M. Hagener u.a. (Hgg.): Der Film in der Kultur der Moderne

Cover
Titel
Die Spur durch den Spiegel. Der Film in der Kultur der Moderne


Herausgeber
Hagener, Malte; Schmidt, Johann N.; Wedel, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
447 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Corinna Müller, Institut für Germanistik, Universität Hamburg

„Film ist das Schlüsselmedium des zwanzigsten Jahrhunderts.“ Mit diesem sympathischen Satz beginnt der Sammelband, mit dem Freunde, Wegbegleiter und Schüler Thomas Elsaesser zum 60. Geburtstag gratuliert haben, dem auch an dieser Stelle gratuliert sei. Der Band ist umfangreich geworden mit 33 Aufsätzen, deren Ansätze und Methoden sehr unterschiedlich und mitunter auch disparat sind.

Das Vorwort kündigt ein Anordnungsprinzip der Beiträge „getreu des Prinzips der Montage“ (S. 11) an, was Verknüpfungen von nicht eigentlich Zusammengehörigem meint, doch man verspricht nicht ganz zu Unrecht, dass die sechs Rubriken ‚rote Fäden’ spannen. Der zentrale ‚rote Faden’ ist indes Elsaessers Schaffen, an das nahezu alle AutorInnen anknüpfen. Schwerpunkte in Elsaessers Forschung (Rainer Werner Fassbinder etwa) finden sich in mehreren Rubriken, und der Ansatz der Ideologiekritik bildet einen eigenständigen ‚roten Faden’ im Band.

Unter der Rubrik „Räume und Rahmungen“ geht es um ‚museale’ Aspekte der Beschäftigung mit ‚frühem Film’, wobei sich zwei Beiträge aus kulturwissenschaftlicher Perspektive am weitesten vom Gegenstand ‚früher Film’ entfernen. Mieke Bal entwirft ein Konzept der Veranstaltung von Ausstellungen in Museen, das eine ‚Umerziehung’ der von einer autoritär-monologischen Exposition von Kunstwerken in Museen „betäubten Öffentlichkeiten“ (S. 60) zum Ziel hat. Ebenfalls aus der Sicht ethnologisch ausgerichteter Kulturwissenschaft befasst sich Helmut Lethen mit der Frage nach einem Referenzcharakter im Dokumentarischen in unterschiedlichen Theorien der Kulturwissenschaften und deren praktischen Defiziten. Unter literaturwissenschaftlicher sowie filmphilosophisch-historiografischer Perspektive setzen sich Siegfried Zielinski und Christa Blümlinger mit den Gewinn- und Verlustaspekten der medialen Moderne unter dem Einfluss des Films auseinander. Im querständigsten Beitrag des Kapitels stellt Leonardo Quaresima Analogien von zwei speziellen modern-musealen Kunst-Installationen zum frühen Stummfilm-Kino her und gelangt in Bezug auf beider Rezeptionserlebnis zu sehr inspirierenden und erhellenden Thesen, selbst wenn einzuwenden ist, dass das zeitgenössische Erlebnis der Stummfilmempathie unwiederbringlich verloren und auch durch Artefakte nicht mehr kongruent aktualisierbar ist. In einem Kleinod zum Abschluss der Sektion schaut Christine Noll Brinckmann im high angle, top shot oder bird’s eye view „von oben aufs Bett“ in die stylisch ästhetisierten Hollywoodschlafzimmer der 1990er-Jahre und outet die gute, alte deutsche ‚Aufsicht’ so informativ wie ironisch als ‚out’ (als Höhepunkt des Lesegenusses vernachlässige man nicht die Anmerkungen).

Die zweite Sektion „Traum und Trauma“ beginnt mit eloquenten Ausführungen zum ‚unzuverlässigen Erzählen’ im Film von Thomas Koebner, der die Formen solcher ‚Unzuverlässigkeit’ vor dem literaturwissenschaftlichen Forschungshintergrund erschließt, dem Unbehagen ihnen gegenüber nachspürt und an vielen Beispielen ihre filmischen Spielarten aufblättert. Slavoj Žižeks Überlegungen gegenüber Hollywoodfilmen zur Frage „Was wäre wenn“ in den Filmen „die Dinge einen anderen Lauf genommen hätten (wie sie es beinahe taten)?“ (S. 110) schließen im Ansatz poststrukturalistischer Psychoanalyse ans Thema der ‚Unzuverlässigkeit’ an. Es folgen Beiträge, die sich im Anschluss an Elsaesser spezieller „mit den Spätfolgen von Krieg, Gewaltherrschaft und Genozid“ (S. 12) befassen. John Neubauer diskutiert das skandalumwitterte Theaterstück Rainer Werner Fassbinders Die Stadt, der Müll und der Tod, auch unter Bezug auf den Film Die Stadt der Engel und dessen Videofassung, und die Berechtigung der Vorwürfe eines Antisemitismus. Peter Krämer widmet sich ‚drei Deutsche[n] in Hollywood’: Oskar Schindler (Schindlers Liste) und den Regisseuren Wolfgang Petersen und Roland Emmrich. Zum Abschluss der Sektion untersucht Drehli Robnik am Stalingrad-Blockbuster Enemy at the Gates (D/GB/IRL/USA 2001) die international-mediale Aneignung und Prägung eines ‚kulturellen Gedächtnisses’ von „unser aller Stalingrad“ (S. 155).

Das dritte Kapitel, „Geschichte – Ereignis und Erlebnis“, vereint Beiträge von Frank Kessler und Yuri Tsivian, die der traditionellen, von Elsaesser so genannten new film history verpflichtet sind. Irmbert Schenk entwirft am Beispiel italienischer Antikenfilme von „Cabiria zu Mussolini“ (S. 185) eine, den ideologiekritischen Ansatz Siegfried Kracauers im ‚Post-Elsaesserschen’ Zeitalter mustergültig repräsentierende Revision europäischer Faschismus-Kinogeschichte. Sabine Hake führt aus, wie in ideologische Positionen nicht dezidiert politischer Art Bewegung geriet. Sie schildert das Verhältnis der künstlerischen Avantgarde im 20. Jahrhundert zu Kino und Werbung und zeigt die Bemühung dieser Gruppen, einerseits den Anschluss an die Kommerz-Moderne zu suchen und zugleich den Traum von einer „Re-Integration der Kunst ins Leben wach zu halten“ (S. 205). Mit Ideologien im weiteren Sinn befassen sich auch die Beiträge von Wolfgang Mühl-Benninghaus und Knut Hickethier: Mühl-Benninghaus untersucht die unterschiedlichen Interessen der Filmpolitik und -kontrolle im besetzten Nachkriegs-Berlin. Das Bestreben speziell der sowjetischen und amerikanischen Besatzungsmächte, „mit Hilfe des Films eine Bewusstseinsveränderung bei den Zuschauern zu erzielen“, misslang, so Mühl-Benninghaus, weil sich für politische Filme schon „seit Mitte des Ersten Weltkriegs“ (S. 223) kein Interesse mehr feststellen lasse. Knut Hickethier diskutiert anhand der „ökonomischen Bedingungen des deutschen Autorenfilms“ den Paradigmenwechsel von einer Filmproduktion zur Fernsehproduktion von Kinofilmen und dessen Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Autorenfilmer und die sich wandelnden Anforderungen ans Filmemachen an sich.

Das Kapitel „Grenzen und Referenzen“ nimmt weitere Forschungsschwerpunkte Elsaessers auf: Exil (Malte Hagener), Max Ophüls (Geoffrey Nowell-Smith), Ernst Lubitsch (Gerd Gemünden), Alain Resnais (Johann N. Schmidt) und Rainer Werner Fassbinder (Tim Bergfelder). Zu Beginn der fünften Sektion, die sich mit Fragen des filmischen Dokumentarismus befasst, erinnert Michael Wedel an die ‚DOC 59 Gruppe’, die nicht nur dem Namen nach heute eine Analogie zu ‚Dogma 95’ evoziert, sondern gewissermaßen die Keimzelle eines Neubeginns der Reflexion des ‚Authentischen’ im Film nach dem Zweiten Weltkrieg bildete und dem legendären, für den deutschen Film revolutionären ‚Oberhausener Manifest’ Pate stand. Dass auch ihm wiederum historische Wurzeln zugrunde lagen und dass das Nachdenken über die filmisch-scheinbare ‚Authentizität’ schon weit früher einsetzte, erweisen Hermann Kappelhoffs Überlegungen zu Walter Benjamins Schriften, die zugleich die Brücke solcher Medienphilosophien zum ‚alten’ Schriftmedium schlagen. Den von Elsaesser geprägten Begriff des ‚post-mortalen Bildes’ greift Klaus Kreimeier am Beispiel einer Fotografie von Paul Strand auf, das die Wall Street als Symbol der Welt der Börse gleichsam als ein „Reich der Schatten“ erscheinen lässt. Die medienphilosophische Reflexion schließt ein Beitrag zum „Erzählen und Überwachen im Kino der ‚Echtzeit’“ ab (Thomas Y. Levin). Dabei geht es um das seit den 1980er-Jahren einschlägige Thema von „allgegenwärtigem Voyeurismus, allgegenwärtiger Überwachung und Datenkontrolle“ (S. 349), dessen Verarbeitung an etlichen amerikanischen Film- und Fernsehbeispielen illustriert wird.

Die letzte Sektion eröffnet ein Beitrag zum „missachteten“ Genre der „pornographische[n] Aktion“ (Jürgen Felix), wobei die Überschrift unglücklich gewählt ist. Der Aufsatz widmet sich frühen erotischen Filmen unter Zitierung von so unverdächtigen Referenzen wie Walter Benjamin, Harro Segeberg, Friedrich Knilli oder Georg Seeßlen und redet der Pornografie allenfalls insofern das Wort, als erotische Darstellungen nicht sakrosankt erscheinen. Den Abschluss der Sektion und des Bands bilden inspirierende Beispiele filmanalytischer Arbeit: ein Aperçu Raymond Bellours über eine Einstellung in Alfred Hitchcocks Sabotage sowie Analysen von Sound and Fury (Warren Buckland), Stroszek (Barton Byg), Dancer in the Dark (Gertrud Koch) und den Filmen von Hal Hartley (David Bordwell). Jede der Analysen illustriert sehr gut die unterschiedlichen Ansätze der AutorInnen.

Ein abschließendes Kompendium zur Filmgeschichte, wie es der Untertitel „Der Film in der Kultur der Moderne“ vielleicht nahe legen kann, ist zwar nicht entstanden – wohl aber ein in seiner Vielfältigkeit interessanter, informativer Band und ein mustergültiges Beispiel der Würdigung eines geschätzten Forschungskollegen und Hochschullehrers und seines Werkes.

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