St. Mächler: Schweiz. Israelitische Gemeindebund 1933-1945

Cover
Titel
Hilfe und Ohnmacht. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die nationalsozialistische Verfolgung 1933-1945


Autor(en)
Mächler, Stefan
Reihe
Schriftenreihe des SIG
Erschienen
Zürich 2005: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
540 S.
Preis
€ 38,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Kury, Historisches Institut, Universität Bern

In den Auseinandersetzungen um die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges seit 1996 rückte auch die Haltung des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), des Dachverbandes der jüdischen Gemeinden in der Schweiz, vermehrt in den Mittelpunkt des medialen Interesses. Die Beiträge in der Tages- und Wochenpresse zeichneten sich einerseits dadurch aus, dass fast jede Kritik an der Position des SIG zurückgewiesen wurde, dagegen die offizielle Politik der schweizerischen Regierung und Behörden in den Blickpunkt rückte. Andererseits wurde versucht, die offizielle, teilweise von antisemitischen Motiven geleitete Politik mit dem Argument zu exkulpieren, dass der SIG die Haltung der Bundesbehörden geteilt habe und zuweilen gar in vorauseilendem Gehorsam den Weg für die abwehrende und abweisende Flüchtlingspolitik ebnete. Bei diesen allzu raschen Folgerungen blieb eine Analyse der Handlungsmöglichkeiten meist ebenso aus wie eine präzise Kontextualisierung der einzelnen Entscheide des SIG.

Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass von wenigen Ausnahmen abgesehen1, keine wissenschaftliche Arbeiten zum SIG vorliegen, ist es äusserst verdienstvoll, dass dieser eine Studie für die Zeit des Nationalsozialismus in Auftrag gab. Seit Beginn der 1950er-Jahre hat der SIG, wie Gabrielle Rosenstein, Verantwortliche für die vorliegende Studie, im Geleitwort vermerkt, zwar versucht über Teile seiner Tätigkeit Rechenschaft abzugeben. Zudem seien, so Rosenstein, die ersten Studien zur Flüchtlingspolitik der Schweiz zur Zeit des Nationalsozialismus ohne die Dokumentation aus den Archiven der SIG-Medienstelle JUNA (Jüdische Nachrichtenagentur) gar nicht möglich gewesen.2 Trotzdem fehlte bisher eine umfassende Untersuchung zur Arbeit des Dachverbandes während dieser Jahre. Der SIG beauftragte den Zürcher Historiker Stefan Mächler, der sich durch seine sensiblen Arbeiten zur schweizerischen Flüchtlingspolitik und insbesondere zum "Fall Wilkomirski" ausgezeichnet hatte.3 Zu seiner Unterstützung bestellte der SIG einen wissenschaftlichen Beirat, bestehend aus Regula Ludi und Jacques Picard, ehemalige Mitarbeitende der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg, sowie Thomas Maissen, früherer Berichterstatter der Neuen Zürcher Zeitung und Verfasser einer Darstellung zur jüngsten Erinnerungspolitik der Schweiz.4

Es ist das besondere Verdienst von Mächler, dass er es verstanden hat, die Möglichkeiten und Grenzen des Handelns sowie die beschränkten Handlungsoptionen, die sich dem Dachverband der jüdischen Gemeinden unter den gegebenen Rahmenbedingungen stellten, beziehungsweise damals boten, genau nachzuzeichnen. Auf diese Weise wird die Studie dem im Titel evozierten Spannungsbogen zwischen "Hilfe und Ohnmacht" gerecht. Mächler zeigt dies, indem er den Rahmen der internationalen und nationalen Entwicklung präzise skizziert und mit den Massnahmen des SIG verbindet und entsprechend diese in drei grossen Kapitel darstellt: Die Jahre 1933 bis 1937, 1938 bis 1941 und 1941 bis 1945. Das Buch beginnt mit Hitlers Machtantritt und der Radikalisierung des deutschen Antisemitismus sowie dem Kampf gegen Antisemitismus, darauf folgt der "Anschluss" Österreichs und die sich dramatisch entwickelnde Flüchtlingsfrage, und beschreibt schliesslich den Völkermord und das Ende des Zweiten Weltkrieges sowie die eingeschränkten Rettungsversuche angesichts des Unfassbaren. Diese einzelnen Etappen hatten grosse Auswirkungen auf den vom Krieg verschonten Kleinstaat Schweiz und engten dessen Spielräume sukzessive ein, bis sie während der völligen Umklammerung durch die Achsenmächte nur noch äusserst bescheiden waren. Was für die Schweiz im Allgemeinen zutraf, galt im Besonderen für die Minderheit der in der Schweiz lebenden inländischen und ausländischen Jüdinnen und Juden. Diese zählten während des Zweiten Weltkrieges gerade einmal 18.000 Personen. Angesichts der rasant verschlechternden internationalen Entwicklung und der ungeheuerlichen Bedrohung der Glaubensgenossen im Ausland standen sie vor nicht angemessen lösbaren Herausforderungen. Gleichzeitig hatten sie sich gegen das Erstarken des Antisemitismus im eigenen Land zu wehren. Als mehr oder weniger lose Organisationsform konzipiert, versuchte der Dachverband der jüdischen Gemeinden der Schweiz - selbst nur über sehr beschränkte eigene finanzielle und personelle Ressourcen verfügend - sich den ständig wachsenden Aufgaben zu stellen. Zu diesen zählt Mächler die Wahrung der Rechte der jüdischen Auslandschweizer, die Unterstützung der ausländischen Juden, die Bekämpfung des Antisemitismus in der Schweiz sowie als grösste Aufgabe die Betreuung und Koordination der in der Schweiz Asyl suchenden jüdischen Flüchtlinge. Indem der Gemeindebund diese letzt genannte Aufgabe, die ihm teilweise auch die Behörden aufgezwungen hatten und die ihm nahezu alle Ressourcen band, mit beispiellosem Einsatz wahrnahm, rettete er Tausenden von Menschen das Leben. Zwischen 1933 und 1937 betreute der Verband Schweizerischer Israelitischer Armenpflege (VSIA) ca. 6.500 Flüchtlinge, ein Jahr später war die Zahl auf 9.000 Personen angewachsen. Bis zu Kriegsbeginn gelang es den Mitarbeitern der jüdischen Hilfswerke trotz der Abschottung aller Staaten, 2.300 Flüchtlinge in ein Drittland übersiedeln zu lassen. Bei Kriegsende betreuten die jüdischen Hilfswerke ca. 23.000 Personen, von denen 10.000 auch materiell unterstützt werden mussten.

Die sich ständig zuspitzende Flüchtlingsfrage sowie die strukturellen und personellen Gegebenheiten in der schweizerischen Verwaltung, zwangen den SIG zu einer intensiven Zusammenarbeit mit der eidgenössischen Fremdenpolizei.5 Dabei handelte es sich ausgerechnet um jenen Teil der Bundesverwaltung, die einen behördlichen Antisemitismus betrieben und deren führende Mitarbeiter seit Jahren vor der "Verjudung der Schweiz" warnten. Die mehr oder weniger aufgenötigte Zusammenarbeit, die innerhalb der jüdischen Gemeinschaft nicht ohne Widerspruch blieb und zu Spannungen führte, bildet einen weiteren zentralen Aspekt von Mächlers Untersuchung. Dabei steht die Zusammenarbeit von Saly Mayer, Präsident des SIG bis März 1943, und Heinrich Rothmund, Vorsteher der eidgenössischen Fremdenpolizei im Mittelpunkt.

Nicht zuletzt diese Zusammenarbeit führender Repräsentanten des SIG mit Vertretern der Fremdenpolizei machte, so Mächler, möglicherweise zugleich blind für das Erkennen der Besonderheiten des schweizerischen Antisemitismus und dessen Dynamik. Die antijüdische Abwehr der Schweiz war hausgemacht und kein Import aus dem nationalsozialistischen Deutschland. Hinter der damals gängigen Formel der Überfremdungsabwehr verbarg sich seit dem Ersten Weltkrieg eine Praxis antisemitisch motivierten Ausschlusses.6 Selbstverständlich hatte die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Einfluss auf die schweizerische Flüchtlingspolitik, doch sie führten nicht zu einem grundsätzlichen politischen Umdenken. Durch den Krieg verlagerten sich die Maximen der Überfremdungsbekämpfung von Immigranten auf Flüchtlinge. Als die Schweizer Behörden im August 1942 die Grenze für jüdische Flüchtlinge hermetisch zu schliessen versuchten, protestierte der SIG in direkten Gesprächen mit dem Polizeichef, vermied jedoch jede öffentliche Kritik an der amtlichen Politik. Zugleich akzeptierte der SIG, wie Mächler aufzeigt, der in diesem Fall wirtschaftlich motivierten Überfremdungsbekämpfung folgend das Erwerbsverbot für Flüchtlinge. Der SIG übernahm auch - durch die jüdische internationale Organisation "Joint" mitgetragen - während fast der ganzen Zeitdauer die Finanzierung der jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz, was einer verkappten "Judensteuer" gleichkam. Aus heutiger Sicht ist zudem erstaunlich, dass der SIG noch vor dem Zeiten Weltkrieg die Kontaktaufnahme ausgerechnet mit dem rechtsradikalen Schweizerischen Vaterländischen Verband suchte, der sich dann während des Krieges mit Vehemenz gegen die Aufnahme von jüdischen Flüchtlingen zur Wehr zu setzen suchte. Oder es überrascht, dass der SIG Bestrebungen zum "Schliessen der eigenen Reihen", Massnahmen zur Selbstdisziplinierung der Judenschaft als "innere Schädlingsbekämpfung" (sic!) bezeichnete (S. 83ff.). In Anlehnung an Pierre Bourdieu charakterisiert Stefan Mächler diese Verinnerlichungs- oder Überanpassungsprozesse als «symbolische Gewalt».7 Da Mächler diese Prozesse, die unter anderem auch zur Verinnerlichung antisemitischer Vorstellung geführt haben, im Kontext antisemitischer Gefährdung und im Kontext von Behördenabhängigkeit und -druck historisiert, ist diesem Buch eine breite Leserschaft über die Schweiz hinaus zu wünschen. Fest steht nach der Lektüre von Mächlers Buch auch, dass es gerade die während des Zweiten Weltkrieges in der Schweiz lebenden JüdInnen waren, die trotz Fehleinschätzungen, Überforderungen und situationsbedingter Unzulänglichkeiten nicht zuletzt im Namen der Schweiz Grosses geleistet hatten.

Anmerkungen:
1 Picard, Jacques, Die Schweiz und die Juden 1933–1945. Schweizerischer Antisemitismus, jüdische Abwehr und internationale Migrations- und Flüchtlingspolitik, Zürich 1994; Unabhängige Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg, Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Veröffentlichungen der UEK 17, Zürich 2001; Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund - Fédération suisse des communautés israélites (Hg.), Jüdische Lebenswelt Schweiz - Vie et culture juives en Suisse. 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund - Cent ans Fédération suisse des communautés israélites. Zürich 2004 (Rezension: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-013>).
2 Ludwig, Carl, Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den Bundesrat zuhanden der eidgenössischen Räte, Bern 1957; Häsler, Alfred. Das Boot ist voll ... Die Schweiz und die Flüchtlinge 1933-1945. Zürich 1967.
3 Mächler, Stefan, Der Fall Wilkomirski, Über die Wahrheit einer Biographie, Zürich 2000.
4 Maissen, Thomas, Verweigerte Erinnerung. Nachrichtenlose Vermögen und die Schweizer Weltkriegsdebatte 1989-2002, Zürich 2005 (Rezension: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-141>).
5 Gast, Uriel, Von der Kontrolle zur Abwehr. Die eidgenössische Fremdenpolizei im Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft 1915-1933. Zürich 1997.
6 Kury, Patrick, Über Fremde reden. Überfremdungsdiskurs und Ausgrenzung in der Schweiz 1900-1945, Zürich 2003 (Rezension: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-124>).
7 Bourdieu, Pierre; Waquant, Loïc J.D, Reflexive Anthropologie, Frankfurt am Main 1996.

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