S. Korzilius: "Asoziale" und "Parasiten" im Recht der SBZ/DDR

Cover
Titel
"Asoziale" und "Parasiten" im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung


Autor(en)
Korzilius, Sven
Reihe
Arbeiten zur Geschichte des Rechts in der DDR 4
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
744 S.
Preis
€ 105,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Hering, Forschungsschwerpunkt Geschichte der Sozialen Arbeit, Universität Siegen

Die als Dissertation an der Universität Saarbrücken angenommene Arbeit von Sven Korzilius liefert erneut einen Beweis dafür, dass die interessantesten Kapitel der Geschichte Sozialer Arbeit mehrheitlich von „Fachfremden“ geschrieben werden, d.h. von Personen, die nicht aus der Sozialpädagogik oder der Sozialarbeitswissenschaft stammen. Im Fall des hier besprochenen – sehr umfangreichen! – Werks stammt der Autor aus der Rechtsgeschichte, einem Gebiet also, das bisher über weite Strecken nur Marginales zur Rekonstruktion der Wohlfahrtsgeschichte beigetragen hat und das insgesamt für eine eher trockene und auf das Rechtliche eingrenzende Betrachtungsweise steht.

Nicht umsonst weist Korzilius in seiner Einleitung sehr nachdrücklich darauf hin, dass er neben der rechtsgeschichtlichen vor allem eine mentalitätsgeschichtliche Darstellung der Repression und Ausgrenzung von Randgruppen in der DDR im Sinn gehabt hat – und die ist ihm in der Tat hervorragend gelungen.

Was für Geschichtspunkte sind das, unter denen ein Buch gelesen und bewertet werden muss, das sich mit der Behandlung der „Asozialen“ und „Parasiten“ im Recht der DDR befasst? Ein wichtiger Aspekt ist die Frage nach dem historischen Kontext, d.h. vor allem nach der gesellschaftspolitischen Kontinuität, in der das Phänomen der Diffamierung und Exklusion von Personengruppen wie Landstreichern, Bettlern, Obdachlosen und „Arbeitsscheuen“ in Deutschland steht. Korzilius schreibt dazu: „Die Tatsache, dass staatliche Repression gegen so genannte ‚Asoziale’ im Nationalsozialismus in pervertierter Weise übersteigert und schließlich zu dem Versuch einer ‚Endlösung der sozialen Frage’ (Wolfgang Ayaß) wurde, hätte nach 1945 in beiden Teilen Deutschlands zu einem radikalen Bruch mit früheren gesellschaftlichen Vorurteilen und politischen Konzepten führen können. Dies war, wie am Beispiel der DDR aufzuzeigen sein wird, jedoch nicht der Fall.“ (S. 1) Stattdessen gab es zahlreiche gewollte und ungewollte Rückbezüge auf die über hundertjährigen Traditionen der Stigmatisierung, die sich über die Begriffe des Eigenverschuldens, der Verwahrlosung und des Parasitentums legitimierten.

Ein zweiter relevanter Gesichtspunkt ist der des deutsch-deutschen Vergleichs: Nicht nur die DDR steht in der Arbeit von Korzilius auf dem Prüfstand, wenn es um die Frage geht, welche Konsequenzen aus dem Nationalsozialismus für den Umgang mit „Asozialen“ gezogen wurden. Obwohl der Schwerpunkt des Buches eindeutig auf der Beschäftigung mit der DDR-Geschichte liegt, erfahren wir durch die zahlreichen Ost-West-Vergleiche auch viel Interessantes über die entsprechenden Rechtsgrundlagen und Verfahrensweisen in der BRD. Beispielsweise haben die noch aus dem preußischen Strafgesetzbuch stammenden, der Sozialdisziplinierung dienenden Paragrafen (vor allem: § 361 StGB) über mehr als hundert Jahre hinweg Geltung behalten: in der DDR bis 1968, in der BRD bis 1974. Korzilius’ Hinweis darauf, dass man „beim Anlegen der Meßlatte der Verhältnismäßigkeit gegenüber dem Unrechtsstaat DDR nicht strenger sein sollte als gegenüber dem Rechtsstaat Bundesrepublik“, zeigt, wie heikel dieses Kapitel der Geschichte ist, solange die Rehabilitations- und Entschädigungsverfahren gegenüber ehemaligen Insassen von Arbeitshäusern noch ausstehen.

Ein dritter und letzter Gesichtspunkt, der hier angeführt werden soll, ist die notwendige Ergänzung der Prinzipien der Rechtsgeschichte durch die Mentalitätsgeschichtsschreibung, wenn es um die Frage geht, wie „die DDR“ als Ganze mit ihren Randgruppen umgegangen ist. Korzilius nennt diesen Teil seiner Analyse „Alltagsgeschichte“. Es geht hier aber auch um die Frage des gesellschaftlichen Konsenses über die Abwägung rechtlicher, politischer und sozialer Gesichtspunkte bei der Bewertung und Behandlung „abweichenden Verhaltens“ in der Bevölkerung und bei den „Vollstreckern“, d.h. bei der Justiz, der Polizei und den Fürsorgebehörden. Und es geht natürlich um die Wirkungsgeschichte: um die abschreckende Wirkung etwa von Arbeitslagern und ähnlichen Einrichtungen zur Unterdrückung von „Arbeitsbummelei“ und „Arbeitsverweigerung“ sowie um die grundsätzlichen Auswirkungen der praktizierten Inklusions- und Exklusionsstrategien (Massenorganisationen vs. Aussonderung) auf die Stimmung und die Einstellungen in der Bevölkerung.

Das grundlegende Material, anhand dessen Korzilius diese Themenkomplexe bearbeitet, sind Justizakten über Prozesse mit ihren Anklageschriften, Strafzumessungen und den Urteilsbegründungen. Er greift aber auch auf einen breiten Fundus an Verwaltungsakten zurück, die aus allen Teilen der DDR zusammengetragen sind und ein überaus eindrucksvolles Bild der sozialen Nöte, der politischen Leitmotive ebenso wie der administrativen Vollzüge (mit all ihren Unzulänglichkeiten), der Instrumente der Erfassung und Verfolgung abweichenden Verhaltens sowie der Erziehungsmaßnahmen, Bestrafung und „Bewahrung“ erzeugen.

Neben der Justiz kommen dabei zwangsläufig auch andere Gruppen von Akteuren in den Blick. Dabei handelt es sich vor allem um die Vertreter der Landes- und Kommunalpolitik, der Kommunalverwaltung (vorzugsweise der Gesundheitsämter), der Polizei, der Massenorganisationen und der in unterschiedlichen Zusammenhängen in Aktion tretenden Fürsorge. Die Motive, Aufgaben und Strategien dieser Akteure werden in chronologischer Abfolge dargestellt: von der „Kriegsfolgenbeseitigung“ über die Zeit des „Stalinismus“, die Ära der neuen Strafgesetzgebung ab 1968 bis zum Ende der DDR. Den Abschluss der Arbeit bildet die Frage nach der Rehabilitation „Asozialer“ als Opfer der DDR-Unrechtsjustiz nach 1989.

Mit seinem „rechtshistorischen“ Buch ist Korzilius zumindest für die Wohlfahrtshistoriografie – wie anfangs bereits angedeutet – eine echte Entdeckung. Seine intelligente, kritische und sprachlich überzeugende Darstellungsweise macht das Werk trotz seiner eigentlich eher „speziellen“ Fragestellung und seines Umfangs nicht nur lesenswert, sondern auch zu einem Lesevergnügen. Dass die Arbeit teilweise sehr detailreich daher kommt – nach der Lektüre ist dem Leser kein Name einer ostdeutschen Kleinstadt mehr fremd – übersieht man dann gerne, überlesen sollte man die vielen dichten Beispiele und Hinweise der Darstellung besser nicht.

Angesichts des Umstands, dass die Sozialpolitik und die Wohlfahrtseinrichtungen der DDR (und der ehemals zum Ostblock zählenden Länder Osteuropas) nach wie vor in der Forschungslandschaft als terra incognita zu gelten haben, da die vielen je nach politisch-ideologischem Standort positiv oder negativ eingefärbten Darstellungen aus der Zeit des Kalten Krieges die Wirklichkeit nicht wiedergeben, muss es in diesem Bereich endlich neue, quellengestützte Untersuchungen geben. Das Buch von Sven Korzilius ist angesichts dieser Herausforderung ein großer und wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

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