Cover
Titel
Graf Stephan Szechenyi. Der Mann, der Ungarn schuf


Autor(en)
Oplatka, Andreas
Erschienen
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
25,90 Euro
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Otto, Oldenburg

Der erste bedeutende Ökonom und Politiker in der Geschichte Ungarns war nicht allein der „größte Ungar“, wie ihn sein politischer Gegenspieler Lajos Kossuth nannte, sondern zugleich eine außergewöhnlich rätselhafte Persönlichkeit. Es ist ein gewagtes Unternehmen, über Graf Stephan Széchenyi ein Buch zu schreiben. Der Schriftsteller László Németh notierte 1941: „Wenn sich die ausländische Mode der Biographie an Széchenyi herangetraut hätte, wäre eine interessantere Lebensbeschreibung als über Byron oder über Elisabeths Essex herauskommen.“ 1 In deutscher Sprache haben sich 1967 der Historiker Denis Silagi 2 und nun der frühere Redakteur der „Neuen Zürcher Zeitung“, Andreas Oplatka, dieser Aufgabe angenommen.

Oplatkas Széchenyi-Biografie ist in dem Jahr erschienen, in dem Ungarn der Europäischen Union beitrat. Das Buch vermittelt dem deutschsprachigen Leser die inneren Spannungen, die Ostmitteleuropa auch heute noch kennt. Széchenyis Leben und Lebenswerk ermöglichen es ihm, das Schicksal und die Probleme der dort lebenden Völker mit einem gewissen Verständnis zu verfolgen. Széchenyi ist in Ungarn bis heute allgegenwärtig: Seit den Jahren der Wende ist sein Name in dem „Széchenyi-Plan“ genannten Wirtschaftsförderungsprogramm der früheren konservativen Regierungspartei präsent. Jährlich wird der staatliche „Széchenyi-Preis“ für außergewöhnliche Leistungen in den Wissenschaften verliehen. Zuletzt erschien Széchenyi auch auf der Leinwand in einem romanhaften Filmepos namens „Brücke“. Dem interessierten Leser stellt sich somit die Frage, wo das Buch des aus Ungarn stammenden Autors Oplatka in der heutigen Széchenyi-Debatte zu verorten ist.

Graf Stephan Széchenyi (1791-1860) ist eine der tragischsten Gestalten der ungarischen Geschichte. Der in eine wohlhabende Aristokratenfamilie hineingeborene Széchenyi entschied sich zunächst für die militärische Laufbahn, stieg später aber immer mehr zum politischen Repräsentanten in Ungarn auf. Er gewann die Überzeugung, dass sein wirtschaftlich wie gesellschaftlich zurückgebliebenes Vaterland allein in den Grenzen des Habsburger Reiches an das Niveau der westeuropäischen Werteordnung herangeführt werden konnte. Als erster Ungar erkannte er die große Bedeutung der wirtschaftlichen Revolutionen für das 19. Jahrhundert. Die auf Reisen erkundete englische Wirtschaft, Verfassung und Gesellschaft übte auf den jungen Aristokraten – der sich zuvor in pessimistischen und frivolen Posen Byronscher Manier gefallen hatte – großen Einfluss aus. Seine Lebensweise und sein Denken änderten sich von Grund auf. Mit beispielloser Entschlossenheit nahm die Umsetzung eines Arbeitsplans ihren Anfang, den Széchenyi sich aufgebürdet hatte. Die Forderung nach Finanz- und Agrarreformen, die Planung und der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, der Aufbau der Industrie, die Gründung wissenschaftlicher, kultureller und bürgerlicher Vereinigungen sind in Ungarn untrennbar mit dem Namen Széchenyi verbunden. In der Beurteilung seines Landes unterschied er sich von den Radikalen der um Lajos Kossuth versammelten jüngeren Reformgeneration: Széchenyi setzte zunächst auf wirtschaftliche Stärkung statt auf eine vorschnelle politische Unabhängigkeit Ungarns.

Publizistische und politische Aktivitäten begleiteten Széchenyis Arbeit, welcher die 1848 europaweit – so auch in Ungarn – ausbrechenden Revolutionen eine nachteilige Wendung gaben. Széchenyi, der den Zirkeln der Macht immer fern gestanden und seine Pläne stets im Ringen mit den Mächtigen verwirklicht hatte, war verzweifelt. War er doch überzeugt, dass das Streben nach der Unabhängigkeit Ungarns illusionär sei und den Untergang des Landes zur Folge hätte. Im Sommer 1848 erlitt Széchenyi einen Zusammenbruch und wurde in eine Nervenheilanstalt eingeliefert. Er gab die Überzeugung, dass Österreich und Ungarn durch gemeinsame Interessen verbunden seien, bis zu seinem Tod nicht auf. Als er sich selbst in der Heilanstalt nicht mehr vor polizeilichen Nachstellungen sicher glaubte, beging er Selbstmord.

Der Untertitel von Oplatkas Biografie – „Der Mann, der Ungarn schuf“ – legt nahe, dass es sich bei Széchenyi um einen ungarischen Washington oder Bolívar gehandelt haben könnte. Ähnlich urteilten die ungarischen Historiker des 20. Jahrhunderts, als sie den Grafen neben den mittelalterlichen Reichsgründer König Stephan stellten. Széchenyi war aber kein Unabhängigkeitskämpfer oder Staatsgründer, sondern ein mutiger ökonomischer Reformer im Dienste seines Landes. Er strebte nach englischen Verhältnissen. Sein Wunsch nach Einführung des Kapitalismus in Ungarn beruhte auf der Einsicht, dass Ungarn innerhalb des Habsburger Reiches nur dann eine politische Rolle spielen konnte, wenn es an wirtschaftlicher Stärke gewann. Entsprechend entwarf Széchenyi sein Programm zur Entwicklung des Landes. Der von Kossuth propagierte ungarische Liberalismus aber ließ Széchenyis Grundsätze außer acht und folgte dem jakobinischen Staatsverständnis – „nation une et indivisible“ – des französischen Liberalismus.

Széchenyi, der 1825 an der Magnatentafel des Landtages als erster auf ungarisch gesprochen (die Amtssprache war Latein) und damit große Aufmerksamkeit erregt hatte, kam später zu dem Schluss, dass die forcierte Verbreitung der ungarischen Sprache das Land in Gefahr bringen würde. An der Magnatentafel von 1844 wurde er deshalb massiv angefeindet. Die Nationalitätenfrage berührt die Grundlagen von Széchenyis Denken und ist somit von außerordentlicher Wichtigkeit. Mit Rücksicht auf die sowohl in Ungarn als auch in den Nachbarländern bis heute virulenten nationalistischen Spannungen, wären von Oplatka einige klärende Worte zu erwarten gewesen, wie sie etwa schon László Németh 1942 gefunden hatte: „Széchenyi überschüttet die Vorschnellen, welche mit der künstlichen Verbreitung der ungarischen Sprache das Grab der ungarischen Nation schaufeln, mit deutlicher Kritik. [...] Nationalität und Verfassung blieben im Donautal kein ungarisches Vorrecht: Auch die anderen erwachenden Völker dürsteten danach.“ 3 Oplatka hingegen meidet einen eigenen Standpunkt und damit die mögliche Konfrontation. Unmissverständlich gibt er am Ende seines Buches bekannt: „Wir haben uns in diesem Buch an den Grundsatz gehalten, keinem Autor, keiner fremden Meinung über den Grafen zu widersprechen; Ansichten, die wir nicht teilen, blieben unerwähnt. In die Diskussionen ungarischer Historiker womöglich polemisch einzugreifen, kann nicht die Aufgabe einer deutschsprachigen Biographie sein.“ (S. 455) Sofern der Leser dieser Mitteilung auf den ersten Seiten des Buches begegnet wäre, hätte er es vielleicht gleich aus der Hand gelegt. Warum soll er ein 500-seitiges Buch lesen, dessen Autor solcherlei Einschränkungen formuliert? Das mit Sorgfalt zusammengestellte, umfangreiche Material verliert ohne eine klar erkennbare Position des Verfassers deutlich an Wert. Fast möchte man meinen, dass Oplatka bei der Niederschrift weniger das deutsche Lesepublikum als vielmehr die Aufnahme seines Buches in Ungarn vor Augen hatte.

Széchenyis historische Bedeutung liegt in seiner außerordentlichen Modernität. Er hat die Bedeutung der Minderheitenrechte früh erkannt und diese auch verteidigt, als er sich dem Vorwurf des Landesverrats ausgesetzt sah. Sein Patriotismus war größer als sein Nationalismus. Denis Silagi hebt mit der Gründlichkeit des Historikers die von Széchenyi in seiner Flugschrift „Disharmonie und Blindheit“ (1860) formulierte Stellungnahme besonders hervor: „Wir Ungarn abhorrieren in der großen Allgemeinheit den Gedanken einer Auflösung der Monarchie. [...] Die Magyaren, und bloß die Magyaren, sind imstande, Österreich zu retten.“ 4 Oplatka streift diese Überzeugung Széchenyis nur am Rande. Der anglophile, in europäischen Perspektiven geschulte Széchenyi hatte klar gesehen, dass die Zukunft seines Vaterlandes in der damaligen historischen Situation nur unter der Krone des Habsburger Reiches gesichert werden konnte. Eine deutschsprachige Biografie bietet die Möglichkeit, Széchenyis Gedankengebäude und die Weise, wie dieses von bestimmten Kreisen in Ungarn interpretiert und politisch instrumentalisiert wird, kritisch zu befragen. Oplatka nutzt diese Chance leider nicht.

Széchenyis Fortschrittlichkeit bezeugen auch seine aufklärerischen Ansichten über die religiöse Toleranz. 5 Der 30-jährige notiert in sein Tagebuch: „Um Osterfeiertage als katholischer Christ zu feiern, bereitete ich mich zur Beicht [...], wo ich einem nach allem Anschein äußerst rechtschaffenen Geistlichen mit aller möglichen Kontrition und Reue alles schlechte und böse, welches ich in mir fand, mit größter Aufrichtigkeit enthüllte. Meine Beichte währte länger als eine Stunde. Nachdem ich ihm nicht versprechen konnte, daß ich eins und das andre nicht lassen werde, z.B. die Weiber; daß ich in meiner Religion manches nicht begreife und daher auch nicht recht glaube; [...] daß ich alle Religionen verehre und achte; daß ich viele meiner Religionsgebräuche bloß propter formam übe – gab er mir keine Absolution, welches ich voraussah und nicht scheute. [...] Ich blieb lange noch in der Kirche und ging mit ruhigem Gemüt nach Hause.“ 6 In seiner für Metternich verfassten Denkschrift von 1825 steht zu lesen: „Bloß in Religionssachen habe ich keine bestimmte Meinung. Bin von der unbegrenztesten Toleranz und würde, wie ich es wirklich glaube, wäre ich ein geborner Türke, mit derselben Gewissenhaftigkeit fünfmal des Tages meine Füße waschen, mit der ich nun alle Sonntage regelmäßig zur Kirche gehe und alle übrigen Religionsgebräuche treulich beobachte, die in der meinen vorgeschrieben sind.“ 7 Auch über Széchenyis religiöse Toleranz findet sich bei Oplatka kaum etwas.

Oplatkas Biografie zeichnet sich durch gründliche Recherchen, beeindruckende Materialfülle und gute Lesbarkeit aus. Nur lässt er die Gelegenheit verstreichen, Széchenyi in ein Licht zu rücken, das seiner Umsicht und Toleranz ein eindeutiges Zeugnis ausstellen würde. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass wegen der falschen Rücksichtnahme auf die ungarischen Debatten der überzeugte Zugriff und die historische Wertung entfallen. Die weitgehend konturlose Präsentation des überbordenden Materials lässt so manches entscheidende Moment in der Fülle der Details versinken. Es bleibt unklar, was Oplatkas Antrieb zur Niederschrift seines Buches war. Zeigt sich doch die Originalität einer Forschungsleistung in den Wertungen und Gewichtungen durch den Autor. Alle essayistische Eleganz kann dies nicht ersetzen. Gerade unter den gewandelten Bedingungen eines vereinten und freiheitlichen Europa muss erstaunen, dass Oplatka nicht die klaren Worte findet, die schon vor fast vier Jahrzehnten der ebenfalls aus Ungarn stammende Denis Silagi gefunden hatte.

Anmerkungen:
1 Németh, László, Széchenyi. Két vázlat a Széchenyi könyvhez [Zwei Skizzen zum Széchenyi-Buch], in: Németh, Az én katedrám. Tanulmányok [Mein Katheder. Studien], Budapest 1983, S. 382 (Übersetzung des Rezensenten).
2 Silagi, Denis, Der größte Ungar. Graf Stephan Széchenyi, Wien 1967.
3 Németh, Széchenyi. Tanulmány [Eine Studie], in: Németh (wie Anm. 1), S. 530 (Übersetzung des Rezensenten).
4 Zit. nach Silagi (wie Anm. 2), S. 132.
5 Vgl. ebd., S. 115f.
6 Aus Széchenyis Tagebuch; zit. nach Silagi (wie Anm. 2), S. 116.
7 Zit. nach ebd., S. 116.

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