergrund der politisch gegensätzlichen Verhaltensweisen im Jahr 1933. Eine speziellere Fragestellung legt Helmuth Kiesel (Heidelberg) „Denken auf Leben und Tod“ (S. 181-191) zugrunde, der die unterschiedliche Behandlung der Frage nach dem ethisch korrekten Handeln des Einzelnen angesichts der Todesbedrohung in einer totalitären Gesellschaft bei Jünger, Brecht und Bergengruen betrachtet. Reinhard Wilczek (Essen) versucht in seinem Beitrag „Aspekte des intermedialen Technikdiskurses in der Weimarer Zeit“ (S. 445-457), anhand eines Vergleichs von Fritz Langs „Metropolis“ und Jüngers programmatischem Großessay „Der Arbeiter“ Verbindungslinien zwischen beiden Monumentalwerken zu ziehen und darzustellen, wie sich die Ikonografie des Films in Jüngers Metaphorik widerspiegelt. Zugleich fragt er damit, inwieweit die Medien und Künste der Weimarer Republik eine eigene medial und ästhetisch geprägte Darstellungstypologie, eine „optisch-ästhetische Signatur“ (S. 456) – die Begriffsprägung stammt von Jörg Sader – entwickelt haben.

Die verhärteten Fronten aus unkritischer Apologetik einerseits und polemischer Ablehnung andererseits, welche die Jünger-Rezeption über Jahrzehnte bestimmten, scheinen sich erfreulicherweise aufgelöst zu haben. Eine Ausnahme bildet im hier besprochenen Band der Beitrag von Kai Köhler (Seoul) „Nach der Niederlage. Der deutsche Faschismus, Ernst Jünger und der Gordische Knoten“ (S. 205-224), der ausgehend von einer Analyse von Jüngers Essay „Der Gordische Knoten“ (1953) zwar zutreffend auf die Funktion von dessen Nihilismuskonzeption für Einordnungs- und Entschuldungsstrategien hinsichtlich der deutschen Kriegsverbrechen nach 1945 hinweist, es aber versäumt, dies in den Zusammenhang zeitgenössischer künstlerischer Ausdrucksweisen und Diskurse zu stellen. Mit seinen Thesen, Jünger hätte auch nach 1945 als politischer Aktivist gewirkt, Hitler „aufs Anekdotische reduziert“ (S. 218) und den Judenmord ausgeblendet – was stets im Duktus der Anklage vorgetragen wird – stellt Köhler sich in der Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Texten Jüngers auf allzu dünnes Eis.

Fassen wir zusammen: So thematisch disparat der Band insgesamt erscheinen mag – die einzelnen Beiträge sind für sich genommen überwiegend höchst wertvolle Bausteine der Ernst-Jünger-Forschung und bieten einen Querschnitt durch die weite Landschaft neuerer Forschungstendenzen von Seiten der Literaturwissenschaft. Aufgrund der starken Spezialisierung dürften sie jedoch zumeist nur für LeserInnen interessant sein, denen literaturwissenschaftliche Fragestellungen einerseits, Werk und Themen Ernst Jüngers andererseits bereits gut vertraut sind.

Anmerkungen:
1 Vgl. zur Übersicht über aktuellere Entwicklungen die umfangreiche Linksammlung der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin: <http://www.ub.fu-berlin.de/internetquellen/fachinformation/germanistik/autoren/multi_ijk/juenger.html> (letzter Aufruf 3.10.2005).
2 Nicolai, Riedel (Bearb.), Ernst-Jünger-Bibliographie. Wissenschaftliche und essayistische Beiträge zu seinem Werk 1928-2002 (Personalbibliographien zur neueren deutschen Literatur 5), Stuttgart 2003.
3 Benn, Gottfried, An Ernst Jünger, in: Ders., Gesammelte Werke, hg.v. Dieter Wellershoff, Bd. 1, S. 476.
4 Die bislang umfangreichste Biografie Jüngers behandelt die zweite Lebenshälfte nur noch schlaglichtartig: Noack, Paul, Ernst Jünger. Eine Biographie, Berlin 1998; Meyers kluges Buch betrachtet mit hoher Kennerschaft das Werk, nicht die Person des Autors: Meyer, Martin, Ernst Jünger, München 1990.

Der Rezensent ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Erzbischöflichen Ordinariat München. Diese Rezension spiegelt seine private Auffassung wider und ist keine öffentliche Stellungnahme des Erzbischöflichen Ordinariats München.

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