A. Messerli: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900

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Titel
Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung zur Durchsetzung der Literalität in der Schweiz


Autor(en)
Messerli, Alfred
Erschienen
Tübingen 2002: Max Niemeyer Verlag
Anzahl Seiten
770 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reiner Prass, Arbeitsstelle Historische Anthropologie, Universität Erfurt

Mit seiner Züricher Habilitationsschrift legt der Volkskundler Alfred Messerli eine umfassende Studie zur Literalität in der Schweiz von 1700 bis 1900 vor - zu einem Zeitraum also, in dem sich die literale Norm in der Schweiz (wie in ganz Westeuropa) endgültig durchsetzte. Ein gewaltiges Unterfangen, denn er behandelt sowohl das Lesen als auch das Schreiben und das in einer großen geografischen Einheit. Das macht Begrenzungen nötig: Messerli untersucht subjektive Bewertungen und Urteile, er beschäftigt sich mit konkreten Äußerungen zur Schriftlichkeit. Seine Quellen sind qualitativer Natur: Schreibebücher und Briefe, Visitationsberichte und andere Erhebungen, Aussagen über den Schulunterricht, Literarische Repräsentationen von Schreibakten, beiläufige Darstellungen von Lesepraktiken und Reflexionen über Lesestoffe – autobiografisch-literarische Quellen mithin, die einer vorsichtigen Interpretation bedürfen. Die historischen Rahmenbedingungen bleiben dagegen außer Betracht, wir erfahren nichts über die sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Hintergründe für den Umgang mit Schrift, dafür aber sehr viel darüber, wie die Menschen in der Schweiz über Schrift und Schriftlichkeit dachten, und wie sie sie handhabten.

Messerlis Erklärungen bleiben somit auf innere Entwicklungen der Schriftlichkeit beschränkt, sie beziehen exogene Faktoren nicht mit ein. Damit bleiben sie ein gutes Stück hinter den methodischen Ansprüchen der internationalen kulturwissenschaftlichen Debatte zur Schriftkultur zurück, in der sich die Forderung nach Kontextualisierung allgemein durchgesetzt hat. 1 Doch wenn Messerli seinen umfangreichen Anspruch, die zentralen Kräfte und Konflikte zu zeigen, die den Prozess der Durchsetzung von Literalität vorantrieben, beschleunigten oder bremsten, sowie die vielfältigen Wirkungen darzustellen, die dieser Prozess auf das soziale Leben besaß (S. 1f.), nicht erfüllen kann, so ist das nur zum Teil der zu umfangreichen Konzeption seiner Arbeit geschuldet; es ist auch ein Reflex der aktuellen Forschungsstandes in Deutschland und der Schweiz. Es liegen noch viel zu wenige Studien über den Schriftgebrauch in konkreten Alltagszusammenhängen vor, auf die sich Messerli hätte beziehen können, und auch allgemein wissen wir bisher nur wenig darüber, wie sich die literale Norm durchsetzte. Insofern ist das von Messerli vorgelegte Buch von immenser Bedeutung, denn es bietet einen reichhaltigen Einblick in die innere Geschichte der Schriftlichkeit, darüber wie die Menschen in den 200 Jahren zwischen 1700 und 1900 über Schriftlichkeit dachten und wie sie mit ihr umgingen.

In drei Großkapiteln behandelt Messerli erstens die Durchsetzung der literalen Norm, zweitens die Lesepraktiken und drittens die Anleitungen zum privaten Schriftgebrauch in dem von ihm behandelten Zeitraum. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt dabei eindeutig auf den Lesepraktiken, das Kapitel hierzu ist mit 280 Seiten das weitaus umfangreichste, während das Kapitel zu den Schreibpraktiken mit 130 Seiten von vergleichsweise bescheidenem Umfang ist. In der Behandlung der einzelnen Themen zeigt sich Messerli mit der theoretischen Diskussion zu seinem Forschungsgegenstand vertraut.

Für die Durchsetzung der literalen Norm setzt Messerli drei Phasen an: In der ersten Phase (1760 bis 1830) wird das Fehlen einer literalen Kompetenz als Mangel hingestellt, Analphabetentum wird als selbstverschuldeter Status beschrieben, Analphabeten der Verachtung und Lächerlichkeit preisgegeben. In der zweiten Phase (1780-1850) lernen die Leser mit fiktionalen Texten umzugehen. Der vermehrte Umgang mit (literarischen) Texten erfordert die Fähigkeit, diese Texte nicht als simples Abbild der Realität oder gar als Realität selbst zu erfassen, sondern als Fiktion; die Menschen müssen lernen, die Texte zu interpretieren. Dieser Lernprozess geht Hand in Hand mit einer Ausweitung des Lesepublikums (Frauen und Kinder) und der Angst der (männlichen) Gebildeten vor einer falschen Lektüre durch weniger Gebildete. Geht es in dieser Phase also wesentlich um den Erwerb adäquater Lesetechniken, so tritt in der dritten Phase (1800-1900) das Schreiben in den Vordergrund: Die Menschen werden im privaten Gebrauch der Schrift angeleitet, sie sollen lernen, Briefe zu schreiben sowie Haushalts- und Tagebücher zu führen.

Diese Abfolge hilft den Durchsetzungsprozess der literalen Norm zu verstehen, aber bei ihrer Anwendung treten Probleme auf. Zunächst sorgt die zeitliche Überlappung der verschiedenen Phasen beim Leser für Verwirrung, und man muss bei Messerlis Ausführungen schon sehr genau in die Anmerkungen schauen, um zu wissen, in welchem Zeitraum seine Ausführungen sich gerade bewegen. Weitaus hilfreicher bei der Orientierung im Entwicklungsprozess der literalen Norm sind seine knappen Bemerkungen, dass der Mentalitätswandel um 1760 begann (S. 41), dass um 1800 die Geduld der Gebildeten mit den Analphabeten erschöpft war (S. 37), dass ab 1800 die literale Norm eine Selbstverständlichkeit war (S. 44) und dass die literale Norm in der Mitte des 19. Jahrhunderts triumphierte (S. 85). Diese Formulierungen reichen zwar nicht als Interpretationsschema hin, aber sie geben eine handhabbare Chronologie vor. Ein weiteres Problem ist, dass wir jenseits des Diskurses im Grunde nichts über die weiteren Faktoren für die Durchsetzung der literalen Norm erfahren. Gerade in diesem Bereich macht sich der Verzicht auf eine umfassende Kontextualisierung schmerzlich bemerkbar.

In seiner Analyse der Lesepraktiken stützt sich Messerli im Wesentlichen auf Jean Marie Goulemot und Roger Chartier, die den Leseakt als Dialog zwischen Text und Leser betrachten, bei dem jeweils ein eigener Sinn produziert wird. 2 Das verweist auf die unterschiedlichen Modalitäten des Lesens, die „unterschiedlichen Lektürepraktiken (Roger Chartier) [gewinnen] an Bedeutung“ (S. 232). Das schließt Fragen nach der Körperlichkeit des Lesens, dem Ort und der Art des Lesens sowie dem Einfluss des Buches als vom Verleger gestaltetem Lektüre-Objekt auf die Lesepraxis ein. In einem ersten Untersuchungsschritt behandelt Messerli ausführlich die Art und Weise, wie die Menschen Lesen lernten, und wie sich die Didaktik im Laufe der Zeit veränderte. Hier kommt vieles zur Sprache, das bereits bekannt ist, doch seine Ausführungen bieten den Vorteil eines systematischen Überblicks der vielen bekannten Einzelaspekte. Weitaus interessanter werden seine Ausführungen in den Kapiteln über die Rahmenbedingungen des Lesens wie auch über die Lesestoffe, denn sie bieten vielfältige Einblicke in den privaten Umgang mit Lesestoffen. Das gilt noch mehr für Messerlis Ausführungen über semiliterale Leseprozesse: Sie machen deutlich, dass Texte in einer ganzen Reihe kommunikativer Praktiken – Singen, Erzählen, Hausandachten, Vorlesen – wirksam sind, und nicht nur in dem stillen, konzentrierten Lesen, an welches ein akademischer Leser in unserer Zeit sofort denkt.

Das Schreiben schließlich entwickelte sich in einem konfliktuellen Prozess zwischen den realen Interessen der einfachen Menschen selbst, für die Schreiben von großer Relevanz war, und dem zunehmenden Interesse der Obrigkeiten daran, dass die Bevölkerung schreiben lerne. Das erklärt auch den Erfolg der Aufklärung. Ihre Kampagne hatte deshalb so großen Erfolg, weil sie in diesem Punkt auf das Interesse der Aufzuklärenden traf. Bedeutung besaß das Schreiben, weil Schrift eine neue Kodifizierung von Realität ermöglichte, und weil sie ein „Medium der Konzeptualisierung und Planung“ ist (S. 505). Ferner hebt Messerli hervor, dass Schriftlichkeit zwar einerseits Sprache beeinflusst, dass sie aber andererseits nicht einfach Mündlichkeit ersetzt, sondern dass beide Kommunikationsformen sich nur jeweils neue Felder suchen (S. 506).

Messerlis Ausführungen zeigen, dass die Geschichte vom schriftfernen Land der Schweiz ein Mythos ist. Schrift fand bereits früh Verbreitung, und in den beiden Jahrhunderten vor 1700 wussten die Menschen bereits um die Bedeutung der Schrift. Doch sie konnten oftmals nicht selbst schreiben. Das war aber auch gar nicht nötig, denn man konnte die nötigen Schriftstücke von anderen verfassen lassen. An diesem Punkt führt Messerli die wichtige Unterscheidung einer literalen Gesellschaft auf der einen Seite und literalen bzw. illiteralen Individuen auf der anderen Seite ein (S. 515). Er zeigt, dass ein Bedeutungszuwachs von Schriftlichkeit nicht notwendig mit einer Ausbreitung der Schreibkenntnisse einhergeht. Langfristig entwickelte sich jedoch mit der Durchsetzung der literalen Norm ein neues Unterrichtsprogramm mit gewichtigen Konsequenzen. Die Ausbreitung des Schreibunterrichts in der Schule, die Änderung des Unterrichtskanons führte zu einer Trennungslinie zwischen den Generationen: Das Wissen der Kinder setzte sich anders zusammen als das Wissen der Eltern.

Die relativ knappe Behandlung der Schreibpraktiken ist nicht allein durch die Konzentration auf das private Schreiben zu erklären, durch welche das wichtige Schreiben im öffentlichen Raum wegfällt. Messerli orientiert sich beim Schreiben am Buch, er behandelt das Verhältnis von Buchdruck und handschriftlichen Eintragungen, die Praxis des Kopierens, das Weiter- und Umschreiben von Texten, Schriftstücke an der Wand und das Anfertigen von Schreibebüchern und Chronik – und es gelingen ihm interessante Einsichten in das Verhältnis von vorgegebenem Text und abwandelndem bzw. umdeutendem eigenem Schreiben. Was der Rezensent allerdings schmerzlich vermisst, ist ein Kapitel über das Briefschreiben, das ebenso zur privaten Schriftlichkeit gehört wie die anderen hier vorgestellten Formen des Schreibens.

Insgesamt legt Alfred Messerli eine wichtige Studie vor, die spannende Einblicke in die verschiedenen Praktiken des Lesens und Schreibens in der Schweiz zwischen 1700 und 1900 liefert. Durch die Begrenzung auf die Diskurse zur Literalität und auf die endogenen Faktoren der Entwicklung kann er allerdings die von ihm aufgeführten Entwicklungen und Erscheinungen nicht hinreichend erklären. Somit wirft das Buch implizit die Frage nach weiteren Zusammenhängen bei der Entwicklung der literalen Norm und der literalen Praktiken auf.

Anmerkungen:
1 Aus der umfangreichen Literatur seien nur folgende Bücher genannt: Street, Brian V., Literacy in Theory and Practice, Cambridge 1984; Barton, David; Hamilton, Mary, Local Literacies. Reading and Writing in one Community, London 1998; Olson, David; Torrence, Nancy (Hgg.), The Making of Literate Societies, Malden 2001.
2 Goulemot, Jean Marie, De la lecture comme production de sens, in: Chartier, Roger (Hg.), Pratiques de la lecture, Paris 1993, S. 115-127; Chartier, Roger „Populärer“ Lesestoff und „volkstümliche“ Leser in Renaissance und Barock, in: Ders.; Cavallo, Guglielmo (Hgg.), Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, Frankfurt am Main 1999, S. 399-418.

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